Reden von Gott – Jenseits von Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit
Von Albrecht Grözinger
I.
Die homiletische Diskussion der letzten fünfzig Jahre hat sich im Grunde zwischen zwei Satzfolgen bewegt. Die erste dieser Satzfolgen lautet:
„Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“[1]
Die zweite Satzfolge lautet:
„Predigen heisst: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben. Ich rede mit ihm über seine Erfahrungen und Anschauungen, seine Hoffnungen und Enttäuschungen, seine Erfolge und sein Versagen, seine Aufgaben und sein Schicksal. Ich rede mit ihm über seine Welt und seine Verantwortung in dieser Welt, über die Bedrohungen und Chancen seines Daseins. Er, der Hörer ist mein Thema, nichts anderes…“[2]
Die erste Satzfolge stammt von Karl Barth – und zwar genauer aus seinem Vortrag aus dem Jahre 1922 mit dem Titel Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie. Die zweite Satzfolge stammt von Ernst Lange – und zwar genauer aus dem Vorwort zu einer Predigtsammlung aus dem Jahr 1968. Sie benennen die zwei Pole, zwischen denen sich die konkrete deutschsprachige homiletische Diskussion der letzten 50 Jahre bewegt hat. Ich würde aber noch grundsätzlicher formulieren: Diese beiden Satzfolgen benennen die beiden Pole zwischen denen sich im Grunde jede homiletische Diskussion und Reflexion bewegt, bewegen muss.
Und zugleich führen uns die beiden Satzfolgen in eine je konkrete Konstellation des Nachdenkens über die Predigt. Barth hat seine Sätze unter dem Eindruck des kulturellen Einbruchs formuliert, den der Erste Weltkrieg darstellt. Es war eine tiefe Krisenerfahrung, die diese Zeit bestimmte. In diesen Jahren stellte sich – so kann man ohne Übertreibung formulieren – die gesamte Kultur neu auf. Deshalb sind diese Jahre auch so anregend wie aufregend gewesen. In dieser Zeit entstehen die Bilder eines Otto Dix oder Max Beckmann. In dieser Zeit schreibt Thomas Mann an seinem Zauberberg. Georg Lukacs schreibt sein epochales Werk Geschichte und Klassenbewusstsein, und der so abgründige Carl Schmitt konzipiert in diesen Jahren seine Politische Theologie, an die dann der Nationalsozialismus bruchlos anknüpfen konnte. Es war die Zeit der grossen Erzählungen der Geistesgeschichte, die die Welt neu aufstellen wollten. An einer solchen grossen Erzählung war auch die Dialektische Theologie orientiert: Gott als der ganz Andere, der der menschlichen Kultur diametral entgegensteht. Deshalb konnte für Barth auch das Predigen nichts anderes sein als ein exklusives Reden über diesen ganz anderen Gott, der aber der menschlichen Rede nicht kommensurabel ist. Ein so titanisches wie im Grunde unmögliches unmögliches Unterfangen.
Ganz anders die Situation, in der Ernst Lange seine Sätze schrieb, Wir befinden uns im Berlin des Jahres 1968. Waren die ersten Jahre der Weimarer Republik eher von einem tragischen Heroismus geprägt, so herrschte jetzt ein tatkräftiger Optimismus: Man stand in der Blüte des Wirtschaftswunders, auch wenn es gerade die ersten kleinen Krisen gab. Die finanziellen Ressourcen sprudelten. Universitätsgründungen standen auf der Tagesordnung. In den Schreibtischen des Berliner Senats unter der Führung von Willy Brandt liegen bereits die Blaupausen für das, was dann später die neue Ostpolitik genannt wurde. Demokratie wagen, Gesellschaft gestalten. Und dies prägt auch die homiletische Diskussion. Der tätige Mensch, durchaus in seinen Ambivalenzen, wird jetzt das Thema der Predigt. Hat die Dialektische Theologie die Predigt gleichsam theologisiert, so können wir bei Ernst Lange von einer Anthropologisierung der Predigt sprechen.
Allerdings macht es uns Lange nicht einfach. Und das ist gut so. Seine berühmte Satzfolge schliesst nämlich mit einem kurzen Nachklapp. Nachdem Lange sagte: „Er, der Hörer ist mein Thema, nichts anderes“ folgt ein nicht minder klarer Appendix: „freilich, er der Hörer vor Gott“.[3]
Rudolf Bohren, der ja der Traditionslinie der Dialektischen Theologie auch in den Aufbruchsjahren der ausgehenden 60er- und 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts treu zu bleiben versuchte, hat sich darüber unheimlich aufgeregt. Der Mensch als Hörer sei doch „ein allzu mieses Thema für eine Predigt“[4], es sei absehbar, dass „ich dem Prediger die Predigt verderbe, wenn er mich zum Thema macht“[5]. Bohren sieht durch Lange im Grunde die Souveränität Gottes verletzt, jene Souveränität, die in der Grosserzählung der Dialektischen Theologie eines der höchsten Güter darstellt: „Bleibt Gott [so fragt Bohren] noch Gott, wenn er sprachlich hier als Einschub figuriert?“[6] Über der Auseinandersetzung Bohrens mit Lange haftet etwas Tragisches. Daran sind beide mit beteiligt. Entweder reden Sie aneinander vorbei oder sie beschweigen sich gegenseitig.
II.
Gleichwohl scheint in diesem Streit zwischen Bohren und Lange etwas Exemplarisches auf: Geht es in der Predigt in erster Linie um Gott oder um den Menschen? Beruhigen wir uns nicht gleich damit, dass wir sagen, dass dies letztlich keine Alternative ist. Auch wenn dem so ist, geht es letztlich doch um die Frage der Priorität oder zumindest des Akzents, der in einer Predigt gesetzt wird. Ich selbst habe in diesem Zusammenhang eine interessante Erfahrung gemacht. Seit ich Homiletische Seminare gehalten habe, gehört es zur Piece de Résistance dieser Seminare, dass in der zweiten Seminarsitzung eines Semesters die beiden Texte von Barth und Lange, aus denen die zitierten Sätze stammen, gelesen und diskutiert wurden. Dabei hat sich eine markante Verschiebung ergeben. Musste ich in den 80er- und 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegenüber den Studierenden Barth verteidigen, so hat sich dies seit der Jahrhundertwende diametral umgedreht: Jetzt musste ich Lange erklären und verteidigen. Die Barth’sche Emphase und sein Plädoyer für das Reden von Gott und nicht von der menschlichen Erfahrung in der Predigt ist für die heute Studierenden sehr viel plausibler als die Position von Lange.
Ich sehe dafür zwei Gründe, die ich kurz erläutern möchte. Zum einen: Die Generation von Ernst Lange hatte als Gegenüber noch eine mächtige und in vielem auch selbstzufrieden gewordene Volkskirche. Auch wenn es gerade Ernst Lange war, der die ersten Erosionen der Volkskirche hellsichtig erkannte und benannte, so waren die Zeiten, in denen Ernst Lange publizierte, die Zeiten, in der die finanziellen und personellen Ressourcen der Kirche so gut wie nie zuvor und nach menschlichem Ermessen auch nie mehr bemessen sein werden. Die Volkskirche hatte Macht und war Macht. Gegen diese Macht einer genügsamen Volkskirche, die in Innovation eher Bedrohung denn Chance sah, richtete sich die theologische Reflexion der Generation von Lehrern und Lehrerinnen der Praktischen Theologie, zu der auch Lange gehörte. Deshalb bestand dort eine gewisse Zurückhaltung auch im Reden von Gott. Wie oft war dieser Name entweder missbraucht oder eingeschliffen worden? Wie oft war mit diesem Namen über die Lebenswelten der konkreten Menschen hinweggegangen worden? Deshalb die Emphase für den Hörer, die Hörerin.
Diese Volkskirche gibt es heute nicht mehr. Das wissen wir alle. Und die heutigen Studierenden leben ganz selbstverständlich mit dieser Erfahrung. Für sie ist Kirche keine mächtige, mit dem Establishment verbundene Institution mehr, sondern eine zivilgesellschaftliche Assoziation neben anderen. Und deshalb gibt es hier auch viel weniger Berührungsängste mit den traditionellen sprachlichen und dogmatischen Beständen der Kirche.
Das zweite Motiv, das die Studierenden heute beinahe schon instinktiv in sich tragen, ist der weltanschaulich und religiöse Pluralismus unserer Gegenwart. In einer solchen Situation bekommt das Kriterium der Erkennbarkeit eine entscheidende Bedeutung. Auf dem Markt der vielfältigen Sinnangebote, und auf diesem Markt befinden sich Predigt und Gottesdienst, ob uns das nun gefällt oder nicht, auf diesem Markt muss erkennbar sein, was in einer Predigt zu erwarten ist. Und diese Erwartung muss – auch das ist ein unumstößliches Marktgesetz – erfüllt werden, sonst bleiben die Menschen aus.
III.
Predigt – so meine immer wieder vertretene These – wird daran erkennbar, dass in ihr von Gott geredet wird. Und zwar nicht von einem beliebigen Gott, sondern von dem Gott, von dem Menschen ihre Erfahrungen in der Bibel des Alten und des Neuen Testaments überliefert haben. Und vom Weitergehen dieser Erfahrungen über die Jahrhunderte hinweg bis in unsere Gegenwart hinein. Wie spricht man von diesem Gott der Bibel?
Ich möchte heute zwei Arten und Weisen benennen, von denen ich glaube, dass man so von Gott in der Predigt nicht (mehr) reden kann: Weder kann man den Menschen Gott als Notwendigkeit andienen, noch kann man heute voraussetzen, dass es selbstverständlich ist, „einen Gott zu haben“.
Bereits im Jahre 1944 hat Dietrich Bonhoeffer aus der Gestapohaft heraus den Finger auf diese „Wunde“ des Predigens gelegt: „Unsere gesamte 1900 jährige christliche Verkündigung und Theologie aber baut auf dem ‚religiösen Apriori’ der Menschen auf. ‚Christentum’ ist immer eine Form (vielleicht die wahre Form) der ‚Religion’ gewesen. Wenn nun aber eines Tages deutlich wird, dass dieses ‚Apriori’ garnicht existiert, sondern dass es eine geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform des Menschen gewesen ist, wenn also die Menschen wirklich radikal religionslos werden… – was bedeutet das dann für das ‚Christentum’?“[7]
Nun kann man sich natürlich fragen, ob das Ende der Religion, von dem Bonhoeffer spricht, wirklich gekommen ist. Haben wir es gegenwärtig nicht mit einer merkwürdigen Wiederkehr der Religion zu tun? Das mag durchaus sein. Und deshalb ist auch zu fragen, ob Bonhoeffer gut damit beraten war, seine theologischen Gedanken mit dem Begriff der ‚Religion’ zu verbinden. Ganz offensichtlich ging es ihm weniger um das Ende der Religion, sondern um das Ende einer bestimmten Art des metaphysischen Denkens und Sprechens. Dies wird deutlich, wenn Bonhoeffer wenige Sätze später auf die homiletischen Konsequenzen seiner Überlegungen zu sprechen kommt. Schärfer als Bonhoeffer kann man diese homiletische Kritik kaum formulieren: „Unserem ganzen bisherigen ‚Christentum’ wird das Fundament entzogen und es sind nur noch einige ‚letzte Ritter’ oder ein paar intellektuell Unredliche, bei denen wir ‚religiös’ landen können. Sollten das etwa die wenigen Auserwählten sein? Sollen wir uns eifernd, piquiert oder entrüstet ausgerechnet auf diese zweifelhafte Gruppe von Menschen stürzen, um unsere Ware bei ihnen abzusetzen? Sollten wir ein paar Unglückliche in ihrer schwachen Stunde überfallen und sie sozusagen religiös vergewaltigen?“[8]
Gewiss – das ist starker homiletischer Tobak, den Bonhoeffer da weiter gibt. Und es mag – wie bereits gesagt – nicht recht überzeugend sein, das Ganze unter dem Begriff des Ende des Religion zu verhandeln. Es ist aber klar, was Bonhoeffer meint: Wir können heute bei unserer Verkündigung nicht voraussetzen, dass den Menschen die Rede von Gott gleichsam naturförmig über die Lippen kommt oder dass sie ihr persönliches Leben unter der Prämisse Gott gestalten.
Und hier setzt meine homiletische Kritik ein. Ich höre nicht selten Predigten, die doch irgendwie voraussetzen, dass man Gott „braucht“ um ein ganzer, ein richtiger, ein guter Mensch zu sein. Eberhard Jüngel hat diese Prämisse schon vor Jahren in seinem theologischen Hauptwerk „Gott als Geheimnis der Welt“ in Frage gestellt: „Der Mensch kann menschlich sein ohne Gott. Zweifellos, der Mensch kann das. Er kann leben, ohne Gott zu erleben. Er kann sprechen, hören, denken, handeln, ohne von Gott zu reden, ohne Gott zu vernehmen, ohne an ihn zu denken, ohne für ihn zu arbeiten. Und er kann das alles sogar recht gut und durchaus verantwortungsvoll. Der Mensch kann ohne Gott gut leben, aufmerksam hören, streng denken, verantwortungsvoll handeln.“[9] Ich denke, diese Sätze haben in der heutigen homiletischen Landschaft eine noch größere Bedeutung, als dies zur Zeit ihrer Formulierung der Fall gewesen sein mag. Wir können heute den Menschen nicht mehr „Gott“ als Lebensnotwendigkeit andienen. So als wären sie unfertige oder schlechtere Wesen „ohne Gott“. Dies würde viele Menschen in ihrem durchaus respektablen Lebensstil beleidigen. Wer aber die Menschen beleidigt, der hat immer schon auch Gott beleidigt.
Wenn ich sage, dass wir in der Predigt Gott nicht als Notwendigkeit des Lebens andienen sollten, dann meint dies natürlich nicht: von Gott zu schweigen. Im Gegenteil! Gerade weil Gott heute für viele Menschen keine Notwendigkeit ist, müssen wir lernen, anders über Gott zu reden. Wie aber über Gott reden – jenseits von Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit? Ich plädiere für eine Predigt, die Gott als den nicht notwendigen Überschuss des Lebens zur Sprache bringt. Gott ist der grosse Luxus des menschlichen Lebens – und zwar deshalb, weil er dieses Leben bereichert.
Als ich anfangs diese Überlegungen in Pfarrkonventen vortrug bin ich an dieser Stelle stets auf Widerspruch gestossen. Kann man das – von Gott als dem Überschuss des Lebens, gar von Gott als dem Luxus des menschlichen Lebens sprechen? Ich habe den Widerspruch verstanden. Diese Rede von Gott als dem Luxus des Lebens kann zynisch sein, vor allem für Menschen, die in ihrem Alltag so gar keinen Luxus kennen. Sie kann zynisch sein, muss aber nicht. Ich habe mich angesichts der formulierten Kritik, die ich durchaus ernst genommen habe und ernst nehme, auf dogmatische Spurensuche in dieser Sache begeben und bin in unserer protestantischen Tradition fündig geworden. Bei Martin Luther tritt der Begriff des Überflusses markant immer dann auf, wenn er auf die Gnade Gottes zu sprechen kommt. Gottes Gerechtigkeit verströmt sich für Luther geradezu in der überfliessenden Gnade. Gnade ist Überfluss, freies, grundloses und grenzenloses Geschenk Gottes, Luxus des Lebens. Und bei Eberhard Jüngel finden wir folgende terminologische Aufnahme dieses Luther’schen Gedankens. In seinem im Jahre 2008 erschienenen Büchlein mit dem Titel „Erfahrungen mit der Erfahrung“ heisst es: „Gemessen an den strengen Regeln der Moral aller Zeiten nehmen sich diese alle moralischen Regeln sprengenden, in vorbehaltloser Unmittelbarkeit dem leidenden Menschen zugute kommenden Wundertaten Jesu geradezu wie ein Luxus aus. Luxus aber macht misstrauisch – jedenfalls in der durch Protestantismus und Aufklärung geprägten Welt. Und damit mag es dann wohl zusammenhängen, dass der neuzeitliche Mensch in seiner weltlichen und in seiner frommen Gestalt den Wundern Jesu mit einigem Misstrauen begegnet. Er traut Gott keinen Luxus zu. Dabei ist es nach dem Zeugnis der Evangelien gerade dieser Luxus, dieses sich in den wunderbaren Machttaten Jesu manifestierende Luxus Gottes, der die Dämonen aus dieser Welt austreibt.“[10]
Bereits die altkirchliche Trinitätslehre hatte ja das Motiv, Gott in seinem – und jetzt sage ich –luxuriösen Beziehungsreichtum zu entfalten. Und die Pointe der altkirchlichen Trinitätslehre besteht darin, dass man vom biblischen Gott nicht sprechen kann, ohne vom Menschen zu sprechen. Dies ist die Wahrheit des Satzes von Rudolf Bultmann: Wer von Gott spricht, muss vom Menschen reden. Bei Bultmann kam dies immer ein bisschen als ein Satz daher, der aus der Philosophie Martin Heideggers abgeleitet wurde. Man kann diesen Satz aber auch sehr viel elementarer biblisch-theologisch und ohne metaphysisch-philosophischen Ballast verstehen. Es ist die biblische Gottesgeschichte selbst, die uns lehrt, dass Gott nicht ohne die Menschen sein will. Er ist auf die Menschen bezogen vom ersten bis zum letzten Kapitel der Bibel. Gott teilt mit den Menschen seinen Beziehungsreichtum und macht sie deshalb selbst beziehungsreicher. Beziehungsreicher sind wir dann, wenn wir uns auf mehr als nur auf der Welt Immanentes beziehen können. Beziehungsreicher verstehen wir unser Leben dann, wenn wir aus der biblischen Gottesgeschichte wissen, dass wir nie so allein sein können, dass nicht Gott noch immer bei uns ist. Ja selbst unseren eigenen Tod können wir beziehungsreicher verstehen, wenn wir etwas vom Sterben und der Auferstehung Jesu aus dem Reich des Todes wissen. In diesem Sinne hat die Predigt den Beziehungsreichtum Gottes als Überschuss des Lebens thematisch zu machen. Und ein solches Reden von Gott muss dann nicht mehr – wie bei den von Bonhoeffer benannten ‚letzten Rittern’ – die Menschen bei ihren vorgeblichen oder wirklichen Mängeln behaften, sondern wir können von Gott sprechen als einem Gott, der sich unserem so ‚schönen’ wie ‚armen’ Leben bereichernd beigesellen will.
IV.
Unser Reden von Gott muss sich heute – so sagte ich – jenseits einer vorausgesetzten Selbstverständlichkeit oder einer postulierten Notwendigkeit vollziehen. Gottesrede muss ganz elementar anfänglich sein. Für mich stellen deshalb die Gleichnisse Jesu gerade heute eine hermeneutische Schule der Gottesrede dar. Was geschieht in diesen Gleichnissen? Jesus spricht dort in der Weise von Gott, dass er an der Wirklichkeit etwas aufzuzeigen vermag, was die Wirklichkeit nicht aus sich selbst heraus freisetzt. Jesus spricht in der Weise über Wirklichkeit, dass er diese Wirklichkeit nicht einfach nur verdoppelt, sondern die Wirklichkeit zugleich verwandelt. Er tut dies aber nicht in der Weise, dass er eine Wirklichkeit jenseits dieser Wirklichkeit voraussetzt, sondern er lässt aus der Wirklichkeit heraus selbst ein transzendierendes Moment entstehen – ein Überschuss des Lebens gewissermassen. Dies ist genau das, was Aristoteles im poetischen Kontext als κάθαρσις bestimmt hat. Die Hörerinnen und Hörer ergreift eine verändernde Verwandlung. Dies ist in den Gleichnissen Jesu eine durch und durch sprachliche Operation. Die Gleichnisse Jesu – und das macht sie strukturell der Predigt verwandt – sind kleine sprachliche Kunst-Stücke. Sie setzen nichts anders voraus als die Welt, in der wir leben. Und sie bringen in ihrer sprachlichen Autonomie ihre eigene Plausibilität mit sich. Und in dieser ihrer eigenen Plausibilität erzielen sie ihre verwandelnde Wirkung. Die Gleichnisse behaupten nicht eine bestimmte Wirklichkeit, sondern sie muten sie uns an. Sie wirken nicht über Argumente und Beweise, sondern durch ihre eigentümliche Anmutungskraft. Jürgen Habermas hat im Zusammenhang der Diskurstheorie sehr schön vom „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“[11] gesprochen. Bei den Gleichnissen Jesus haben wir es mit dem eigentümlich zwanglosen Zwang einer Anmutung Gottes zu tun. Die Sprache der Anmutung steht jenseits von Behauptung und Konklusion; sie ist aber gerade deshalb alles andere als beliebig. Anmut hat höchste Präzision. Im rhetorisch-traditionellen Paradigma der Predigt kann einer Predigt – hoffentlich! – mit guten Argumenten widersprochen werden. Auf eine Anmutung kann eigetreten werden oder nicht. Ich muss aber weder mein Eintreten noch mein Nicht-Eintreten begründen. Anmutung ist nicht begründungspflichtig. Diese Freiheit im Kommunikationsraum der Predigt und im Reden von Gott möchte ich gerne erhalten wissen.
V.
„Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“[12] Diese Worte Karl Barth aus dem Jahre 1922 stehen für mich heute noch ungebrochen in Geltung. Wir geben in unserer Gottesrede dann Gott die Ehre, wenn wir ihn nicht als triviale Selbstverständlichkeit voraussetzen. Wir geben in unserer Gottesrede Gott dann die Ehre, wenn wir ihn den Menschen nicht als eine wie auch immer geartete Notwendigkeit andienen. Ins Positive gewendet: Wir geben in unserer Gottesrede Gott dann die Ehre, wenn wir in einer Sprache der Anmutung sein Ankommen erwarten. Dies ist der unverfügbare Sinn, von Gott zu sprechen.
Dr. Albrecht Grözinger ist emeritierter Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Basel und Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
[1] Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1929, S.158.
[2] Ernst Lange, Zur Aufgabe christlicher Rede, in: Ders., Die verbesserliche Welt, Berlin 1968, S.52-67, zit. Stelle S.58.
[3] Ebd.
[4] Rudolf Bohren, Predigtlehre, 5. Auflage 1986, S.453.
[5] Ebd.
[6] A.a.O., S.452.
[7] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 14. Auflage 1990, S.139.
[8] Ebd.
[9] Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 3. Auflage Tübingen 1978, S.24.
[10] Eberhard Jüngel, Erfahrungen mit der Erfahrung. Unterwegs bemerkt. Stuttgart 2008, S. 19f.
[11] Jürgen Habermas, Wahrheitstheorien, in: Ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1984, S.127-183, zit. Stelle S.161.
[12] Karl Barth, a.a.O. S.158.
Lieber Professor Grözinger,
ein überzeugender wunderbarer Text. Etwas darf ich anmerken: Wenn Sie sagen „Ich plädiere für eine Predigt, die Gott als den nicht notwendigen Überschuss des Lebens zur Sprache bringt. Gott ist der grosse Luxus des menschlichen Lebens – und zwar deshalb, weil er dieses Leben bereichert,“ mindern Sie damit nicht den Anspruch Gottes auf uns, seine Schöpfung. Ich habe kürzlich in einer Predigt gezeigt, dass Gott in unser Leben eingreifen kann und es auch tut. Als Beispiel nahm ich Heinrich Albertz‘s Aden-Flug mit den Anarchisten. Albertz sprach selbst von Gottes Hand, unter der er sich gesehen habe. Müssen wir nicht von einem Gott ausgehen, der handelt, der eingreift?