Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan
Von Karl Barth
Indem wir an unser Hauptthema herantreten, blicken wir auf eine Vorbereitung zurück, deren geschickte Organisation unseren aufrichtigen Dank und deren mannigfaltige und auf alle Fälle lehrreiche Ergebnisse unsere ernste Anerkennung verdienen.
Meine Aufgabe in dieser Eröffnungsrede kann nicht in der Entfaltung eines eigenen Entwurfs zu diesem Thema, sie kann auch nicht darin bestehen, der Diskussion irgend eines der uns vorgelegten Fragenkomplexe Vorzugreifen. Erlauben Sie mir statt dessen einige Anmerkungen zum Ganzen, die sich mir beim Studium des Vorbereitungsmaterials aufgedrängt haben. Der Kreis, dessen Inhalt unsere vier Sektionen schon beschäftigt hat und in diesen Lagen neu beschäftigen wird, hat einen Rand und hat eine Mitte. Es wird bei Ihnen stehen, ob Sie das, was ich Ihnen jetzt sagen möchte, als Randbemerkungen oder als Zentralbemerkungen verstehen wollen. Sie werden es mir jedenfalls glauben, daß das nun eben meine Art sein soll, mich der Verantwortung zu unterstellen, die wir hier gemeinsam auf uns genommen haben.
„Die Unordnung der Welt — und Gottes Heilsplan“. Darf ich Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Frage richten, ob wir dieses Thema nicht in seiner Gesamtheit und in allen seinen einzelnen Aspekten von hinten nach vorn betrachten und behandeln müssen? Es heißt ja, daß wir a m Ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten sollen, damit uns dann alles das, was wir im Blick auf die Unordnung der Welt nötig haben, hinzugefügt werden möge. Dürfen und wollen wir mit dieser Reihenfolge nicht ernst machen? Der „Heilsplan“ Gottes ist oben — die Unordnung der Welt aber und so auch unsere Vorstellungen von ihren Gründen, so auch unsere Vorschläge und Pläne zu ihrer Bekämpfung, das Alles ist unten, was es mit diesem ganzen Wesen (unser eigenes kirchliches Wesen mit eingeschlossen!) auf sich hat, das kann uns, wenn überhaupt, nur von droben, nur von Gottes Heilsplan her, sichtbar und greifbar werden, wogegen es von der Unordnung der Welt und auch von unseren ihr zugewendeten christlichen Analysen und Postulaten her keinen Ausblick und Ausweg gibt hinauf zu Gottes Heilsplan. wir sollten in keiner unserer Sektionen dort drunten anfangen wollen: nicht bei der Einigkeit und Uneinigkeit unserer Kirchen, nicht bei der Art und Unart des modernen Menschen, nicht bei dem Schreckensbild einer nur noch technisch orientierten und nur noch auf Produktion bedachten Kultur, nicht bei dem des Zusammenstoßes eines gottlosen Westens mit einem gottlosen Osten, nicht bei der drohenden Atombombe und erst recht nicht bei den paar Überlegungen und Maßnahmen, mit denen wir all diesem Unheil zu begegnen gedenken. Man hört in dem uns vorgelegten Material doch zu viel Stimmen mühsam unterdrückter Sorge und Angst und andererseits zu viel Stimmen allzu freundlicher Illusionen, als daß wir nicht gewarnt sein müßten. Sie sind Symptome dafür, daß die Frage nach dem rechten weg, der von oben nach unten führt, nicht gleichgültig ist. wir haben gewiß recht, wenn wir unseren Bruder, den modernen Menschen, auf die Hut setzen wollen davor, vor lauter wissenschaftlich-technischen Problemen und Problemlösungen zu vergessen, daß er selbst ein Teil des Übels ist, das er auf diesem Weg überwinden zu können meint — zu vergessen, daß er nicht Richter, sondern Angeklagter ist — zu vergessen, daß die menschliche Existenz keinen Sinn hat ohne den Glauben an eine transzendente Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe, die der Mensch nicht selbst erschaffen, durch die er sich nur binden lassen kann, wie stünde es aber in allen diesen drei Punkten mit dem Dalken in unserem eigenen Auge und wie sollten wir diesem unserem Bruder helfen können, wenn wir uns auf eine positivistische Denkweise einlassen und versteifen wollten, die mit dem uns gebotenen, dem christlichen Realismus gewiß nichts zu tun hätte?
Aber hier erhebt sich eine weitere Frage: Sollten wir uns nicht auch darüber verständigen müssen, daß unter „Gottes Heilsplan“ wirklich sein Plan, d. h. aber sein schon gekommenes, schon siegreiches, schon in aller Majestät aufgerichtetes Reich zu verstehen ist, unser Herr Jesus Christus, der der Sünde und dem Tod, dem Teufel und der Hölle ihre Macht schon genommen, Gottes Recht und das Recht des Menschen in seiner Person schon zu Ehren gebracht hat? Daß unter „Gottes Heilsplan“ also nicht etwa zu verstehen ist: die Existenz der Kirchen in der Welt, ihre Aufgabe gegenüber der Unordnung der Welt, ihre äußere und innere Betätigung als Organe eines besseren Menschenlebens und schließlich der Erfolg dieser ihrer Tätigkeit in der Christianisierung der ganzen Menschheit und in Verbindung damit in der Herstellung einer unseren ganzen Planeten umfassenden Rechts- und Friedensordnung? Daß also unter „Gottes Heilsplan“ nicht etwa so etwas wie ein christlicher Marshall-Plan zu verstehen ist? Man hat sich durch das biblische Bild von der Kirche als dem Leibe Christi zu der nun gewiß nicht biblischen Redensart verleiten lassen, daß wir es in der Kirche mit einer Fortsetzung der Inkarnation des Wortes Gottes zu tun hatten, wenn dem so wäre, dann wäre offenbar die Herrschaft Jesu Christi zur Rechten des Vaters und also das Walten von Gottes Vorsehung gewissermaßen in die Regie und Verwaltung der Christenheit übergegangen, und es würde die geplagte Menschheit ihr Heil von uns, von unserem weltgeschichtlichen Scharfblick, von den Programmen und Aktionen, von den in irgendeiner Zukunft zu erhoffenden Triumphen der Kirche als der Verkörperung und Stellvertreterin Jesu Christi und also Gottes selber zu erwarten haben! Da kommt man dann leicht in die Lage, so tun zu müssen, als ob der liebe Gott gestorben wär«, als ob es jedenfalls eine eigene Weisheit, Gerechtigkeit und Güte, einen willen und Plan Gottes selbst hoch über unserem ganzen christlich-kirchlichem Wesen gar nicht gebe, sondern das alles nur in Gestalt unserer Ansichten, Einsichten und Absichten, das alles nur in Gestalt unserer christlichen Versuche, Gott und unserem Nächsten gerecht zu werden. Kein Wunder, daß wir dann so nervös und eigentlich doch ziemlich erschrocken auf die Unordnung der Welt blicken müssen: wie Petrus auf den Sturm und die Wellen blickte, in denen er denn auch sofort versinken mußte, wir können es anders halten und haben. Die Definition der Kirche als Leib Christi ist gut. Aber der Leib Christi besteht doch wahrlich aus solchen Menschen, die, ein Jeder an seinem Ort und in seiner weise, ihre ganze Hoffnung und Zuversicht ganz allein auf ihn selbst gesetzt haben: auf sein einmaliges Versöhnungswerk am Kreuz, auf seine Auferstehung als das Zeichen des neuen Äons, der in ihm schon angebrochen ist, auf seinen heiligen Geist, durch den er seine angefochtene Gemeinde tröstet und durch den er auch die Welt ganz anders und viel besser richtet und zurecht bringt, als wir es vermögen — und schließlich: auf seine Wiederkunft in Herrlichkeit, in welcher die in ihm geschehene Erlösung der ganzen Kreatur in Herrlichkeit offenbar werden wird. Der Leib Christi lebt doch ausschließlich von dem her, durch den und zu dem hin, der ihm wohl ganz gegenwärtig, aber als der Herr auch ganz überlegen ist. Ich gestehe, daß ich erschrocken bin über die Tatsache, daß in dem ganzen uns Vorgelegen Material wohl gelegentliche rhetorische und theoretische Erinnerungen, aber sozusagen keine praktischen Anwendungen dieser Erkenntnisse zu bemerken sind. Es ist, wie wenn Gottes Vorsehung, sein schon gekommenes Reich, die schon Vollbrachte Versöhnung der Welt, der heilige Geist (dessen Gedanken höher sind als unsere Gedanken!) und eben: Jesu Christi Wiederkunft in Herrlichkeit und schließlich der dreieinige Gott selber, seine Person, sein Ratschluß, sein Werk, seine Verheißung, sein Sieg und seine Herrschaft irgendwo außerhalb des Kreises wären, auf den wir unter dem Thema „Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan“ jedenfalls in unserer Vorbereitung geblickt haben. Müssen wir nicht in diesem Sinn in allen Punkten neu ansetzen, wenn in diesen Tagen, wie wir hoffen, Alles wohl gelingen soll? wir schämen uns doch des Evangeliums nicht! wie würden wir sonst, was Gott verhüte, selber beschämt werden müssen!
Ich möchte den Ernst und den guten Willen und die Hoffnungen, mit denen wir hier zusammengekommen sind, nicht abschwächen, sondern auf ihren rechten Grund stellen, wenn ich jetzt sage: wir sollten den Gedanken gleich an diesem ersten Tag unserer Beratungen gänzlich fahren lassen, als ob die Sorge für die Kirche und für die Welt unsere Sorge sein müsse. Beladen mit diesem Gedanken würden wir nichts ausrichten, würden wir die Unordnung in Kirche und Welt nur noch vermehren können. Denn eben das ist schließlich die Wurzel und der Grund aller menschlichen Unordnung: die schreckliche, die gottlose, die lächerliche Meinung, als sei der Mensch der Atlas, dem das Himmelsgewölbe zu tragen verordnet sei. was wir in diesen Tagen leisten können und sollen, ist schlicht dies: wir dürfen unseren Kirchen und der Welt in einem Beweis, der hoffentlich ein Beweis des Geistes und der Kraft sein wird, zeigen, wie das ist, wenn tausend Christen aus allen Ländern und Völkern, Sprachen und Konfessionen miteinander, in der heutigen Zeit und Lage zu einer einzigen Gemeinde versammelt, zu dem stehen, was sie alle an ihrem Ort und in ihrer Weise so oft gehört und selber gepredigt haben: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen!“ Dürfen wir dazu nicht stehen? Sind wir nicht Kinder Gottes und warum wollten wir dann nicht dazu stehen und also den Beweis der Freiheit führen, der uns jetzt als einer Gemeinde Jesu Christi aufgetragen ist?
Darf ich an einigen Beispielen deutlich machen, an was für eine geistliche Haltung ich denke, wenn ich von dieser Freiheit rede?
Uns beschäftigt in unserer ersten Sektion die konfessionelle Getrenntheit unserer Kirchen und unsere Hoffnung auf irgend eine Gestalt ihres Zusammenschlusses. Die Haltung geistlicher Freiheit, auf die es jetzt ankäme, bestünde darin, daß wir in unseren sämtlichen Interessen, Anliegen und wünschen — den konfessionellen ebenso wie den ökumenischen — ein wenig locker ließen und uns fragen ließen, was der von uns denkt und will, dessen Name den Mittelpunkt aller unserer Konfessionen bildet, der aber auch allein das Recht und die Macht hat, uns zu seiner heiligen allgemeinen Kirche zusammenzurufen und zusammenzuschließen. Machen wir uns klar: wenn wir nicht auf ihn hören, dann sind sowohl das konfessionelle wie das ökumenische Prinzip leere, geistlose, säkulare Formen, über die zu streiten und über die sich zu vertragen gleich unfruchtbar ist. wir dürfen aber auf ihn hören, wir dürfen die einfache Tatsache gelten lasten, daß er in seinem Werk und Wort unser Herr ist, und nicht wir mit unseren christlichen Ideen seine Herren sind, wir wissen nicht, was daraus werden wird, wenn wir auf ihn hören, wir wissen nicht, wie sich unsere konfessionellen und unsere ökumenischen Vorstellungen im Feuer der Prüfung durch sein Wort bewähren werden, wir sollen das auch nicht im voraus wissen wollen, wir dürfen aber wissen, daß es allen unseren Anliegen und uns selbst und unseren Kirchen nur heilsam sein kann, sie und uns in das Feuer dieser Prüfung zu stellen.
Ich kann nicht ganz schweigen von einer ernsten Schwierigkeit, die wir uns in dieser Sache selber bereitet haben, wir sind hier unterwegs zwischen einer nicht mehr ganz bestehenden Trennung und einer noch nicht recht erreichten Einheit unserer Kirchen. Es war in dem Stadium, in dem wir uns jetzt befinden, noch nicht möglich, daß wir hier gemeinsam Abendmahl feierten. Es wird das vielleicht noch lange nicht möglich sein, wir hätten das damit sichtbar machen dürfen, daß wir hier nun eben kein Abendmahl gefeiert hätten, wir durften das aber nicht damit sichtbar machen, daß wir nun gerade hier getrennte Abendmähler feiern werden, wir durften hier mit beschwertem aber gutem Gewissen eine unvollkommene Gemeinde des einen Herrn sein. Es kann aber kein Segen und keine Verheißung darauf liegen, wenn wir nun ausgerechnet hier mit der einen Hand zurückstoßen werden, was wir mit der anderen Hand doch empfangen möchten, wir werden nun die Freiheit für den einen Herrn Jesus Christus trotz dieser getrennten Abendmähler zu gewinnen und zu behaupten versuchen müssen.
Möchte uns diese Freiheit dann auch das bedeuten, daß das Seufzen oder die Entrüstung über die Absagen, die wir von den Kirchen von Rom und von Moskau erhalten haben, in den Verhandlungen unserer ersten Sektion einen möglichst geringen Raum einnimmt! Warum sollten wir in diesen Absagen nicht schlicht die gewaltige Hand Gottes über uns erkennen? Er gibt uns damit vielleicht ein Zeichen, durch das er uns jeden Wahn nehmen will, als könnten wir hier einen Turm bauen, dessen Spitze bis zum Himmel reicht. Er zeigt uns damit vielleicht, wie kümmerlich unser Licht bis jetzt noch war, da es offenbar noch nicht einmal in diese anderen angeblich doch auch christlichen Bereiche hinüber zu leuchten vermochte. Er bewahrt uns damit vielleicht vor Gesprächspartnern, mit denen zusammen wir hier nicht einmal in einer unvollkommenen weise Gemeinde sein könnten, weil sie, wenn auch aus verschiedenen Gründen, gerade die Bewegung von allem Kirchentum weg zu Jesus Christus hin nicht vollziehen wollen, ohne die Christen verschiedener Herkunft und Art nun einmal nicht miteinander reden, nicht aufeinander hören, geschweige denn zusammenkommen können. Und er stellt uns vielleicht gerade damit an einen sehr guten Ort, daß ausgerechnet Rom und Moskau darin einig zu sein scheinen, daß sie von uns nichts wissen wollen. Ich schlage vor, daß wir Gott nun eben auch darin loben und danken wollen, daß es Ihm gefällt, unseren Plänen in so deutlicher weise in den Weg zu treten!
Und nun beschäftigt uns in unserer zweiten Sektion die Frage des Auftrags der Kirche in der Verkündigung des Evangeliums. Eine gute, eine nötige Frage! Wie könnte sie uns in Ruhe lassen? Es gibt ja so viele Menschen, die die Kunde von Gottes in Jesus Christus geschehenem Gnadenwerk noch nie gehört oder wieder vergessen und vielleicht darum wieder vergessen haben, weil unsere Kirchen sie ihnen noch nie richtig ausgerichtet haben. Es braucht ja so viel Gebet und so viel Arbeit dazu, damit unser Zeugnis nicht irgend ein frommes und moralisches Gerede, sondern wirklich das Evangelium von Jesus Christus sei. Und es ist ja eine so hohe Kunst, in der Ausrichtung dieses Zeugnisses so schlechterdings einfach und direkt zu werden, wie es durch diese Botschaft gefordert ist. Aber was uns auch in dieser Sache allein helfen kann, das ist eine Haltung geistlicher Freiheit und Freude, die darauf beruht, daß es uns um die schon siegreiche Sache unseres Herrn und nicht um unsere irgend einem Sieg entgegenzuführende Sache geht. Ich sehe merkwürdigerweise gerade über dem uns hier vorgelegten Material so etwas wie einen tiefen Trauerschatten, der davon herzurühren scheint, daß wohl noch allzu Viele der Meinung sind, als müßten wir Christenmenschen und Kirchenleute das ausrichten, was doch nur Gott selbst vollbringen kann und was er ganz allein vollbringen will: dies nämlich, daß Menschen wirklich durch das Evangelium wirklich zum Glauben kommen. Laßt uns aus diesem Trauerschatten heraustreten! wir dürfen Gottes Zeugen sein. Seine Advokaten, Ingenieure, Manager, Statistiker und Verwaltungsdirektoren zu sein, hat er uns nicht berufen. Mit den Sorgen solcher Tätigkeit in seinem Dienst sind wir also nicht beladen, wie kommen wir eigentlich zu der phantastischen Meinung, der Säkularismus und die Gottlosigkeit seien Erfindungen unserer Zeit, es habe einmal ein herrliches christliches Mittelalter mit einem allgemeinen christlichen Glauben gegeben und diesen wunderbaren Zustand in neuer Form wieder herzustellen, sei nun unsere Aufgabe? wie kommen wir auf den grämlichen Gedanken, unsere evangelistische Beziehung zu den modernen Menschen darauf zu begründen, daß wir uns in Tabellenform über ihre verruchten Axiome verständigen: als ob es uns erlaubt wäre, diese Weltleute von heute anders zu betrachten als unter dem Gesichtspunkt, daß Jesus Christus auch für sie gestorben und auferstanden, auch ihr göttlicher Bruder und Erlöser geworden ist? wie kommen wir nur dazu, uns die zuerst von einem deutschen Nationalsozialisten Vorgetragene Phrase, daß wir heute in einer „unchristlichen“, ja „nachchristlichen“ Ära lebten, mit einer Selbstverständlichkeit zu eigen zu machen, als ob wir von der Begrenzung unserer Zeit durch Jesu Christi Auferstehung und Wiederkunft noch nie etwas gehört hätten, um dann ausgerechnet von dieser Voraussetzung aus darüber meditieren zu wollen, wie man in unseren Tagen am besten Evangelisation und Mission treiben könnte? „Nach-christliche Ära“? Unsinn! Etwas Anderes aber könnte sehr wohl in Frage kommen: was könnten wir eigentlich dagegen einzuwenden haben, wenn es Gott nun eben gefallen sollte, sein Werk nicht in einer weiteren zahlenmäßigen Vermehrung, sondern umgekehrt in einer energischen zahlenmäßigen Verminderung der sogenannten Christenheit weiter und seinem Ziele entgegen ;u führen? Mir scheint: es gibt für uns in diesem Bereich keine andere Frage als die, wie wir uns selbst von allem Quantitätsdenken, von aller Statistik, von allem Rechnen mit sichtbaren Erfolgen, von allem Streben nach einem christlichen Weltreich frei machen und wie wir dann unser Zeugnis zum Zeugnis von der Souveränität der Barmherzigkeit Gottes gestalten könnten, von der wir doch alle allein leben können — und so zu einem Zeugnis, dem der Heilige Geist seine Bestätigung sicher nicht verweigern wird?
Es werden uns schließlich in unserer dritten und vierten Sektion die Probleme der sozialen und internationalen Unordnung und die der christlichen Stellungnahme ihr gegenüber beschäftigen, wie sollten sie uns nicht brennen? wie sollten wir uns ihnen entziehen dürfen? Ich bitte aber, mich auch hier dafür einsetzen zu dürfen, daß wir ihnen in keiner anderen als in der Haltung geistlicher Freiheit entgegentreten: in der Haltung, in der wir uns auf Gott allein und gar nicht auf Menschen und am letzten auf uns selbst, auf die Kraft irgendwelcher christlicher Unternehmungen verlassen. Die Unordnung der Welt ist heute auch in dieser Hinsicht nicht kleiner, aber auch nicht größer als sie es immer war. Inmitten dieser Unordnung Gottes Reich als das der Gerechtigkeit und des Friedens anzuzeigen, das ist der prophetische Auftrag der Kirche: der Auftrag ihres politischen Wächteramtes und ihres sozialen Samariterdienstes, wir können uns nicht zufrieden geben mit der Art, wie die Kirche früherer Zeiten diesen Auftrag ausführte. Sehen wir zu, daß wir ihn nach den uns gegebenen Erkenntnissen in unserer Zeit besser ausführen! Auf zweierlei wird hier aber Alles ankommen:
Es wird 1. das Reich, das wir der Welt anzeigen, das Reich Gottes und nicht das Reich irgendwelcher von uns für gut gehaltenen Ideen und Prinzipien sein müssen. Unser Ja und unser Nein zum Tun der Gesellschaft und der Staaten sei das Ja oder Nein des Evangeliums und nicht das Ja oder Nein irgend eines Gesetzes! wir werden uns auf nichts als auf den Gehorsam gegen die konkreten Gebote des lebendigen gegenwärtigen Herrn Jesus Christus festlegen können, wir haben also nicht auf irgendwelche christliche Marschrouten zu sinnen, sondern wir haben uns im konkreten Gehorsam gegen diesen lebendigen Herrn zu üben. Es könnte sonst nicht ausbleiben, daß das, was wir der Welt unter der Autorität des Wortes Gottes meinen anzeigen zu sollen, ein Programm wie ein anderes und — wer weiß? — dem Programm bestimmter Parteien, Klaffen und Nationen nur zu verwandt sein könnte. Darf man sich nicht wundern, daß der ganze Problemkreis des Eigentums, des Grundbesitzes und der Grundrente, des Kapitals, des Zinses und des Geldes überhaupt im dritten und vierten Band unseres Vorbereitungsmaterials, als wäre dieser Bereich tabu, nicht einmal angerührt, geschweige denn diskutiert und bearbeitet wird? Gerade dieser Bereich, der nun doch im Neuen Testament ausdrücklich unter die Alternative: „Gott oder der Mammon“ gestellt wird! So etwas meinen vielleicht die ehrwürdigen Väter der Moskauer Synode oder ihre politischen Ratgeber, die uns nun so lieblos in Bausch und Bogen eines „anti-demokratischen“ Wesens bezichtigt haben. Ist die Sache ganz ohne eine Partikelchen Wahrheit? Ich fürchte, daß wir dem Kommunismus von da aus zwar nicht schlechter aber auch nicht besser begegnen können werden als die Mehrzahl unserer sonstigen westlichen Zeitgenossenschaft. Aber ich erwähne diesen Punkt nur, um darauf aufmerksam zu machen: wir müssen dessen sehr sicher sein, daß wir in Ausführung unseres prophetischen Auftrags wirklich Gottes und nicht in besten Treuen doch irgend ein anderes Reich anzeigen, wir dürften uns sonst nicht wundern, wenn unsere noch so gut gemeinten Ratschläge die Beachtung nicht finden würden, deren wir sie für würdig halten.
Und wir werden zu bedenken haben, daß wir Gottes Reich doch nur anzeigen können, wir warten, indem wir unser politisches Wächteramt und unseren sozialen Samariterdienst wahrnehmen, auf die unbewegliche Stadt, die Gott bauen wird, und also nicht auf einen mit christlicher Assistenz zu errichtenden Zukunftsstaat liberalen oder autoritären Charakters. Diese Welt vergeht, wir haben ihr eine revolutionäre Hoffnung sondergleichen zu verkündigen, wir haben ihr aber kein System von gesellschaftlichen oder politischen Prinzipien anzubieten, das als solches den Inhalt dieser Hoffnung darstellen wollte. Es gibt kein solches System; es gibt nur christliche Entscheidungen als Demonstrationen und Zeichen dieser Hoffnung. Denn Gott selbst und er ganz allein ist diese Hoffnung. Daß wir zu solchen christlichen Entscheidungen inmitten einer bösen Welt wach, willig und bereit seien, das ist es, was von uns verlangt ist. wir werden es nicht sein, die diese böse Welt in eine gute verwandeln. Gott hat seine Herrschaft über sie nicht an uns abgetreten. Ihre Errettung, die schon geschehen ist, war nicht unser Werk. Und so wird auch das, was noch aussteht, die Offenbarung ihrer Errettung, der neue Himmel und die neue Erde, nicht unser, sondern sein Werk sein. Daß wir inmitten der politischen und sozialen Unordnung der Welt seine Zeugen, Jesu Jünger und Knechte seien, ist Alles, was von uns verlangt ist. wir werden eben damit, das zu sein, alle Hände voll zu tun haben. „Es ist dem Jünger genug, daß er sei wie sein Meister und der Knecht wie sein Herr.“
Ich bin am Ende und muß im Blick auf das vorbereitende Material wohl annehmen, daß ich Vielen von Ihnen nicht eben aus dem Herzen gesprochen habe. Vielleicht haben Sie dennoch bemerkt, daß ich mich wirklich von keiner Mühe, die an unser Thema gewendet worden ist und noch gewendet werden soll, distanzieren wollte. Ich wollte nicht niederreißen sondern aufbauen. Ich wollte nicht zerstreuen, sondern sammeln. Ich wollte nicht Nein sondern Ja sagen. Ich habe es aber nach meiner Einsicht nur in der Form sagen können, daß ich an das Wort erinnerte, das die Kirche als die Gemeinde Jesu Christi immer zuerst als an sich selbst gerichtet hören muß: „Beschließet einen Rat und es wird nichts daraus; denn hier ist Immanuel!“ wir haben es nach meiner Einsicht nötig, mit einem sehr vertrauensvollen, aber auch sehr aufrichtigen: „Herr, erbarme dich unser!“ an unsere Arbeit heranzutreten.
Vortrag gehalten vor der Ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Amsterdam, 23. 8. 1948.
Quelle: Evangelische Theologie 8 (1948), S. 181-188.