Von Prof. em. Dr. Horst Weigelt
Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts kam es im Fürststift Kempten und im Hochstift Augsburg zu einer religiösen Erweckung. Diese wird zumeist als Allgäuer katholische Erweckungsbewegung bezeichnet. Da sie bald auf andere Gebiete Bayerns übergriff und sogar jenseits der bayerischen Grenzen – nämlich in Oberösterreich – Fuß fasste, nennt man sie auch Süddeutsche Erweckungsbewegung.
Kirchen- und theologiegeschichtlich ist diese vom Allgäu ausgegangene Erweckung von Anfang an schwer einzuordnen gewesen: Teils verstand man sie als eine „Erscheinungsform des Pietismus“, besonders des radikalen, separatistischen Pietismus; teils erblickte man in ihr letztlich eine evangelische Frömmigkeitsbewegung, in der eine „rein lutherische Rechtfertigungslehre“ vertreten wurde; teils sah man in ihr eine katholische Frömmigkeitsbewegung, die – von einigen ekstatischen Randphänomenen abgesehen – im großen Ganzen im Rahmen der katholischen Kirche blieb und deshalb in ihr ein Heimatrecht hat.
Diese stark differierende Beurteilung der Allgäuer bzw. Süddeutschen Erweckungsbewegung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass man deren große Komplexität und Spannweite zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Dessen eingedenk lassen sich bei ihr folgende drei allgemeine Merkmale ausmachen. Erstens war ihr eine starke mystische Grundströmung eigen. Fast alle ihre Anhänger lasen eifrig mystische Schriften, besonders solche aus Frankreich und Spanien. Zweitens ist ein beachtlicher Einfluss pietistischer und vor allem radikal pietistischer Gedanken durch entsprechende Lektüre zu konstatieren. Drittens sind in ihr Elemente reformatorischer Theologie unübersehbar. Im Umgang mit der Bibel gelangten einige ihrer Träger und Anhänger zu Glaubenserfahrungen, die Luthers nahe kamen oder nahe zu kommen schienen. Hierzu trug gelegentlich auch die Lektüre von Schriften Luthers bei.
Pfarrer Michael Feneberg, der am 12. Oktober 1812, also vor 200 Jahren in Vöhringen im Alter von 61 Jahren verstarb, war eine der wichtigsten Gestalten dieser Süddeutschen Erweckungsbewegung. Dessen Leben, Wirken und Bedeutung soll nun gedacht werden.
1. Fenebergs Leben bis zu seiner religiösen Erweckung 1797
Geboren wurde Johann Michael Feneberg am 7. Februar 1751 in Markt Oberdorf als zweites Kind in einer – auch für damalige Verhältnisse – sehr kinderreichen Familie. Er hatte allein 20 leibliche Geschwister. Dank eines Stipendiums konnte er 1762/63 in der nahe gelegenen Reichstadt Kaufbeuren die Lateinschule besuchen. Dann kam er von 1764 bis 1769 nach Augsburg auf die dortige Jesuitenanstalt St. Salvator. In diesem altehrwürdigen Gymnasium, das damals mehr als 700 Schüler hatte, begann der streng geregelte Schulalltag um 5 Uhr und endete gegen 21 Uhr, unterbrochen lediglich von zwei 30minütigen Pausen zu Mittag und am Abend. Unterrichtsfächer waren neben Religion vor allem Latein und Griechisch, dagegen wurde Deutsch sowie vor allem Mathematik, Geschichte und Geographie nur mäßig betrieben. Selbstverständlich war das Schulleben entscheidend bestimmt von Gottesdiensten und Andachten.
Da Feneberg katholischer Geistlicher werden wollte und zwar Jesuit, ging er 1769 für zwei Jahre auf das Jesuiten-Kolleg nach Landsberg, das als Noviziatshaus diente. Die Jahre als Novize waren ausgefüllt mit vielfältigen religiösen Übungen. Nachdem er die Probezeit bestanden hatte, bezog er 1771 das Jesuiten-Kolleg in Ingolstadt, um sich hier zunächst dem Studium der Philosophie und dann der Theologie zu widmen. Jedoch erfolgte in dieser Zeit, im Oktober 1773, die Aufhebung des Jesuitenordens. Deshalb sah er sich genötigt, 1774 als Gymnasiallehrer nach Regensburg zu gehen, um so seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In der Freizeit aber befasste er sich im Selbststudium mit der Theologie. „Ich habʼ alles absolviert“, so urteilte er später, „was für einen Priester erforderlich wird, […] doch alles dies nur privat“. Trotz dieser Selbsteinschätzung muss jedoch festgehalten werden, dass Feneberg kein regelrechtes Theologiestudium absolviert hat. Seine mehrjährige Schultätigkeit – er unterrichtete fast ausschließlich Grammatik – weckte in ihm ein reges Interesse am Erziehungswesen, das ihn nicht mehr loslassen sollte. Während seiner Schultätigkeit empfing er in der Fastenzeit 1775 in der Hauskapelle des Regensburger Bischofs die Priesterweihe. 1779 bekam er in Markt Oberdorf, also in seiner Heimatgemeinde, das Frühmessbenefiziat. Es war eine Pfründe ohne eigentliche Seelsorgeverpflichtung. Deshalb hatte er Zeit, um in seinem Haus 14 Oder 15 Knaben Unterricht zu erteilen, so dass diese nach drei Jahre in die oberste Klasse des Augsburger Gymnasiums überwechseln konnten.
Durch Vermittlung seines Freundes und Studiengefährten Michael Sailers, damals schon Professor für Ethik und Moral an der Universität Dillingen, wurde Feneberg 1785 dorthin als Gymnasialprofessor berufen. Sein Benefiziat in Markt Oberdorf ließ er inzwischen von einem Vikar verwalten. Da er mit einigen anderen Kollegen aus dem Lehrkörper zu denjenigen gehörte, die der gemäßigten Aufklärung mit Sympathie gegenüberstanden, wurde er 1793 entlassen. Die konservativen, ja reaktionären und klerikalen Kräfte hatten sich durchgesetzt.
Im August 1793 erhielt Feneberg die große Pfarrei Seeg. Hierbei ist zu beachten, dass dieses Dorf zwar lediglich ein bis zwei Dutzend Häuser hatte, aber zu der Pfarrei gehörten noch 86 Weiler und Einödhöfe mit 448 Häuser und 2532 Seelen. Es war also eine äußerst weiträumige Pfarrei, deren Betreuung Feneberg viele Reisen abverlangte. Allerdings wurde er von Anfang an von zwei Kaplänen unterstützt. Kaum zwei Monate nach der Übernahme der Pfarrei erlitt er am 31. Oktober in Lengenwang nach dem Festgottesdienst auf dem Weg nach dem sechs Kilometer entfernten Seeg einen schweren Unfall. Sein Pferd strauchelte und fiel auf die linke Seite. Feneberg konnte zwar sein linkes Bein unbeschädigt unter dem Pferd hervorziehen, machte dann aber einen Fehltritt, drehte sich den rechten Fuß aus dem Gelenk und brach sich beim Weiterhumpeln das Bein, wobei das Bruchende des Schienbeins die Haut durchbohrte und das Knochenband absprengte. Vergebens versuchte der Wundarzt das Bein einzurenken. Als sich nach einigen Tagen die Wunde entzündete und hohes Fieber einstellte, schritt man am 15. November zur Amputation des unteren Beines. Diese Operation erfolgte ohne Opium bei vollem Bewusstsein. Feneberg erhielt ein Holzbein mit zwei Krücken und bezeichnete sich fortan als „Stelzenmichel“. Mit unglaublicher Tatkraft nahm er schon nach wenigen Wochen seine pastorale und seelsorgerliche Tätigkeit wieder auf.
Ende Dezember 1796 erlebte Feneberg – unter dem Einfluss von Martin Boos – eine religiöse Erweckung. Boos, der bereits 1794/95 in Seeg bei Feneberg Kaplan gewesen war, wirkte damals als Kaplan in Wiggensbach, wo er eine Erweckungsbewegung ausgelöst hatte. Mitte Dezember 1796 machte er zusammen mit zwei erweckten Bauernmägden, Magdalena Fischer und Therese Erdt, in Seeg einen Besuch. Dorthin war auch Professor Sailer gekommen, da er sich selbst ein Bild von den religiösen Vorgängen, die Boos in Wiggensbach ausgelöst hatte, machen wollte. Bei dieser Zusammenkunft, an der auch Fenebergs zwei Kapläne Xaver Bayer und Andreas Stiller teilnahmen, nannte die Bauermagd Erdt den Theologieprofessor Sailer einen „Pharisäer und Schriftgelehrten“, der „zwar die Wassertaufe Johannes, aber noch nicht die Geistestaufe Jesu empfangen“ habe. Wenn er „in das Meer der Gnaden“ kommen wolle, dann müsse er „klein und demüthig werden, wie ein Kind“. Während Sailer noch am Abend – zwiespältig gestimmt – wieder abreiste, hatte Feneberg zwei Tage später – am 21. Dezember 1796 – ein religiöses Erweckungserlebnis, das sich „dreymal nach einander, und jedesmal 4 bis 6 Stunden, und am Neujahrtag 1797 von 12 Uhr nachts bis 12 Uhr mittags“ wiederholte, Über dieses schrieb er später zusammenfassend: „Alles in mir war Licht, Leben , wie noch nie – anders kann ich es nicht beschreiben, und es kann auch Niemand verstehen, der es nicht erfahren hat“. Ähnliche Erlebnisse hatten alsbald auch Fenebergs Kapläne Bayer und Stiller. Fenebergs Pfarrhof entwickelte sich nun innerhalb kurzer Zeit zum Zentrum der frühen Allgäuer Erweckungsbewegung.
2. Seeg als ein Zentrum der frühen Allgäuer Erweckungsbewegung
Als Feneberg Ende 1796 seine religiöse Erweckung erlebte, war – wie erwähnt – die Allgäuer Erweckungsbewegung bereits ein Jahr zuvor ausgebrochen, und zwar in Wiggensbach, wo Martin Boos seit März 1795 Kaplan war. Die Gemeinde war gespalten. „Einige lobten und dankten Gott, dass Er sein Volk heimgesucht und solche Gnade den Menschen gegeben habe, andere fluchten und entbrannten in Hass, Wut und Zorn gegen die Predigt und den Prediger“. Beide Parteien wandten sich hilfesuchend an den Wiggensbacher Ortsgeistlichen Abraham Brackenhofer. Als sich dieser – entgegen seinem bisherigen Verhalten – von seinem Kaplan Boos distanzierte, verließ dieser Wiggensbach und suchte in dem unweit entfernten Seeg Zuflucht; hier nahm ihn Feneberg wie einen „Engel Gottes“ auf.
Durch die Anwesenheit von Boos erhielt die inzwischen auch in Seeg ausgebrochene religiöse Erweckung weiteren Auftrieb. Welches war aber der cantus firmus der Verkündigung Fenebergs? Er drang in seinen Predigten und in seiner Seelsorge auf eine persönliche Christusbeziehung, die nur durch Bekehrung und Wiedergeburt erlangt werden könne. Dadurch komme es zu einer Einwohnung Christi in dem Erweckten. Der Gläubige erhält eine neue sittliche Qualität und wird fortan zum ethischen Handeln befähigt. Dieser Prozess wird nicht selten auch von Gefühlsäußerungen oder Emotionen begleitet. Da Feneberg Bekehrung oder Wiedergeburt und die Heiligung oder Neuwerdung des Menschen als ein unvermitteltes von Gott bzw. Christus gewirktes Geschehen verstand, traten bei ihm alle traditionellen ekklesiologischen Bezüge deutlich in den Hintergrund. D. h. Sakramentsfrömmigkeit, Marien- und Heiligenverehrung sowie Reliquienkult wurden unwichtig oder sogar irrelevant. Sein Ziel war ein verinnerlichtes Christsein.
Als die Erweckungsbewegung in verschiedenen Allgäuer Orten, von denen Seeg damals zweifelsohne das bedeutendste Zentrum bildete, immer stärker um sich griff, sah sich das Ordinariat der Diözese Augsburg veranlasst, gegen Feneberg und seine beiden Kapläne vorzugehen. Im Februar 1797 drang man während Fenebergs Abwesenheit in seinen Pfarrhof ein, erbrach Schreibpult und Schränke und konfiszierte alle Papiere, alle eigenen und fremden Gewissens- und Herzensangelegenheiten, Auszüge auch Büchern, eigene Compositionen, kleine Papierschnipsel, verschiedene Predigten und neben diesen Papieren allerlei Bücher“. Zwei Wochen später, Ende August 1797, wurde Feneberg zusammen mit seinen beiden Kaplänen und Kaplan Martin Boos in Augsburg vor das Geistliche Gericht gestellt und eingehend verhört.
In diesem Verhör ging es vor allem um Fenebergs Rechtfertigungsverständnis. Auf die Frage, wie er seiner Wiedergeburt gewiss sei, antwortete er: „Dass ich die Wiedergeburt erhalten, glaube ich aus dem Zeugnis des Heiligen Geistes, das ich in meinem Inwendigen erfahren habe und wodurch ich versichert wurde, dass ich nach dem Ausdrucke der Schrift ein Kind Gottes bin“. Auf die Frage, ob dann der Heilige Geist konstitutiv für Bekehrung und Wiedergeburt sei, entgegnete er: „Nicht nur nicht glauben, nicht einmal verstehen kann man, was zu glauben wäre ohne Erleuchtung des göttlichen Heiligen Geistes. Nicht einmal den Namen Jesu können wir ohne den göttlich Heiligen Geist aussprechen“. In dem Verhör ging es aber nicht nur um den „Christus für uns“, sondern auch um den „Christus in uns“. Hierzu bemerkte Feneberg, dass Christus im Gerechtfertigten sei, „wie die Seele im Leib“. „Auf eine ähnliche Weise ist Vater, Sohn und Heiliger Geist in unserer Seele. Das ist alles geistig und dabei können [dürfen] wir an gar nichts Materielles denken“.
Der Prozess endete damit, dass sich Feneberg und seine beiden Kapläne bei den Karmeliten bzw. Franziskanern und Kapuzinern geistlichen Exerzitien unterziehen mussten. Anschließend durften sie nach Seeg zurückkehren. Boos wurde dagegen zu einer einjährigen Haft im Priesterkorrektionshaus in Göggingen verurteilt, wo er Theologie repetieren sollte.
In den nächsten Jahren entwickelte sich Seeg, wo Feneberg noch bis 1805 wirkte, zu einem Zentrum der Erweckungsbewegung, die nun immer stärker über das Allgäuer Gebiet hinaus griff. Sie strahlte auf ganz Süddeutschland und darüber hinaus aus. Hier wurde sie nicht nur für Katholiken, sondern auch für viele Protestanten bedeutsam.
Diese relativ ungehinderte Ausbreitung der Erweckungsbewegung ist ohne die politischen Rahmenbedingungen nicht zu verstehen, sie seit 1803 im Kurfürstentum Bayern – seit 1806 Königreich – herrschten. 1803 wurden bekanntlich die geistlichen Hochstifte säkularisiert und ihr weltlicher Besitz fiel größtenteils an das Kurfürstentum Bayern. Da die Träger und Anhänger der Erweckungsbewegung zumeist im Hochstift Augsburg und im Fürststift Kempten wohnten, brachte dies für sie eine völlig neue Situation. Sodann war es von sehr großer Bedeutung, dass Maximilian Graf von Montgelas, vom Fortschritt der französischen Aufklärung durchdrungen, seit 1799 Staatsminister in Bayern war. Er gewährte der Erweckungsbewegung von Anfang an Toleranz, obgleich er kein religiöses Sensorium für deren Anliegen gehabt haben dürfte, Er wollte nämlich mit der Toleranzgewährung demonstrieren, dass der neue bayerische Staat fest entschlossen war, jede Form religiöser Intoleranz abzulehnen, alle klerikalen Einflüsse zurückzudrängen und die bisherige Macht der katholischen Kirche zu brechen. Selbstverständlich folgten auch die nachgeordneten Behörden bzw. Institutionen dieser Religionspolitik, so auch die Landesdirektionsräte der bayerischen Provinz Schwaben, wozu das Allgäuer Gebiet gehörte.
Die äußeren Rahmenbedingen waren also für die Ausbreitung der Erweckungsbewegung in Bayern seit 1803 sehr günstig. Das änderte sich erst seit 1816, als sich das Königreich Bayern nach der Niederlage Napoleons mit Österreich verbündete und als sich nach der Entlassung von Montegelas im Februar 1817 der neue Innenminister Friedrich Graf von Thürheim das Ziel setzte „die Secte auszurotten“. Die politische, gesellschaftliche und konfessionelle Restauration und Reaktion begann sich auf breiter Front durchzusetzen.
Warum entwickelte sich Seeg aber zu einem so bedeutenden Zentrum der frühen Erweckungsbewegung? Dafür waren folgende zwei Momente ausschlaggebend:
Erstens hatte Feneberg auf dieser großen Pfarrei im Laufe der Jahre mehrere Kapläne, die später in ihren eigenen Wirkungskreisen fast ausnahmslos bedeutende Gestalten der Erweckungsbewegung wurden. Aus ihrer Schar seien nur folgende drei erwähnt.
Zunächst sei hingewiesen auf Johann Martin Boos, den nimmermüden „Prediger der Gerechtigkeit Gottes“. Boos, der eigentliche Initiator der Erweckungsbewegung in ihrer Frühphase, war von September 1794 bis März 1795 Kaplan bei Feneberg. Er trug sie dann während seines Pfarrdienstes in der Diözese Linz ab 1800 nach Oberösterreich.
Genannt sei sodann Johannes Evangelista Goßner, der von November 1798 bis 1801 Kaplan bei Feneberg war. Schon seit 1808 hatte er zahlreiche Kontakte zu spätpietistischen Kreisen und zur Herrnhuter Brüdergemeine sowie später zur Evangelischen Erweckungsbewegung. 1826 konvertierte er zur lutherischen Kirche. Sein Name ist bis heute verknüpft mit der „Goßnerschen Mission“ in Indien.
Schließlich sei noch der beliebte Kinder- und Jugendschriftsteller Christoph von Schmid (1768-1854) erwähnt. Fast zwei Jahre, vom Frühjahr 1795 bis Ende 1796 war er bei Feneberg Kaplan. Er ist der Begründer der katholischen erbaulichen Kinderliteratur. Seine schlichten, gefühlvollen, moralisierenden Kinder- und Jugendbücher fanden nicht nur in ganz Deutschland, sondern – in Übersetzungen – auf fast allen Kontinenten begeisterte jugendliche Leser.
Zweitens wurde Seeg zu einem Zentrum, weil in Fenebergs geräumigen Pfarrhof immer wieder Anhänger, Freunde und Sympathisanten der Erweckungsbewegung für kürzere oder längere Zeit zu Besuch weilten. Zu den Besuchern zählten sowohl Geistliche als auch Laien, Angehörige aus dem Adel und aus dem einfachen Volk, Katholiken und Protestanten.
3. Feneberg in Vöhringen
1805 erhielt Feneberg die Pfarrei Vöhringen. Dass er dorthin berufen wurde, war mit das Verdienst des freisinnigen Kaspar Anton Freiherr von Mastiaux, des damaligen Landgerichtsrats von Bayerisch-Schwaben.
Als Feneberg in Vöhringen aufzog, hat er seine neue Pfarrei folgendermaßen beschrieben: „Sie liegt an der Straße von Ulm nach Memmingen und hat keine Filialen. Vöhringen ist ein ansehnliches Dorf, wo fast jedes Haus mit einem grünen Grasgarten versehen ist und – gegen die Gewohnheit vieler Dörfer – von weiten und festen Gassen durchschnitten. Nur ein einziges Haus ist eine achtel Stunde vom Dorf entfernt. Die Seelenzahl beläuft sich auf circa 500. Gottesdienste sind an Sonn- und Feiertagen vormittags um 8 oder 8.30; um 1 Uhr ist Christenlehr und Vesperandacht. An Werktagen ist um 8 oder 9 Uhr Messe. Der Ort ist ganz katholisch.“
Fenebergs Vöhringer Pfarrhof war wohl nicht mehr ganz so geräumig wie der in Seeg, aber doch noch ganz ansehnlich. Das Pfarrhaus war zweistöckig. Neben diesem befanden sich eine Scheune, ein Waschhaus, eine Wagenremise und ein Schweinestall. Zum Pfarrhof gehörten zwar keine Äcker, jedoch ein Gemüse- und Obstgarten. Ferner hatte Feneberg vier Stück Vieh, zwei Pferde und 30 Gänse, deren Futter durch die Zehntabgaben der Bauern gesichert war. Feneberg hatte in Vöhringen einen Kaplan, eine Köchin, einen Knecht und eine Magd. Sein Pfarrhof war also – so würde man heute sagen – ein Kleinbetrieb.
Im Unterschied zu Seeg kam es in Vöhringen zu keine religiösen Erweckungen größeren Umfangs. Zwar verkündigte Feneberg den „Christus für uns und in uns“, aber aufsehenerregende Erweckungen blieben aus. Darüber klage Feneberg mehrfach in seinen Briefen. An Boos schrieb er ein Jahr vor seinem Tod beispielsweise: „Bei mir ist’s immer so beim alten [dh wie bisher]. Nur dass mir, – so kommtʼs mir vor –‚ der Herr Christus immer kräftig zu reden gibt, und mich meine Pfarrkinder mit sichtbarer Aufmerksamkeit anhören. Aber von Erweckung kann ich überhaupt mehr der geringsten Spur gewahr werden. Die meisten [meiner Pfarrkinder] meinen, dass bei ihnen schon alles in Ordnung sei und ihnen nichts fehle, aber mir fehlt so viel“.
Neben seiner Predigt und Seelsorge ließ sich Feneberg als erfahrener und begeisterter Lehrer besonders das Erziehungswesen angelegen sein. Er setzte sich sogleich dafür ein, dass in Vöhringen die Errichtung eines neuen Schulgebäudes in Angriff genommen wurde. Mit Entsetzen hatte er nämlich wahrgenommen, dass die etwa 80 bis 90 Schulkinder hier bislang in einer einzigen Stube im oberen Stock des Mesnerhauses zusammen gepfercht unterrichtet wurden. Dieses eine Schulzimmer war zudem wegen Feuergefahr nicht heizbar. Die einzige Wärmequelle war ein Loch im Fußboden, das zur Wohnung des Lehrers offen stand. Übrigens setzte sich Feneberg als Lokalschulinspektor auch für eine Gehaltsaufbesserung der Lehrer ein. Denn die Besoldung der Lehrer, die neben dem Schulunterricht – schon aus materiellen Gründen – fast immer auch den Mesner- oder Kantoren- bzw. Organistendienst ersehen mussten, war geradezu erbärmlich.
Obgleich die Gemeinde Vöhringen von neuen Erweckungen nicht erfasst wurde, war der Ort für die Erweckungsbewegung selbst keineswegs ohne Bedeutung.
Erstens machten in Fenebergs Pfarrhof immer wieder führende Vertreter der Süddeutschen Erweckungsbewegung Besuch. Von diesen seien nur drei erwähnt, die hier immer wieder einkehrten: Der gelehrte Michael Sailer, der nach der kriegsbedingten Verlegung der Universität Ingolstadt nach Landshut hier seit 1800 Professor für Moral- und Pastoraltheologie war. – Der in Wort und Schrift unermüdlich tätige Johannes Evangelista Goßner, der von 1804 bis Anfang 1811 Pfarrer in Dirlewang und dann ein halbes Jahr aushilfsweise Sekretär bei der Deutschen Christentumsgesellschaft in Basel war, bevor er im August 1811 das Benefiziat an der Marienkirche in München erhielt, wo sich bald eine große Personalgemeinde um ihn scharte. – Der liebenswürdige, gütige Christoph von Schmid, der bis 1816 Schulinspektor in Thannhausen war.
Zweitens wurde Vöhringen für die Erweckungsbewegung deshalb wichtig, weil von hier aus durch Fenebergs rege Korrespondenz die Anhänger dieser Bewegung miteinander vernetzt und zusammengehalten wurden. In seinen Briefen unterrichtete Feneberg von dem Ergehen einzelner Erweckter, machte auf literarische Neuerscheinungen aufmerksam und informierte über Fortschritte und Hemmnisse der Erweckungsbewegung. Besonders häufig und ausführlich berichtete er über die vielfachen Verfolgungen, Verhöre und Inhaftierungen von Martin Boos in Oberösterreich in der Diözese Linz.
Feneberg, der nicht von robuster Gesundheit war, ist am 12. Oktober 2012 – nach mehrwöchigem Krankenlager offensichtlich an den Folgen eines Schlaganfalls in Vöhringen gestorben. Man begrub ihn „im Gottesacker linker Hand von der Sakristei nächst der Kanzelstiege an der Kirche“.
4. Würdigung von Feneberg
Vorab sei darauf hingewiesen, dass Leben und Werk Fenebergs bereits 1814, also knapp zwei Jahre nach seinem Tod, von keinem geringeren als von Johann Michael Sailer in einer quellenreichen Lebensbeschreibung pietätvoll gewürdigt wurde. Sicherlich handelt es sich dabei nicht um eine wissenschaftliche Biographie, aber um ein lebendiges Lebensbild, gezeichnet mit großer und Verehrung.
Die kirchengeschichtliche Bedeutung Fenebergs besteht erstens darin, dass er die Allgäuer Erweckungsbewegung in ihrer Frühphase frömmigkeitstheologisch stark beeinflusst und entscheidend mitgeprägt hat. Seine Frömmigkeitstheologie war christozentrisch ausgerichtet auf die Gnade. Seine Predigt und Seelsorge waren bestimmt von der Verkündigung der bedingungslosen Gnade. Dabei ist besonders darauf hinzuweisen, dass seine Frömmigkeitstheologie frei war von theologischen Sonderlehren und ekstatischen Phänomenen. Diese waren nämlich bei einigen Trägern und Anhängern der Süddeutschen Erweckungsbewegung durchaus vorhanden und führten zu Missverständnissen und Verurteilungen. Fenebergs Anliegen war fokussiert auf eine verinnerlichte Christusgemeinschaft, die bestimmt war von der Gnade.
Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass er sein frömmigkeitstheologisches Anliegen fast ausschließlich durch das Wort, d. h. durch Predigt und Seelsorge, und kaum durch Schrift verbreitet hat. Literarisch hat er sich nämlich nur in engem Rahmen betätigt. Das ist erstaunlich, denn er war nämlich mit den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mystikern vertraut und hatte die Werke von evangelischen und puritanischen Theologen gelesen. Publiziert hat er lediglich einige kleinere Arbeiten zur Pädagogik und einige Lieder. Von seiner Übersetzung des Neuen Testaments wurden nur die Apostelgeschichte und die Offenbarung des Johannes veröffentlicht. Seine „Goldkörner“, eine Sammlung von 30 Oktavbänden, in denen er seit 1801 eigene und fremde Gedanken, teils aus Schriften, teils aus dem Leben festgehalten hatte, blieben leider ungedruckt. Eines der „Goldkörner“ (Aus dem 8. Hundert) lautet: „Dem Christen ist jeder Christ – Christi Repräsentant, ein Tempel Seines Geistes, eine Gottes Offenbarungsstätte, eine Schechina, eine Wolkensäule, Feuersäule“.
Zweitens besteht die kirchengeschichtliche Bedeutung Fenebergs darin, dass er dank seiner ungemeinen Kontaktstärke die Anhänger der Erweckungsbewegung untereinander vernetzt hat. Das geschah einmal dadurch, dass sein gastlicher Pfarrhof zu einem Hort der Begegnung wurde. Hier kehrten die Erweckten gern ein und verweilten oft längere Zeit. Sodann vernetzte er die Erweckten durch seine rege Korrespondenz. In seinen Briefen berichtete er über Fortschritte und Hemmnisse der Bewegung, über literarische Neuerscheinungen und kirchengeschichtliche Ereignisse. In Seeg und in abgeschwächter Form auch in Vöhringen lief gleichsam das Kommunikationsnetzt zusammen.
Die dritte kirchengeschichtliche Bedeutung Fenebergs liegt in seinen Kontakten zu Vertretern des Spätpietismus, der Herrnhuter Brüdergemeine und der Deutschen Christentumsgesellschaft sowie zu frommen, wie zu Johann Caspar Lavater.
Durch diese transkonfessionellen Kontakte hat er die großen evangelischen Erweckungen in Deutschland, die bekanntlich erst Mitte des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts einsetzten, in gewisser Weise mit vorbereitet. Deshalb gehört Feneberg, der trotz vielfältiger Anfeindungen immer katholischer Geistlicher blieb, indirekt zu den Wegbereitern der Evangelischen Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts.
Vortrag in der Reihe der Vöhringer Abende gehalten am 8. Oktober 2012 aus Anlass des 200. Todestages von Johann Michael Feneberg im evangelischen Gemeindehaus in Vöhringen/Iller. Prof. em. Dr. Horst Weigelt war bis 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Historische und Systematische Theologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.