Jochen Klepper über die Vaterunser-Bitte „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“ (1940): „Gott nimmt sich den, dem er vergibt. Das ist seine Gabe. Der Mensch will’s nicht fassen.“

Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern

Von Jochen Klepper

Diese Bitte ist’s, die alle anderen Bitten des Vaterunsers erst ermöglicht. Diese Bitte ist’s aber auch, die uns der Erfüllung aller anderen gewiß macht.

In ihr erkennen wir erst völlig den, zu welchem wir beten.

In ihr werden wir uns klar über die, welche da bitten.

In ihr erfahren wir, wie nahe uns der sei, der sie uns vorgebetet hat und in dessen Namen wir sie beten. In ihr waltet und wirkt der Geist, den er verhieß.

In ihr ordnet sich unser ganzes Verhältnis zu Gott und Menschen.

In ihr werden wir selig.

Die Bitte um Vergebung unserer Schuld knüpft Jesus Christus unmittelbar an die Bitte um das tägliche Brot. Vergebung tut uns not wie Nahrung. Ohne die Bitte um Vergebung müßte es sonst geschehen, daß Gott uns alle unsere vorangegangenen und folgenden Bitten ver­sagt. So oft haben wir den Namen unseres Vaters im Himmel entheiligt. So selten haben wir etwas dazu getan, daß sein Reich komme. So sehr haben wir uns seinem Willen widersetzt, der auf Erden geschehen soll wie im Himmel. So wenig haben wir es verdient, daß er uns erhalte mit täglichem Brot.

Als Gott den Menschen zuerst seine Ordnungen offen­barte in den zehn Geboten, verkündete er auch den Grund seines Gesetzes: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott.“

Dieser Gott tritt in der fünften Bitte des Vaterunsers noch einmal vor uns. Seine Heiligkeit, Gerechtigkeit, Gewalt und Majestät steht so groß und so erschreckend vor uns, daß wir es fast vergessen, wie wir ihn doch eben mit „Unser Vater“ angeredet haben.

Es ist der Gott, der uns vor sich fordert: „Weißt du des Himmels Ordnungen, oder bestimmst du seine Herr­schaft über die Erde?“

Es ist der Gott, der jeden von uns fragt: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, und nicht auch ein Gott von ferneher? Meinst du, daß sich jemand so heimlich ver­bergen könne, daß ich ihn nicht sehe? Bin ich es nicht, der Himmel und Erde füllt?“

Dieser „Gott schaut vom Himmel auf der Menschen Kinder, daß er sehe, ob jemand klug sei und nach Gott frage. Aber sie sind alle abgewichen und allesamt un­tüchtig; da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer“.

Dieser Gott hat uns verheißen: „Sie sollen mich alle kennen, beide, klein und groß. Denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr ge­denken.“

Wir alle sollen ihn kennen! Er aber kennt uns. Sein Ur­teil über uns lautet: Missetäter und Sünder.

Er ist unvergänglich. Wir sind vergänglich. Unsere deutsche Sprache vermag den Doppelsinn des Wortes „Vergehen“, die Schuld und die Strafe, in einem zu umschließen.

In die Welt der Vergänglichkeit spricht der ewige und heilige Gott sein unvergängliches Wort. Er spricht es dir und mir: „Meinst du, daß ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen und nicht vielmehr, daß er sich be­kehre von seinem Wesen und lebe?“

Der Gott, den wir „Unser Vater“ anreden dürfen und dessen Namen wir heiligen sollen, ruft uns bei Namen: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Das heißt: er ruft uns zu sich und beruft uns zum ewigen Leben. Er offenbart sich als den, der da ruft, und ent­hüllt den, der da von ihm angerufen wird: „Ich will meinen Bund mit dir aufrichten, daß du erfahren sollst, daß ich der Herr sei, auf daß du daran gedenkest und dich schämest und vor Schande nicht mehr deinen Mund auf tun dürfest, wenn ich dir alles vergeben werde.“ Gott offenbart sich uns, indem er uns weist, wer wir sind im Lichte seines Angesichts. Indem wir erfahren, wer wir sind, wird uns die göttliche Offenbarung zuteil. Gott läßt uns das menschliche Wesen und Leben mit seinen Augen sehen; sonst blieben wir in Blindheit und Finsternis. Erst wo Gottes Glanz aufgeht und er sein Antlitz über uns leuchten läßt, vermag der Mensch zu erkennen und zu bekennen: „Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsere unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. Ich hatte von dir mit den Ohren gehört; aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße.“

So wissen wir nun einen, der einer Vergebung bedarf, und einen, der vergibt. Nur in der Vergebung ist Klar­heit. In ihr gewinnen wir Anteil an der Klarheit — der Reinheit und Wahrheit — Gottes und Klarheit über uns selbst. Darum kann auch alle menschliche Klugheit und Stärke der Vergebung nicht entbehren, der Mensch müßte sonst verzichten auf sein allererstes Vorrecht: Klarheit zu erhalten über sich selbst.

Indem wir uns begreifen, ergreift uns Gott. Und läßt uns nicht mehr. Seine Hand kann nicht anders handeln als gnädig. Aber wir machen es ihm schwer, uns seine Gnade zu schenken.

Die Bitte „Und vergib uns unsere Schuld“ umschließt einen Vorgang, der alles weit hinter sich läßt, was der menschliche Geist in Tragödie und Drama gestaltet und behandelt. Schuld und Sühne, Unordnung und Ordnung sind das immer wiederkehrende Thema des Dramas, über dem das Menschenherz und der Menschengeist nicht zur Ruhe kommen. In der Bitte „Und vergib uns unsere Schuld“ beginnt Gott sichtbar an uns zu han­deln. Und wir kommen zur Ruhe.

Freilich: um unserer Verlorenheit willen beginnt es in so schwerer Erschütterung und so furchtbarer Aufgewühltheit, daß wir wohl verzagen möchten. Tief muß Gott schneiden, will er uns heilen. Tief muß Gott uns hinabführen, sollen wir festen Grund finden in ihm. „Der Anfang göttlicher Wirkung“, bezeugt uns Martin Luther, „ist dieser, daß er sein Angesicht von den Seinen abwendet und läßt sich ansehen, daß er nicht Gott, son­dern der Teufel sei.“ Gott muß uns, sollen wir wirklich um ihn und um uns wissen, auch erfahren lassen, was wir sind ohne ihn und seine Vergebung, die alle Gaben in sich begreift.

Auch wenn er sich wieder zu uns wendet und uns zu sich kehrt, bleibt es noch bitterschwer. Es ist noch keiner von Gott aufgefordert worden, der nicht meinte, ver­gehen zu müssen. Der Prophet, den Gott beruft, schreit auf: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lip­pen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, ge­sehen mit meinen Augen.“

Wie vermöchte es auch nur einer zu ertragen, wenn Gottes Licht auf ihn fällt? „Denn unsere Missetat ist über unser Haupt gewachsen, und unsere Schuld ist groß bis in den Himmel.“

Wie aber könnte einer sich entziehen, wenn Gottes Lichtstrahl ihn erreicht? „Denn da ich’s wollte ver­schweigen“, läßt der Psalmist in sein Innerstes blicken, „verschmachteten meine Gebeine… Denn deine Hand war Tag und Nacht schwer auf mir… Darum bekannte ich dir meine Sünde und verhehlte meine Missetat nicht. Ich sprach: Ich will dem Herrn meine Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Missetat meiner Sünde.“

Gott nimmt sich den, dem er vergibt. Das ist seine Gabe. Der Mensch will’s nicht fassen.

Zu tiefe Abgründe der Schuld sind durchschritten, und der Mensch verzweifelt: „Meine Sünde ist größer, denn daß sie mir vergeben werden möge.“ Zu schwere Last liegt auf dem schuldbeladenen Gewissen, und der Mensch zagt: „Meine Sünden gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden.“ Zu völlig ist die Ohnmacht des Irdischen erfahren, und der Mensch klagt: „Kann doch ein Bruder niemand erlösen noch ihn Gott versöhnen (denn es kostet zuviel, ihre Seele zu erlösen; man muß es lassen anstehen ewiglich).“

Eine unüberbrückbare Kluft hat zwischen Gott und Mensch sich aufgetan, und nur noch die Beugung bleibt dem Menschen. „Denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir. An dir allein hab ich gesündigt und übel vor dir getan, auf daß du recht be­haltest in deinen Worten und rein bleibest, wenn du ge­richtet wirst.“ Aber die allein seligmachende Kraft Gottes ist geahnt, wo Menschen nur noch gerettet sein wollen, damit der verletzten Majestät und Ehre Gottes genügt sei: „Hilf du uns, Gott, unser Helfer, um deines Namens willen!“

Alle diese Klagen, Fragen und Bitten sind uns vorge­sprochen, damit wir es recht begreifen, was es heißt, zu flehen: „Und vergib uns unsre Schuld.“ Wir wissen weniger von den Menschen, die zuerst in solche Buß­klage ausbrechen, als von denen, die in sie einstimmten und sie aufnahmen. Von Jahrhundert zu Jahrhundert ist es geschehen; und von Jahr zu Jahr ereignet es sich bis in diese Stunde. In den untrüglichsten Zeugnissen ist es uns verbürgt, daß unter ihnen wahrhaftig nicht nur Schwächlinge und Gescheiterte waren, die vor der Welt in Vergessenheit versinken, sondern gerade auch Menschen, welche die Geschichte ihre Großen nennt.

Einer hat es durchlitten in prophetischer Tief e und Weite: Martin Luther. In seinem Bußliede „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ ist der 130. Psalm zum größten Bußlied der Kirche geworden; der 130. Psalm: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, Herr, höre meine Stimme, laß deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! So du willst, Herr, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen? Denn bei dir ist die Vergebung, daß man dich fürchte.“

Aus so tiefer Not kommt unsere Bitte: „Und vergib uns unsere Schuld.“ Luther hat ihr noch eine viel kürzere Auslegung gegeben als wir sie in seinem Katechismus haben, eine Auslegung in vier Worten: Cors accusator, deus defensor.

Das Herz ist der Ankläger, Gott der Verteidiger. In dieser Auslegung werden alle Prophetenworte und Buß­psalmen des Alten Testaments auf Jesus Christus be­zogen, obwohl sein heiliger Name, in dem unser Heil ist, nicht fällt. In der Erwartung dieses Versöhners darf bereits der Mensch des Alten Bundes dem richterlichen Gotte danken: „Dein aber, unser Gott, ist die Barm­herzigkeit und Vergebung. Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich an­genommen, daß sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.“

Immer wieder gründet sich die Bitte „Und vergib uns unsere Schuld“ auf dieses mächtige „Denn“ unerschüt­terlicher Gewißheit und seliger Erfahrung. Dieses „Denn“ ist ein unausweichlicher Hinweis, der uns aus allen Träumen der Selbsterlösung und eigenen Rechtferti­gung reißt.

„Denn er ist barmherzig.“

„Denn bei ihm ist viel Vergebung.“

„Denn Gott zürnt nicht wie ein Mensch, daß er sich nicht versöhnen lasse.“

Gott hat sich versöhnen lassen.

Er, der Richter, konnte zum Verteidiger gegen die — von ihm erweckte — Anklage unseres Gewissens wer­den. Denn er selbst leistete die Sühne für den Frevel, den die Menschen an seiner unabänderlichen Gerechtig­keit und unwandelbaren Heiligkeit begingen und be­gehen. Dieses „Denn“ ist der letzte Grund der festen Zuversicht, die uns Gott um Vergebung unserer Schuld flehen läßt. „Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.

Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Ge­rechtigkeit, die vor Gott gilt.

Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde. Wer an ihn glaubt, der wird nicht ge­richtet.

Denn des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, das verloren ist.“

Auf dieses „Denn“ berufen wir uns, wenn wir Gott um Vergebung unserer Schuld anrufen. Auf diesem „Denn“ stehen wir; durch dieses bestehen wir. An dem zweifeln wir nicht. Das ist bei uns und hilft uns. Es hebt ein anderes, gar starkes „Denn“ mit einem allmächtigen „Aber“ auf: „Denn der Tod ist der Sünde Sold, aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserem Herm.“

Auf diesen weist im Johannesevangelium der letzte Prophet, der Täufer, den Jesus Christus größer nennt denn alle Propheten: „Siehe, das ist Gottes Lamm, wel­ches der Welt Sünde trägt!“ Auf diesen allein vertraut der Apostel: „Das ist gewißlich wahr und ein teuer wertes Wort, daß Christus Jesus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der vornehmste bin.“

Auf den dürfen alle Menschen bauen: „Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allzumal Sünder und man­geln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist.“ Wie völlig diese Erlösung geschieht und wie unantast­bar diese Gerechtigkeit ist, macht Luther uns in einer geradezu erschreckenden Wendung klar. Wir dürften an der Vergebung und Rechtfertigung durch Jesus Chri­stus nun und nimmer zweifeln — „und ob wir am Tage tausendmal hurten und mordeten“. So unerschütterlich, unbeirrbar und uneingeschränkt müsse die Vergebung unserer Schuld geglaubt sein. Um eingebildeter Sünden willen sei Gott nicht in Jesu Christo auf die Erde ge­kommen. Um wirklicher Sünden willen, die in ihrer Schwere zum Himmel schrieen, sei es geschehen.

Es gibt keine Sünde, die von der Vergebung ausgeschlos­sen ist, — außer einer, über die Gott sich ein undurch­dringliches Geheimnis vorbehalten hat und die doch gerade am oberflächlichsten gedeutet und am leichtesten genommen zu werden pflegt. Es ist die Sünde wider den Heiligen Geist. Nur wer sie begeht, vermag zu ermes­sen, welches die einzige unvergebbare Sünde sei. Gott bewahre uns alle davor, sie jemals wissen zu müssen.

Sonst ist kein Unterschied. Der, welcher der schwersten Sünde schuldig ist, kann der Vergebung am frohesten werden! Der, welcher seine Sünden für leichter hält als die seiner Mitmenschen, fällt schon in schwerere Sünde!

„Es ist hier kein Unterschied.“ Menschliche Unterschei­dungen gelten nicht mehr, wo uns die Bitte um Ver­gebung auf die Lippen kommt. Es gilt nur noch das Gemessenwerden von Gott her. Und angesichts dieses Maßstabes bleibt jedem unter den Sündern nur zu sa­gen, daß er der vornehmste, der größte unter allen sei. Nur diese eine Größe bleibt. Wahrhaftig, die Umwer­tung, die in der fünften Vaterunser-Bitte vor sich geht, ist völlig. Sie ist Umwandlung. Diese Umwandlung aber wird zur Umkehr aus dem „Vergehen“ ins ewige Leben.

Das ist freilich so schwer zu begreifen, daß Jesus Chri­stus unserer Schwachheit immer wieder mit Geheimnis­sen abhelfen muß, die wir zu fassen vermögen. Das Gleichnis vom „Großen Schuldner“ — dir und mir ist’s gesprochen. Das Bild vom „Pharisäer und Zöllner“ — uns allen ist es vorgehalten. „Der verlorene Sohn“ — du bist’s und ich.

Jesus Christus hat keine Not des irdischen Lebens be­hoben, ohne ihren letzten Grund aufzuheben: unsere Schuld. Er hat keine Krankheit des Leibes geheilt, ohne uns von der Ursache eines Übels zu befreien: der Sünde.

Darum sprach er bei der Heilung des Gichtbrüchigen: „Welches ist leichter: zu dem Gichtbrüchigen zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder: Stehe auf, nimm dein Bett und wandle?“

So milde, wie er der Großen Sünderin begegnete, und so nahe, wie er sich dem Kreuz des Schächers gesellte, tritt Jesus Christus in der Bitte „Und vergib uns unsere Schuld“ auf uns zu. Ja, er, der am Kreuze bat: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, hat sich in unserer Vaterunser-Bitte mit den Worten „uns“ völlig auf unsere Seite gestellt und ist uns gleich ge­worden! Näher ist er uns nirgends. Aber wie vermögen wir, ihm gleich zu werden?

„Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war: welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern ent­äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden, er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm einen Namen ge­geben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen be­kennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes des Vaters.“

So hoch hebt Gott den empor, der alle Sünde der Welt auf sich lud und allein für sie zu sühnen vermochte. In dessen Namen allein ist es möglich, zu bitten: „Und vergib uns unsere Schuld.“ Wenn wir so in Jesu Christi Namen sprechen, zieht Gott auch uns zu sich empor.

Und um Jesu Christi willen neigt der himmlische Vater sich in dieser Vaterunser-Bitte tief zu uns Sündern her­ab, wie er es durch seinen Propheten verheißen hat. „Denn also spricht der Hohe und Erhabene, der ewig­lich wohnt, des Name heilig ist: Der ich in der Höhe und im Heiligtum wohne und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf daß ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlage­nen: Ich will nicht immerdar hadern und nicht ewiglich zürnen; sondern es soll von meinem Angesicht ein Geist wehen, und ich will Odem machen.“

Der Geist der Vergebung ist es, der uns neuen Odem gibt zu neuem Leben.

Gott hat uns sich versöhnen lassen. Gottes Sohn hat uns zu Gottes Söhnen und Kindern gemacht, seinen Brüdern. Das ist der Sinn des Wortes „Versöhnung“. Von der Versöhnung handelt unsere Vater-unser-Bitte.

Zeit und Ewigkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zu­kunft schrecken uns nicht mehr. In der Bitte „Und ver­gib uns unsere Schuld“ wird alle Last von uns genom­men und das Erbteil des Sohnes Gottes uns gegeben. Das macht bereits unsere Gegenwart reich.

Nur der Christ kann ganz in der Gegenwart leben. Denn die Vergangenheit ist ihm durchgestrichen, und die Zukunft ist ihm gewiß.

Das ist, weil Gottes Geist weht, und er uns Odem macht, uns, die wir des Todes schuldig sind.

Wir bitten um Verzeihung unserer Schuld, und uns wird in dieser Bitte die Gabe des Heiligen Geistes und in ihr das ewige Leben gewährt.

Indem wir Abtrünnigen und Aufrührerischen beten „Und vergib uns unsere Schuld“, ist Gottes Geist in uns und Jesus Christus bei uns „alle Tage bis an der Welt Ende“.

Erfüllt ist, was er uns zugesagt hat, als er, unser Trost, von den Seinen schied: „Und ich will den Vater bitten und er soll euch einen anderen Tröster geben, daß er bei euch bleibe ewiglich: den Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht kann empfangen; denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr aber kennt ihn; denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.“

Ohne diesen Tröster vermöchten wir nicht Gott als un­seren Vater um Vergebung unserer Schuld anzurufen. Nun wir diesen Tröster haben, vertritt er uns sogar, wenn wir nicht zu beten wissen, „mit unaussprechlichem Seufzen“.

In Jesu Christi Namen und Geist dürfen wir Gott an seine Gnade mahnen — nicht nur für uns, sondern sogar für alle Menschen: „Du schonest aber aller; denn sie sind dein, Herr, du Liebhaber des Lebens, und dein un­vergänglicher Geist ist in allen.“

So weit darf unsere Bitte um Vergebung greifen. Und nur, wenn sie so weit greift, ist sie uns bezeugt als vom Heiligen Geiste eingegeben. Den hat Jesus Christus uns erworben, damit unser Geber Kraft und Gültigkeit besitze und jene umfassende Weite erhalte, die Jesus Christus gewollt hat, der Hirt der einen Herde. „Und derselbe ist die Versöhnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.“ Jesu Christi Erlösungstat umspannt die ganze Welt und alle ihre Schuld. „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Herr, du Liebhaber des Lebens!

Zu dem Liebhaber des Lebens beten wir.

Die Buße ist verklärt von seinem Glanz und durch­strömt von Freude. Bevor wir beten „Und vergib uns unsere Schuld“, sollten wir in unserem Herzen sprechen: „Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekom­men!“ Aus dem Bußgebet bricht der Lobgesang auf: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barm­herzigkeit, der deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst wie ein Adler.“

Ein fröhlicher Mund ist’s, der zu Gott fleht: „Und ver­gib uns unsere Schuld.“ Das ist das Werk des Heiligen Geistes.

Die Buße tötet nicht. Die Buße will das Leben in Gott. „Denn die göttliche Traurigkeit wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemand gereut; die Traurigkeit aber der Welt wirkt den Tod.“ So weltenweit ist die Buße ge­schieden von der Melancholie.

„Tut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, so wer­det ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes“, sprach Petrus in der Pfingstpredigt. Wahrhaftig, wo und wann wir die Bitte „Und vergib uns unsere Schuld“ von ganzem Herzen vorbringen, feiern wir Weihnachten, Karfreitag, Ostern und Pfingsten!

In der Buße, die keine Gabe von Gott zu erbitten wagt ohne die den Abgrund schließende und den Grund le­gende Bitte um Vergebung, vermögen wir uns „wie ein Adler“ zu erheben über alle Klage und Anklage, die uns umfangen möchte mit immerwährender Nacht. In der Buße wird es für uns Tag für alle Erdenzeit und Ewigkeit. In ihr, die ihren gottgewollten, täglichen Ausdruck in unserer Vaterunser-Bitte findet, sind wir in die ewige Wahrheit geleitet und in die ewige Liebe gerettet. „Daran erkennen wir, daß wir aus der Wahr­heit sind und können unser Herz vor ihm damit stillen, daß, so uns unser Herz verdammt, Gott größer ist denn unser Herz und erkennt alle Dinge.“

Wie hart, aber notwendig es dem Menschen ist, von Gott erkannt zu werden: in der fünften Vaterunser-Bitte haben wir’s erfahren. Wie hilfreich es ist, sich an Gottes großem Herzen zu bergen und wie allein von ihm uns Kraft, Friede und Freude zuströmt: in dieser Vaterunser-Bitte haben wir’s gespürt.

Durch diese Bitte wissen wir, daß Gott von uns ange­redet sein will als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Als der Dreieinige hat er sich uns in ihr offenbart.

Durch diese Bitte ist uns gewiesen, was der Mensch sei: „Der verlorene Sohn“, dem er „erschienen von ferne“ und zu dem er sprach von Ewigkeit her: „Ich habe dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“

Ist es nun ein Dank für diese Güte, wenn wir Jesus Christus nachsprechen: „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsren Schuldigern?“ Ist es eine Ge­gengabe? Drängt es uns nicht zu ihr? Fühlen wir uns nicht durch Gottes vergebende Liebe tiefer verpflichtet als durch fordernde Strenge? Ist hier nicht die einzige Stelle des Vaterunsers, in der auch von einer Gegen­leistung des Menschen die Rede sein darf? Deutet nicht dieses „Wie wir“ allein den Dank an, der sonst — so unfaßlich und doch so bedeutungsvoll! — im ganzen Vaterunser fehlen muß?

Ganz gewiß hebt durch die Worte „wie auch wir“ diese Bitte sich von den sechs anderen ab. Jesus Christus hat sie in dem Gespräch mit Petrus über die Notwendigkeit des „Siebzig siebenmal“ Vergebenmüssens und in dem anschließenden Gleichnis vom „Großen Schuldner“ mit so unentrinnbarer Eindringlichkeit und so unabding­barem Ernste ausgelegt, daß uns die Deutung als dank­bare Gegenleistung nicht mehr zu genügen vermag. Unmöglich ist es, Gott eine seinen Geschenken gleich­wertige Gabe darzubringen und eine seinen Taten eben­bürtige Leistung vorzuweisen oder auch nur einen Gedanken Gottes ohne Entstellung durch Menschliches nachzudenken.

„Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, daß ihm werde wiedervergolten? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.“ Wir können uns außer durch die Berufung auf das Opfer Jesu Christi die Erfüllung unserer Bitte um Ver­gebung nicht verdienen. Wir können ihrer Gewährung anders als durch die Rechtfertigung durch Jesus Christus nicht wert werden. Wir müssen ja um Vergebung bitten nicht nur für begangene, von uns verdammte und abge­tane Sünde, sondern auch in dem Bewußtsein, daß wir unvermeidlich weiter sündigen werden bis zum Tode, der „der Sünde Sold ist“.

„Fortiter pecca!“ ruft Martin Luther uns in dieser Be­drängnis zu; und eine Ahnung von der völligen Gewißheit der Vergebung rührt uns an.

„Sündige tapfer!“ Luther sieht damit auf das Wort der Heiligen Schrift von dem Opfer Christi, das auch für alle künftige Schuld geschehen ist: „Denn mit einem Opfer hat er in Ewigkeit vollendet, die geheiligt werden.“

Die geheiligt werden? Diese sind’s, die den Heiligen Geist der Buße empfingen. Ein solcher will auch nicht durch eine Gegenleistung die irdische Strafe abwenden, sondern stellt es Gott anheim, ob er sich ihrer bedienen will zur ewigen Errettung.

Buße, so erfüllt sie ist von Dank, weiß von keiner Ge­genleistung.

Buße besitzt eine tiefe Einsicht.

Nicht, weil wir Gott versprechen: „Wie wir vergeben unsern Schuldigern“, vergibt uns Gott. Er tut es allein um dessen willen, der uns diese Bitte vorgebetet hat; der die Bedingungen ihrer Gewährung erfüllt; in dessen Namen wir sie nachsprechen und auf den wir schauen, wenn wir sie vor seinen und unseren himmlischen Vater bringen.

Kein menschliches Werk erwirbt durch sich selbst ein Verdienst vor Gott, sondern lediglich durch den, auf den es blickt. Auch alles Verzeihen und Vergeben der Menschen untereinander in seiner Unvollkommenheit muß zu Jesus Christus aufsehen, in dem die vollkom­mene Vergebung Wirklichkeit wurde.

Es ist alles auf Gottes Gnade in Jesus Christus gestellt. Und doch stehen die Worte „Wie wir vergeben unsern Schuldigern“ unverrückbar wie jedes andere Wort des Vaterunsers.

Sie helfen uns, die ganze Fülle der Gnade zu begreifen. Diese Gnade ist freilich so groß, daß wir sie ohne Hilfe, Deutung und Leitung nicht begriffen und verstünden.

Was Gott in Jesus Christus an uns tat, ist Liebe so über alles Bitten und Verstehen, daß uns nur im täglich neu durchlebten Gleichnis ihre Tiefe, Macht und Fülle in Bewußtsein und Gefühl dringen kann.

Dieses Gleichnis beginnt jeden Tag von neuem: „Wie wir vergeben unsern Schuldigern.“

Im täglichen Vergeben an uns begangenen Unrechts — wir mochten einen Anlaß geben oder uns schuldlos füh­len — vermögen wir einen Blick in den unergründlichen Abgrund des göttlichen Erbarmens zu tun und zu ahnen, „daß Gott größer ist denn unser Herz“.

Da wird keiner mehr dem Wahn verfallen, es könne ein Zeitpunkt kommen, zu dem wir im Vergeben genug ge­tan hätten! Wissen wir doch auch, daß wir selbst täglich angewiesen sind auf göttliche Vergebung und mensch­liches Verzeihen.

Als Gottes Licht auf unser Leben fiel, ist es uns klar geworden, daß „hier kein Unterschied ist“ und wir und alle Menschen „allzumal Sünder“ sind, schuldig anein­ander und vor Gott.

Als Menschen, welche dieses Wissen in sich tragen, bit­ten wir: „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir ver­geben unsern Schuldigern.“ Und so ordnet sich in die­ser Bitte unser ganzes Verhältnis zu Gott und zum Menschen.

Ist es nicht zu kühl gesagt: es ordnet sich? Erfüllt es sich nicht darüber hinaus mit Frieden und Liebe, wofern wir nur der evangelischen Botschaft gedenken: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab“ und „derselbe ist die Versöhnung für unsere Sün­den, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt“?

Es ist die Welt, über die der alternde Luther das bittere Urteil fällte und nicht widerrief: „Welt war Welt, Welt ist Welt, Welt bleibt Welt.“

Die hat Gott also geliebt. Dieser Welt Sünde hat Jesus Christus gesühnt.

Das macht unser Vergebenwollen milde und weit und unser Beten um Vergebung so inständig.

Durchdrungen von der Liebe des Weltenrichters, sind wir nicht mehr imstande, zu richten.

Täglich sollen wir die fünfte Vaterunser-Bitte beten und aus ihrem Odem leben.

Wie ein besonderer Beruf ist es uns aufgetragen, um Vergebung zu bitten und zu vergeben.

Jedes irdische Amt hat als letzten Sinn, daß wir in ihm eine, wenigstens eine Seite an dem allumfassenden We­sen und Walten Gottes von ferne verstehen.

Darin beruht die Heiligung unserer Berufe, Heiligung, obwohl wir täglich in ihnen schuldig werden an Gott und an Menschen.

Unser Vater gab uns das Amt des liebenden und erhal­tenden Vaters.

Unser König gab uns das Amt des herrschenden und ordnenden Königs.

Unser Richter gab uns das Amt des strafenden, begna­digenden Richters.

Unser Heiland gab uns das Amt des helfenden und hei­lenden Arztes.

Der Schöpfer Himmels und der Erde läßt uns Ackerleute sein. Der ewige Erbarmer legt uns in der Vaterunser- Bitte „Und vergib uns unsere Schuld, wir wir vergeben unsern Schuldigern“ das Amt des Vergebens dringlich vor allen anderen ans Herz.

Tief weiht er uns in sein Geheimnis ein.

Vergebend dürfen auch wir von dem „gottseligen Ge­heimnis“ der Vergebung künden.

Zu vergeben, wie er vergibt und wie er es fordert, ist über unser Vollbringen und Vermögen. Über unser Ver­geben noch bleibt die Bitte gesprochen: „Und vergib uns unsere Schuld.“

Das macht die Worte „Wie wir vergeben“ so flehend und demütig, daß an ein Pochen auf Leistungen und an eine Gabe oder ein Opfer auf Leistung und an eine Gabe oder ein Opfer unsrerseits nicht mehr gedacht werden kann.

Aber auch, daß wir nicht vergeben können, wie unter Menschen vergeben sein soll, bleibt unter die göttliche Vergebung gestellt. Sollte das „Wie auch wir vergeben“ der Maßstab möglichen Vergebens bleiben — wir wür­den irre werden an der göttlichen Vergebung. Aber auch daß wir im Vergeben wieder von neuem schuldig wer­den und, vergebend noch, erneut Gottes Zorn heraus­fordern, will uns Gott vergeben.

„Denn Gott hat uns nicht gesetzt zum Zorn, sondern die Seligkeit zu besitzen durch unseren Herrn Jesus Christus.“

So begegnen wir in der fünften Vaterunser-Bitte Gottes ganzem heiligen Zorn.

So erfahren und gewinnen wir in ihr die ganze Selig­keit, die seine Gnade uns bereitet hat.

Im Beten dieser Bitte werden wir selig.

Als Betern der Bitte „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“ wird uns Frieden und Seligkeit als Gottes Kindern.

„Wir sind nun Gottes Kinder; und es ist noch nicht er­schienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“

Dann ist das Vergehen — vergangen! Vergänglichkeit wird ewiges Leben! Wir Schuldigen, des Todes Schuldi­gen, rufen Gott um Vergebung unserer Schuld an: und er tut uns den Himmel auf. Um dieser unserer Bitte wil­len wird dort „der Tod nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“.

Ursprünglich erschienen in: Das Vaterunser. Eine Auslegung dargeboten von deutschen Dichtern, Berlin-Steglitz: Eckart, 1940.

Quelle: Jochen Klepper, Nachspiel. Aufsätze des Erzählers, Witten-Berlin: Eckart, 1960, S. 132-151.

Hier der Text als pdf.

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