Hans G. Ulrich, Selbst-Sein – Selbst-Werden in ethischer Perspektive (2000): „Gottes bestimmende und verwandelnde Gerechtigkeit und Güte zu erfahren heißt nicht, alle die gegebenen Besonderheiten des Lebens hinter sich zu lassen, sondern im Gegenteil: Gottes Gerechtigkeit und Güte wird gerade in diesen Realitäten und in Bezug auf sie präsent. So können Menschen erfahren, dass sie in einer bestimmten Situation, bei einer beson­deren Begegnung mit einem Men­schen, in einer Krankheit von Gott nicht verlassen sind, sie können Gottes Zuwendung von einer anderen, vielleicht ganz neuen Seite im Kontext ihrer Geschichte erfahren und müssen nicht Gefahr laufen, ihr Selbst zu verlieren, weil in ihr Leben etwas eingebrochen ist, das sie vielleicht nicht verarbeiten können oder das sie nur als Widerspruch gegen ihre eigene Selbstbestimmung zu verste­hen vermögen.“

Selbst-Sein – Selbst-Werden in ethischer Perspektive

Von Hans G. Ulrich

Wenn gegenwärtig „Identität“ von Menschen zum Thema wird, geschieht dies als kritische Erinnerung und als Warnung. In den Blick gerückt wird damit die Einsicht, dass in Zeiten unabsehbarer Vereinzelung, Entwurzelung und Mobili­sierung von Menschen, in Zeiten des Verlusts von Traditionen und Lebenswelten, in Zeiten jeder Art von Pluralismus und in Zeiten des alles erfassenden Wettbe­werbs nach den Gesetzen der Marktökonomie die Besinnung auf Identität, ohne die menschliches Leben nicht möglich ist, in höchster Dringlichkeit notwendig wird.[1] Die Frage nach Identität setzt voraus, dass menschliches Leben gefährdet ist, wenn es jegliche Form verliert, wenn es amorph wird, wenn es jeder Wand­lung, jedem Einfluss, jedem Eingriff ausgeliefert wird. Menschliches Leben würde unrealistisch gesehen, würde ihm abgesprochen, dass es identischer Formen und Prägungen bedarf, in denen Menschen sich finden und aufhalten, auf die hin sie ansprechbar sind und in denen kenntlich wird, was sie für sich und für andere „sind“. Wird dies nicht präsent, dann werden Menschen namenlos, austauschbar, sie werden ohne eine solche Identität auch manipulierbar, sozusagen formlose Plastik, die flexibel in diese oder jene Gestalt gebracht wird, wie es die vielfältige Rede von der „Gestaltung“ oder „Lebensgestaltung“ verrät.

Mit der kritischen und warnenden Rede von der Identität wird die Frage ange­zeigt, was es in diesen Zeiten der Veränderung von Traditionen, der Flexibilisie­rung und Anonymisierung heißt, nicht irgendetwas, sondern „jemand“ zu sein, oder was es für Gemeinschaften heißt, in denen sich Menschen aufhalten, nicht irgendeine von außen bestimmbare Funktion zu erfüllen, sondern eine Lebensge­meinschaft zu sein, die einzelnen Menschen einen Teil ihrer Identität gewährt. Das „Jemand-Sein“ kann in jedem Fall keine „black box“ bleiben, etwas Abstrak­tes, das wir vielleicht achten, wie es in der Forderung geschieht, Menschen in ihrem Person­sein zu achten, von dem wir aber nicht sagen können, was es enthält und wie es zu gewinnen ist. Dieses Personsein und diese Lebensformen werden eben dadurch gefährdet, dass dieser Anspruch unbestimmt bleibt und nur eingefordert wird.

Es kommt alles darauf an, wie menschliches Personsein und menschliche Ge­meinschaft als ein Selbst-Sein hervortreten, wie Personen und Gemeinschaften in ihrem Selbstsein für andere präsent werden, wie sie mit ihrer Stimme hörbar werden und in den Blick kommen. Diese kritische Erinnerung kann also nicht auf eine abstrakte Identität zielen, nicht darauf, dass Menschen vielleicht sich selbst gleich bleiben, dieselben bleiben, sondern dass Menschen ein „Selbst“ werden und dieses „Selbst“ für sich und für andere durchaus in allen notwendigen Wandlun­gen und Lernvorgängen bewahren und leben dürfen.[2] Entsprechendes gilt für bestimmte Gemeinschaften, was freilich nicht heißt, dass von einer „kollektiven“ Identität die Rede sein soll – dies bleibt ein eigenes Kapitel kritischer Besinnung. Gleichwohl ist zu fragen, was das Selbst von Gemeinschaften sein kann. Was kennzeichnet die christliche Kirche, was kennzeichnet die Christen als Gemein­schaft? Inwiefern sind gerade die Christen in ihrem Verständnis von Kirche und Gemeinschaft paradigmatisch für das, was – wenn überhaupt – „kollektive Selbst-Identität“ genannt werden kann? Inwiefern ist an dieser Tradition zu studieren, wie fragwürdig bestimmte Formen „kollektiver Identität“ oder einer „corporate identity“ sind, etwa dann, wenn sie auf kollektiver Anpassung beruhen? Entscheidend bleibt, für die Selbst-Bildung von Gemeinschaften kein generelles Phänomen zu behaupten, auch nicht quer durch „die Religionen“, sondern die je eigene Logik der verschiedenen Traditionen zu beachten, denn sonst würden schon im Zugang die differenzierten Formen der Selbst-Bildung von Gemeinschaf­ten verdeckt werden.

Was heißt es, ein „Selbst“ zu werden und zu sein?

Bleiben wir bei der dringlichen Frage, die mit dem Reden von Identität laut wird: Was heißt es, unter den angezeigten Bedingungen der Anonymisierung und Pluralisierung ein „Selbst“ zu werden und zu sein? Diese Frage zielt nicht auf ein Selbst, das nur als ein individuelles, einzelnes behauptet wird und damit schon formalisiert ist und in seiner je eigenen Ausprägung schließlich doch anonym, nicht artikuliert bleibt. In der Forderung, Menschen in ihrer Individualität und Selbstbestimmung zu achten, setzt sich dann paradoxerweise jene Anonymisie­rung fort, die Menschen gleich macht und vereinzelt. So kommt alles darauf an, wie es möglich ist, ein Selbst zu gewinnen, das nicht in der „black box“ eines nur allgemein behaupteten individuellen Ich-Seins und seiner Selbstbestimmung ver­schwindet, sondern das als ein Selbst für andere und für sich selbst präsent ist, ohne doch einfach von anderen oder auch von sich selbst (durch ein Selbstbild) „identifiziert“ zu werden.

Wie ist es möglich, ein Selbst zu werden oder zu sein, und dies zugleich für andere und mit anderen zusammen? Nur in dieser spannungsvollen und untrennbaren Form wird Identität als Selbst-Werden beschreibbar sein und dann auch jenen Vorgängen der Pluralisierung und Anonymisierung entgegengesetzt werden kön­nen, worauf die kritische Erinnerung menschlicher Identität zielt.

„Selbst-Werden“ in der christlichen Tradition

Mit der kritischen Anzeige des Verlusts von Identitätsbildung sind in besonderer Weise christliche Traditionen gemeint, weil in ihnen das „Selbst-Werden“ offen­kundig der Angelpunkt der Rede vom Menschen ist. Die christliche Tradition spricht ihrem biblischen Ursprung folgend vom Menschen als von einem, der als Einzelner und in der Gemeinschaft von Gott immer neu als sein Geschöpf erwählt wird. Dieser Mensch wird in eine Geschichte versetzt, hineingezogen, hineinver­wandelt, in der er zu dem wird, was er ist. In ihrer biblisch geprägten Logik sieht die christliche Tradition den Menschen als einen werdenden. „Werden“ heißt hier nicht Entwicklung, sondern meint das Geschaffen-Werden, das Gerettet-Werden und Verwandelt-Werden. Die Geschichte dieses Werdens ist einzig als die Ge­schichte Gottes, des Schöpfers und Retters, zu verstehen und zu erzählen. Dieses Werden ist ein dramatisches, das die Gebrochenheit menschlicher Entwicklung in sich aufnimmt und reflektiert. Die biblisch-christliche Rede von der Mensch­werdung des Menschen hält damit zentral fest, dass zum „Selbst-Werden“ das ganze Drama menschlicher Existenz gehört.

Dies widerspricht der Auffassung, dass der Mensch nur entweder (etwa durch seine Natur] determiniert ist oder jeder Art von Gestaltung und Einfluss ausge­setzt. Mit einer solchen Alternative wird eben diejenige Geschichte ausgeblendet, die Menschen nicht selbst herbeifuhren, sondern die sie als die Geschichte ihres Werdens erfahren. Menschen werden zu einem Selbst durch die Geschichte (story) dessen, was ihnen bei allem eigenen Tun und Lassen widerfährt.[3] Nicht alles und jedes gehört zu dieser Geschichte. Nicht die Historie dieser oder jener Ereignisse fügt sich zur Selbst-Werdung, sondern das, was Menschen teilhaben lässt an der Geschichte, die Gott mit Menschen eingeht. Darin entsteht ei­ne Geschichte (story), die nicht selbst-gemacht ist, eine Geschichte des Selbst-Werdens.[4]

In einer solchen Geschichte werden auch Gemeinschaften zu einem Selbst, zu einer Familie oder einer Ge­meinde, sie gewinnen überhaupt erst durch diese Geschichte die Perspekti­ve, eine Gemeinschaft zu sein. Sie fin­den darin die Möglichkeit, von sich als einem Selbst und von ihrer Geschichte authentisch zu reden oder zu er­zählen. Die christliche Tradition ver­steht so die Geschichte des Volkes Gottes, Israels, und sie versteht so die Geschichte der christlichen Kirche. Diese gewinnt ihr Selbst nicht anders als in der bestimmten Geschichte, in der sie Gottes Handeln erfährt, durch keine Selbst-darstellung oder programmatisches Selbst-verständnis. Beides, das Selbst-Werden des Einzelnen und das Selbst-Werden der Geschichtsgemein­schaft, gehört in der biblischen Tradition zusammen. Der Einzelne hat teil an der Geschichte der Gemeinschaft, und in der Geschichte des je Einzelnen findet die Gemeinschaft ihr Selbst. Andere, irgendwie gegebene oder gewordene Identitäten können dann daraufhin kritisch befragt werden, was ihre erfahrene, erlittene Geschichte ist im Unterschied zu dem, was sie sich selbst oder anderen als Identität zuweisen.

Zum biblischen Ursprung des christlichen Verständ­nisses von Selbst-Werden[5]

Die christliche Tradition kann sich in dieser Hinsicht auf ihren biblischen Ur­sprung besinnen. So wird im biblischen Reden durchweg diese Form des Selbst- Werdens festgehalten, signifikant und für die Auslegungsgeschichte wegweisend in Psalm 8. Dort wird vom Menschen gesagt: „Was ist der Mensch, dass du, Gott, seiner gedenkst?“ Nicht wird gefragt „was ist ‚der Mensch‘ überhaupt?“ oder „was sind seine Kennzeichen?“, sondern erstaunend, lobpreisend wird gefragt, was dieser Mensch ist, der diesen Gott als einen erfahren hat, der sich seiner annimmt, der mit ihm eine Geschichte angefangen hat. Jeder einzelne Mensch wird dies immer wieder nachsprechen können: „Wer bin ich, dass du, Gott, meiner gedenkst?“ Wer so fragt, tritt schon aus der Anonymität eines determi­nierten Naturwesens heraus und ebenso aus der Unbestimmtheit einer menschli­chen Existenz, die sich allein ihrer eigenen Gestaltung oder der von anderen ausgeliefert weiß. Wer sich auf die Geschichte seines Selbst-Werdens besinnt, muss sein Selbst nicht aufgelöst sehen zwischen Determinismus und Lebensge­staltung, sondern kann es in dem Enden, was ihm als Menschen, adressiert an ihn, nach Gottes Willen widerfährt. „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ (Ps 103,2). Von einem Menschen ist hier die Rede, der aus den Erfahrungen lebt, die ihn Mensch werden und darin sein Selbst gewinnen lassen. Das ist das Gute, das ihm widerfährt.

Gebrochenheit der christlichen Traditionen – im Zusammenhang der Pluralisierung der religiösen Kultur?[6]

Weil die christlichen Traditionen in diesem Verständnis des Menschen ihren Brennpunkt haben und nicht in einem fixierten Menschenbild oder Prinzip der Personwürde, müssen sie sich zum Widerspruch aufgefordert wissen dagegen, dass Menschen dieses Kennzeichen einer Selbst-Identität enteignet wird. Es wird deshalb nicht genügen, diesem Vorgang mit der Forderung entgegenzutreten, dass „der Mensch“ als Person oder in seiner „Individualität“ geschützt oder bewahrt werden muss. Die Frage ist, wie das Selbst-Werden in seinen Konturen hervortritt, auch wenn dies unter den genannten Bedingungen der Anonymisie­rung gebrochen geschieht, das heißt nicht ohne die Dramatik des Mensch-Werdens und Mensch-Bleibens. Für die christliche Tradition aber gehört eben diese Dramatik zum Selbst-Werden hinzu. Darin ist die christliche Tradition auch nicht relativierbar in Bezug auf andere religiöse Identitäten. Die Pointe besteht ja gerade darin, dass Menschen nicht in die künstliche Situation versetzt werden, sich eine Identität womöglich in einem vielfältigen religiösen Angebot zu suchen, sondern sich der Geschichte ihres Selbst-Werdens anvertrauen dürfen, die aus der Aufmerksamkeit auf Gottes schöpferisches Handeln erwächst.

Nicht ein allgemeiner Traditionsverlust oder eine Situation des Wettbewerbs der Religionen und ein damit verbundener Verlust von Identitätsbildung ist dann das Thema, sondern die Frage nach einem Selbst, das sich in der ihm ganz eigenen Geschichte immer neu finden darf und das sich deshalb nicht als im Wettbewerb behauptetes oder als überliefertes bewahren lässt, auch nicht im Zusammenhang eines Menschenbildes, an dem festzuhalten wäre, sondern das als ein Selbst erscheint und gelebt wird. Nicht nur die Sicherung menschlicher Selbstbestim­mung oder auch Selbstbehauptung, sondern dass Selbst-Werden möglich bleibt, ist die Perspektive, in die die Thematisierung menschlicher Identität durch die christliche Tradition gerückt wird.

Von der Präsenz des Selbst

Insofern also kommt alles darauf an, dass dieses Selbst-Werden präsent wird, dass es nicht unartikuliert bleibt[7], sondern hervortritt, um anderen zu begegnen, nicht nur als das, was sie zu achten haben, sondern auch als das, was sich ihnen mitteilt, was sie nicht anders erfahren können, und was sie veranlassen kann, etwas von sich aufzugeben, zugunsten eines anderen. Was also ist die Bedeutung des inhaltlich Besonderen nicht nur für die Achtung des Anderen, sondern für das Selbst-Werden des Anderen und dann auch für die Wahrnehmung und Erfahrung dessen, was das „gute Leben“ genannt werden kann? Inwiefern erweist sich das „gute Leben“ als ein Selbst-Werden, ein Leben in der Geschichte Gottes, ein Leben in der „Heiligung“, wie es die christliche Tradition genannt hat?

Es geht damit nicht mehr allein um die Aufgabe des liberalen Rechtssystems, den Einzelnen oder Gemeinschaften in ihrer nur formal fixierten Individualität, viel­leicht in ihrer Autonomie, zu schützen, sondern vielmehr um die Frage nach der Art der „Einbeziehung des Anderen“[8], damit er/sie nicht nur anonym geachtet wird, sondern mit dem, was ihn/sie ausmacht, was seine/ihre Identitäts­erfahrungen sind, zu Wort und zu Gehör kommt. An dieser Stelle sind die Aspekte der kommunitaristischen Ethik[9] wichtig, die darauf zielen, den Anderen in die Verständigung einzubeziehen.[10] Diese Verständigung ist kommunitaristisch zu fassen, sofern ein moralischer, auf bestimmte rationale Argumente beruhender Diskurs dazu nicht ausreicht, sondern eine komplexe Form der Koexistenz, des Zusammenlebens und sich Zusammenfindens in Gerechtigkeit vorausgesetzt wer­den darf. So wird es möglich, dass das Besondere des Einzelnen, das, was ihm widerfährt, nicht in ein Allgemeines aufgehoben wird, sondern als das Besondere ins Spiel kommt, ohne eine unabsehbare Forderung zu propagieren, dem Anderen gerecht zu werden.[11] Es soll in den Blick kommen, dass von dem je Besonderen des Einzelnen oder der Gemeinschaft jeder/jede ein Stück mehr erfährt, ja davon mitgeteilt bekommt, wie menschliches Leben gut werden kann, eine Erfahrung, die nur vom Anderen, vom Selbst-Werden des Anderen zu gewinnen ist.

Damit ist umso mehr noch einmal die Schlüsselfrage aufgeworfen – und schon implizit vorausgesetzt was denn das Besondere des Einzelnen ausmacht und warum es für eine entsprechende Ethik entscheidend ist, dass dieses ins Spiel kommt. Es sind genauer besehen zwei Fragen: zum einen, worauf sich das moralphilosophische oder moraltheologische Interesse richtet, wenn es nach dem Einzelnen nicht nur in seiner formal postulierten Besonderheit fragt, und zum anderen, wie dann – nach Maßgabe dieser Frage – diese Besonderheit zu fassen ist. Man kann diese zweite Frage als Suche nach dem „principium individuationis“ verstehen. Freilich ist damit fixiert, dass es sich um ein Prinzip handelt und nicht vielleicht um einen Vorgang, der individuell sehr verschieden ist und bei dem es auf diese Verschiedenheit ankommt, also darauf, dass die Individuation als Selbst-Werden erscheint. Doch hat die moraltheologische und moralphiloso­phische Reflexion dieses Prinzip, das, was den Einzelnen zum Einzelnen macht, immer wieder zu bestimmen gesucht – und es damit keineswegs bei der allgemei­nen Forderung nach der Berücksichtigung oder gar nur „Toleranz“ des Einzelnen belassen. Sie hat vielmehr auf verschiedene Weise zu erkennen gesucht, wie dieser Einzelne mit dem ins Spiel kommt, was ihn ausmacht, und inwiefern dann dieser Einzelne, sein Selbst als derjenige/diejenige zu hören ist, der/die nicht nur eine auf den Diskurs begrenzte Berücksichtigung verlangt, sondern ein Sich-Ausliefern an die mit ihm einsetzende singuläre Geschichte.

Zum theologischen Verstehen des Selbst-Werdens

So hat die philosophische und theologische Ethik in den Blick gerückt, dass die Besonderheit des Einzelnen nicht in dem Sinne zufällig gegeben sein kann, dass die jeweils Anderen diese identifizieren. Die theologisch reflektierte Ethik hat in den Blick gerückt, dass die Besonderheit des Einzelnen als etwas Ursprüngliches zu erkennen ist, als ein Selbst, das aus bestimmten Quellen lebt und in dieser Ursprünglichkeit erkannt werden will, wenn die Wahrung seiner Identität nicht in der eigenen Selbst-darstellung stecken bleiben soll.[12] Inwiefern aber ist dies überhaupt nur theologisch zu fassen, weil die Besonderheit des Selbst-Werdens nicht zwischen Menschen konstituiert werden kann?[13] Hier kommt nun der Andere ins Spiel, der den Einzelnen in seiner Besonderheit wahrnimmt und auf­nimmt, ohne ihn damit wie von fremder Seite zu identifizieren. Hier ist von dem Anderen als dem Gott zu reden, der Menschen erkennt[14] und Menschen in seiner Gerechtigkeit zukommen lässt, was ihnen nottut. Diese Gerechtigkeit lässt Men­schen erfahren, was sie sein dürfen. Gottes Gerechtigkeit und Güte erscheinen in seiner Geschichte mit den Menschen, nicht unabhängig davon in einem abstrak­ten Glauben.

Gottes bestimmende und verwandelnde Gerechtigkeit und Güte zu erfahren heißt jedoch nicht, alle die gegebenen Besonderheiten des Lebens hinter sich zu lassen, sondern im Gegenteil: Gottes Gerechtigkeit und Güte wird gerade in diesen Realitäten und in Bezug auf sie präsent. So können Menschen erfahren, dass sie in einer bestimmten Situation, bei einer beson­deren Begegnung mit einem Men­schen, in einer Krankheit von Gott nicht verlassen sind, sie können Gottes Zuwendung von einer anderen, vielleicht ganz neuen Seite im Kontext ihrer Geschichte erfahren und müssen nicht Gefahr laufen, ihr Selbst zu verlieren, weil in ihr Leben etwas eingebrochen ist, das sie vielleicht nicht verarbeiten können oder das sie nur als Widerspruch gegen ihre eigene Selbstbestimmung zu verste­hen vermögen. Darin zeigt sich die bestimmte Besonderheit des je Einzelnen, dass er/sie sich nicht als „Fall“ oder „Beispiel“ wiederfindet, vielleicht als Fall einer Krankheit, sondern als ein Selbst, das von seiner Selbsterfahrung (in diesem Sinne) zu reden weiß, und erwarten darf, dass es gehört wird.

An dieser Stelle ist in der christlichen Tradition von der schöpferischen Liebe Gottes die Rede gewesen, dort, wo Menschen „ich“ sagen können, ohne dabei immer schon reflektieren zu müssen, ob sie für den Anderen längst schon zu dem und dem geworden sind. Der Liebe Gottes entsprechend heißt Nächstenliebe üben, dem Anderen so zu begegnen, dass ihm dieses Ich nicht verloren geht. So kann man sagen: „Das Christliche in seiner Unterscheidung (sc. gegenüber verschiedenen philosophischen Traditionen) beginnt und endet mit der Offenba­rung, dass der unendliche Gott den einzelnen Menschen unendlich Hebt, was sich aufs exakteste in der Tatsache kundtut, dass er in Menschengestalt für dieses geliebte Du den Erlöser- (d.h. den Sünder-)tod stirbt. Wer ‚ich‘ bin, wird mir nicht aus einem allgemeinen ‚erkenne dich selbst‘ (gnothi seautón) und noverim me bewusst, sondern genau aus dem Rückschlag der Tat Chri­sti, die mir beides auf einmal sagt: wie wert ich Gott bin und weit weg verloren ich von Gott war … Mein Ich ist also das Du Gottes und kann ein Ich nur sein, weil Gott sich zu meinem Du machen will.“[15]

Diese zusammenfassende Formulierung von Hans Urs von Balthasar macht klar, auf welche Weise die Begegnung Gottes als des Anderen mit dem einzelnen Menschen erst das Ganze ist, das es hier zu reflektieren gilt – und dass es nur in diesem ganzen Drama zwischen Gott und Mensch möglich wird, ein Selbst zu gewinnen. Die Verschränkung der menschlichen Begegnung im Ich und Du mit der (trinitarischen) Geschichte zwischen Gott und Jesus Christus ist die Voraus­setzung für diese Reflexion. Aufgehoben in diese Geschichte, bleiben Menschen davor bewahrt, den Anderen zu vereinnahmen und nicht mehr als den von Gott immer neu Geschaffenen und so Gebebten wahrzunehmen. Weil dieser Andere uns in Christus gegenübertritt, darf der Andere der sein, der er ist: Er darf in seiner Besonderheit bleiben und muss sich nicht uns gegenüber in seiner Menschlichkeit ausweisen.

So kommt hier die biblische Rede von der Gerechtigkeit zu Gehör.[16] In dieser Gerechtigkeit werden Menschen als diejenigen erkannt[17], als die sie erscheinen sollen und dürfen, und nicht als die, als die sie gesehen oder identifiziert werden. Diese Gerechtigkeit auszuüben ist eine fundamentale Praxis, in der Menschen in ihrer Besonderheit, nicht als Fall oder namenloses Gegenüber ins Spiel kommen. Der Andere erscheint in dieser Gerechtigkeit zuerst als das Du, das sich mitteilt.

Es bleibt jedoch – wie in jener christologischen Reflexion – nicht bei einer ex­klusiven, jeden anderen ausschließenden Beziehung von Ich und Du, sondern es kommt immer der jeweilige Dritte ins Spiel, sofern das Ich und das Du sich als diejenigen begegnen, die ihre Geschichte mit Gott teilen. Sie dürfen immer schon auf diese Geschichte setzen, sie sind darin schon in ihr Recht eingesetzt. Die Berücksichtigung ihrer Rechte ist nicht fundamental gefährdet, und es entsteht nicht die Situation der beständigen Sicherung individueller Schutzrechte. Für die Struktur einer Ethik, die darauf zielt, den Anderen auf gerechte Weise und nicht unter Preisgabe seiner identischen Geschichte einzubeziehen, gehört das Recht des Anderen untrennbar mit der spezifischen Gerechtigkeit zusammen, die ihm in seiner Besonderheit zuteil wird und die ihn in dieser Besonderheit nicht nur zu achten, sondern zu verstehen sucht. In der christlichen Tradition und Lehre ist dies in vielfältiger Weise reflektiert.

Von der Verletzlichkeit und der kritischen Kraft des Selbst-Werdens

Das Selbst-Werden hat seine spezifische Fragilität und Verletzlichkeit, es besteht nicht in festen, wie auch immer gegebenen Verhältnissen, sondern in dem drama­tischen Vorgang geschöpflichen Lebens, wie ihn die christliche Tradition be­schreibt. Diese Wahrnehmung hat ihre spezifische kritische Kraft gegenüber den vielfältigen Phänomenen des Nicht-Zustandekommens von Geschichten, gegen­über der Vereinnahmung des Anderen, gegenüber fragwürdigen Mechanismen der Manipulation, der Anpassung oder auch der Anerkennung.

Wenn das Selbst-Werden in seiner ganzen Dramatik im Blick bleibt, dann muss das vielfältige Phänomen des Verschwindens von bestimmten Formen der „religiösen Sozialisation“, des Selbstwerdens und der Identitätsbildung nicht dazu verleiten, solche Formen einzufordern und auf diese Weise die Bildung von Identität zum Programm zu machen. Erst recht kann es nicht die Konsequenz sein, in einen Wettbewerb der Identitäten einzutreten. Dies widerspräche dem, was Identität als Selbst-Werden heißt. Christliche Kirchen können deshalb keine wettbewerbsfähigen Identitäten, vielleicht „corporate identities“, vielleicht die Identität von religiösen Gemeinschaften im Wettbewerb der Religionen oder Konfessionen anbieten wollen.[18] Sie würden damit widersinnigerweise aufgeben, was im christlichen Kontext einzigartig Selbst-Werden heißt. Sie können jedoch dem Verschleiß und dem Verlust von „Identitätsbildung“ darin entgegentreten, dass sie der Logik von Aneignung und Enteignung, von Profilierung und Anerkennung widersprechen. Selbst-Werden heißt in der christlichen Tradition, in die Geschichte eintreten zu dürfen, in der man jemand sein darf, und dies nicht für irgendeinen anderen oder gegen einen anderen, oder gar für einen Zweck, sondern als jemand, dem/der diese Lebensform des geschöpflichen Lebens, des Selbst- Werdens nicht genommen wird. Wird jemand gezwungen, sich identisch, profi­liert im Wettbewerb zu behaupten, ist diese identische, konturenscharfe christli­che Lebensform verloren. Diese Lebensform wird sich umso mehr in ihrer eigenen Widerständigkeit zeigen müssen, als die Gesetze des Wettbewerbs, der Wettbe­werbsfähigkeit (Kompetenz) das Miteinanderleben auch in der Kirche beherr­schen. In kaum einer anderen Hinsicht ist christliche Erfahrung mehr gefragt als durch die Präsenz dieser geschöpflichen Lebensform. In ihr ist einzigartig die Erfahrung bewahrt, dass menschliches Leben darin seine Form gewinnt, dass es sich nicht seiner Geschichte mit Gott verschließt, die die Geschichte seiner Gerechtigkeit ist.

Der Autor Hans G. Ulrich, geb. 1942 in Stettin; Studium der Evangelischen Theologie und Sozialwissenschaften in Heidelberg und Göttingen. Dr. theol. an der Evangelisch- Theol. Fakultät in Mainz, Mitarbeiter von Prof. Dr. Dietrich Ritschl und Prof. Dr. Gerhard Sauter (Bonn). Habilitiert 1981 an der Evang.-Theol. Fakultät in Bonn. Lehrtätigkeit in Bonn, Houston (Tx.), Athens (University of Georgia). Seit 1982 Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen- Nürnberg. Mitglied der Societas Ethica. Veröffentlichungen: Anthropologie und Ethik bei Friedrich Nietzsche (197S); Eschatologie und Ethik (1988); Freiheit im Leben mit Gott. Texte zur Tradition evangelischer Ethik (1990). Mitarbeit an der EKD-Studie: Einverständnis mit der Schöpfung. Ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung im Blick auf die Gentechnik (1991/1997). Veröffentlichungen zur Theorie theologischer Ethik, englischsprachige Ethik, Sozialethik, Wirtschaftsethik, Bioethik. Anschrift: Coburger Straße 49a, 91056 Erlangen, BRD.

Quelle: Concilium 36 (2000), S. 239-248.


[1] Vgl. Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 41997.

[2] Diese Unterscheidung zwischen dem „Derselbe“-Sein (idem) und dem „Selbst“-Sein (ipse) hat Paul Ricoeur entfaltet. Wir können dieser Unterscheidung weitgehend folgen. Sie ist grundlegend für das Verständnis von Identität. Vgl. P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996.

[3] Vgl. zur Entfaltung dieser Einsicht auch als Grundlegung der Ethik als einer experientiellen, in Erfahrung gründenden Ethik: D. Mieth, Moral und Erfahrung II. Entfaltung einer theolo­gisch-ethischen Hermeneutik, Freiburg i.Br. 1998.

[4] Zur weiteren Entfaltung siehe den Diskurs zur narrativen Theologie und zur Story-Theolo­gie. Vgl. dazu D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984. Zur weiteren Diskussion: St. Hauerwas/L. G. Jones (Hg.) Why narrative? Readings in Narrative Theology, Grand Rapids Mich. 1989.

[5] Vgl. zur exegetisch-hermeneutischen Diskussion und Explikation: A. Reinhartz, „Why Ask MyName?“. Anonymity and Identity in Biblical Narrative, Oxford 1998.

[6] Vgl. H. Waldenfels, Zur gebrochenen Identität des abendländischen Christentums, in: W. Gephart/H. Waldenfels (Hg.), Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus, Frankfurt a.M. 1999, 105-124.

[7] Darauf zielt Charles Taylors Kennzeichnung des Selbst in seiner Präsenz: Ch. Taylor, Die Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1994.

[8] Vgl. J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 21997.

[9] Vgl. zur Diskussion A. Honneth (Hg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a.M./New York 1993, und zu einigen Beiträgen in der neueren theologischen Diskussion: E. Arens, Kirchlicher Kommunitarismus, in: Theologische Revue 94 (1998) 488-500.

[10] Dies und nicht ein anderes Begründungsmodell ist an dem Beitrag der kommunitaristi­schen Ethik zur ethischen Theorie entscheidend.

[11] Vgl. zu dieser Fragestellung H.J. Schneider, Das Allgemeine als Zufluchtsort. Eine kritische Anmerkung zur Diskursethik, in: H. Steinmann/A.G. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus, Frankfurt a.M. 1998,179-190.

[12] Vgl. dazu die Darstellung der Geschichte der Moralphilosophie von Ch. Taylor, Die Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1994.

[13] Vgl. zur Fragestellung: W. Sparn (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990.

[14] Vgl. Psalm 1,6.

[15] H.U. von Balthasar, Spiritus creator. Skizzen zur Theologie III, Einsiedeln 1967, 274.

[16] Dieses Phänomen hat in seiner biblischen Struktur Emmanuel Levinas neu erschlossen: Vgl. besonders E. Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, in: ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München/Wien 1995, 265-278. Zur bibli­schen Tradition vgl. vor allem G. von Rad, Theologie des Alten Testamens, Bd. I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 1962, 382-395: Jahwes und Israels Gerechtigkeit. Vgl. H.G. Ulrich, Erfahren in Gerechtigkeit. Über das Zusammentreffen von Rechtfertigung und Recht, in: M. Beintker u.a. (Hg.J, Rechtfertigung und Erfahrung. Gerhard Sauter zum 60. Geburtstag, Gütersloh 1995, 362-384.

[17] Vgl. Psalm 1,6: Gott „erkennt“ den Weg der Gerechten.

[18] In der Denkschrift „Identität und Verständigung“ ist diese Unterscheidung durchaus beachtet worden (vgl. 63).

Hier der Text als pdf.

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