Die Aktualität der christlichen Botschaft
Von Karl Barth
Nach einem „neuen Humanismus“ soll in diesen Tagen in unserem Kreise gefragt werden, wir sind eine Versammlung von Intellektuellen von sehr verschiedenen Formationen und Richtungen. Und nun sollen heute abend zwei Theologen zu Worte kommen, um im Blick auf unser Thema von der Aktualität der christlichen Botschaft zu reden: Rev. P. Maydieu von der katholischen, ich selbst von der protestantischen Theologie her.
Die Situation ist nicht selbstverständlich. Noch vor fünfzig oder vierzig Jahren würde gewiß niemand daran gedacht haben, zu einem solchen Anlaß auch Theologen herbeizurufen — vielleicht einen Vertreter der sogenannten Religionswissenschaft, aber sicher keinen zum Glauben seiner Kirche sich bekennenden Theologen, geschweige denn gleich zwei! Ich lasse die Frage offen, wie es kommt, daß heute geschieht, was damals nicht geschehen wäre. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß unsere Anwesenheit und Mitwirkung auch heute ein gewisses Wagnis bedeutet.
Warum sollten wir Theologen nicht offen sein für alle die so verschiedenen Gesichtspunkte, unter denen das Thema vom neuen Humanismus in diesen Tagen entfaltet und diskutiert werden soll; wir werden hier aber auch stehen müssen zu unserer eigenen Sache, vielmehr: zur Sache der christlichen Kirche, vielmehr: zur Sache dessen, dem die christliche Kirche ihre Existenz verdankt und dem sie dienen möchte. Die andern Teilnehmer dieser Recontres werden ja gewiß nicht von uns erwarten, daß wir uns der Theologie hier schämen sollten. Sie werden das Sint ut sunt aut non sint ja gewiß auch uns zugute kommen lassen.
Aber eben hier beginnt für sie ein gewisses Risiko, wenn die „christliche Botschaft“ nicht verhüllt und nicht abgeschwächt, sondern so zur Sprache gebracht wird, wie sie lautet, und wenn auch von ihrer „Aktualität“ so geredet wird, wie es nun eben ihr zukommt, dann kann das in einem Kreis wie dem unsrigen vielleicht Verlegenheit, ja Peinlichkeit verursachen, weder der katholische noch der protestantische Theologe wird Ihnen ja verschweigen können, daß die christliche Botschaft heute wie zu allen Zeiten mißverstanden wäre, wo sie als ein theoretisches, moralisches oder ästhetisches Prinzip oder System neben anderen, als ein -ismus in Konkurrenz, in Harmonie oder in Konflikt mit anderen -ismen aufgefaßt würde, sondern daß sie heute wie zu allen Zeiten den Sinn hat, dem Menschen, allen Menschen und allen menschlichen Meinungen und Bestrebungen gegenüber den willen, das Werk und die Offenbarung Gottes zu bezeugen, wir werden nicht verschweigen können, daß es sich in der christlichen Botschaft weder um den klassischen noch um einen heute neu zu entdeckenden Humanismus, sondern um den Humanismus Gottes handelt, wir werden ferner nicht verschweigen können, daß dieser Humanismus Gottes einerseits nur in einer sehr bestimmten geschichtlichen Gestalt existiert und zu erfassen ist, daß er aber eben in dieser Gestalt gestern und heute derselbe ist und also nicht nur zeitliche, sondern ewige Gültigkeit hat. Und wir werden vor allem nicht verschweigen können, daß gerade die Frage der „Aktualität“ der christlichen Botschaft vom Humanismus Gottes eine Frage ist, die die bittersüße Eigenschaft hat, daß sie — ob positiv oder negativ — immer wieder nur in Form einer höchst umfassenden, persönlichen und verantwortlichen Entscheidung beantwortet werden kann. Und nun kann ich nicht garantieren, wie es auf Sie wirken wird, wenn wir das Alles hier wirklich nicht verschweigen, sondern offen aussprechen werden. Ich könnte mir vorstellen, daß die Anwesenheit und Mitwirkung von christlichen Theologen hier von Manchen als noch störender empfunden werden könnte als etwa die Anwesenheit von Kommunisten. Und ich könnte mir darüber hinaus sogar vorstellen, daß Kommunisten und Nichtkommunisten hier darin einig werden könnten, eben im Auftauchen der christlichen Theologie in diesem Kreise die ernstliche Störung einer ersprießlichen Verhandlung der Frage nach dem neuen Humanismus zu erblicken. Es hatte vielleicht doch seine guten Gründe, wenn man sich vor fünfzig oder vierzig Jahren bei Anlässen dieser Art die „schwarze Gefahr“ lieber zum vornherein vom Leibe hielt. Ach wollte nicht anfangen, ohne Sie auf das Risiko, das Sie jetzt laufen, ausdrücklich aufmerksam gemacht zu haben.
Indem ich zur Sache komme, möchte ich auch das noch feststellen, daß die Zeit, die ich mir nehmen darf, zu kur; ist, als daß ich mehr als einen schmälsten Sektor von dem sichtbar machen könnte, was — wie es hier meine besondere Aufgabe ist — von der protestantischen Theologie her dazu zu sagen ist.
Die christliche Botschaft ist die Botschaft vom Humanismus Gottes, wurde vorhin gesagt. Ich wähle diese Formel im Blick auf unser Konferenzthema. Man könnte den Inhalt der christlichen Botschaft auch mit anderen Worten angeben. Sie ist vielseitig, und ihre Sprache ist mannigfaltig. Man kann es aber auch mit diesen zwei Worten sagen: die christliche Botschaft handelt vom Humanismus Gottes. Und gerade diese zwei Worte umschreiben den Begriff, der für das christliche Verständnis des Menschen entscheidend ist: den Begriff der Inkarnation. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ Das ist das Werk und die Offenbarung Gottes — die ontologische und noologische Voraussetzung — in deren Licht der Mensch nach christlichem Verständnis zu sehen ist. Denn die christliche Botschaft ist die Botschaft von Jesus Christus. Er ist das Wort, das Fleisch wurde. Eben damit ist er aber auch das Wort über den Menschen. Der Mensch ist also nach christlicher Erkenntnis kein höheres, kein geringeres, kein anderes, sondern genau das Wesen, das er laut dieses Wortes ist. Er ist das Wesen, das im Spiegel Jesu Christi sichtbar wird. Ich werde es nachher kurz zu umschreiben versuchen. Lasten Sie mich zuerst noch einen Augenblick bei jenem Ausgangspunkt verweilen.
1. Die christliche Erkenntnis vom Humanismus Gottes oder von der Inkarnation oder von Jesus Christus schließt eine ganz bestimmte Erkenntnis Gottes in sich. Die Vokabel „Gott“ kann hier weder mit dem Inbegriff der Vernunft oder des Lebens oder der Kraft, noch mit den heute beliebteren Begriffen der Grenze oder der Drängenden; oder der Zukunft gleichgesetzt werden. Gott ist nicht das, was er — gnostisch oder «gnostisch definiert — von uns her gesehen sein oder nicht sein könnte, vielleicht sein müßte, vielleicht nicht sein dürfte. Gott ist der, der uns gegenüber sich selbst will und wirkt und offenbart. Er ist der, der in und durch und aus sich selbst lebendige, in seiner eigenen Freiheit und in seiner eigenen Liebe allmächtige Herr. Ich kann Ihnen die herrliche, aber harte Formel nicht ersparen: Er ist der dreieinige Gott, der in seinem einen göttlichen Wesen der Vater, der Sohn und der Heilige Geist ist. Dieser ist der menschenfreundliche Gott der christlichen Botschaft. Von seiner Selbstoffenbarung her denken wir, wenn wir christlich vom Humanismus Gottes und also von Jesus Christus — und von diesem her vom Menschen reden.
2. Gottes Menschenfreundlichkeit, d. h. die laut der christlichen Botschaft im Humanismus Gottes oder in Jesus Christus stattfindende Grundbeziehung zwischen Gott und Mensch ist — entsprechend jener Erkenntnis Gottes — die der freien, erwählenden Gnade. Das will sagen: Es liegt keineswegs in der Natur Gottes, es beruht nicht in einer ihm auferlegten Notwendigkeit, sondern es ist seine souveräne, schöpferische, barmherzige Entschließung und Tat, daß er sich in Jesus Christus dazu bekennt, der Gott gerade des Menschen zu sein. Und es liegt auch keineswegs in der Natur des Menschen, es gehört nicht zu seinen Möglichkeiten, und er ist es nicht, der in und mit seiner Existenz das verwirklichte: daß unter allen Geschöpfen gerade er zu Gott gehören darf. Sondern daß dem so ist, das ist immer ein von ihm unverdientes, ein ihm von ihm aus unzugängliches und unbegreifliches Geschenk. Er kann es sich von Gott nur sagen und geben lasten, daß dem so ist. In dieser souveränen Cat Gottes, in diesem göttlichen Sagen und Geben und insofern in der freien erwählenden Gnade Gottes sind Er und der Mensch Einer in Jesus Christus, ist Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch. Von hier aus sehen wir den Menschen. Jede Idee von Gott und vom Menschen, laut derer ihre Beziehung zueinander definitionsmäßig selbstverständlich, in einer Analyse des Begriffes Gottes oder des Menschen zu gewinnen wäre, wäre hier unerträglich, müßte hier Alles verfälschen. Es ist die freie erwählende Gnade Gottes, die wir im Auge haben müssen, wenn wir christlich von Gott und so auch vom Menschen reden wollen.
3. Wenn die christliche Botschaft vom Humanismus Gottes und also von Jesus Christus redet, so ist — weil es um Gottes freie, erwählende Gnade geht — ein einmal für allemal vollbrachtes Geschehen gemeint: vollbracht im jüdischen Volk und Land, zur Zeit der Raiser Augustus und Tiberius für alle Zeiten, für die Menschen aller Zonen, wer von Jesus Christus redet, der redet von wirksamer Stellvertretung oder er redet nicht von ihm. wir Anderen waren und sind nicht, was er ist. Er ist also kein Bild oder Symbol der allgemeinen Wirklichkeit des Menschen, seines Lebens und Sterbens, seines Leidens und Triumphierens. Daß das Wort Fleisch wurde, das ist eine nicht wiederholbare, sondern eine gerade in ihrer zeitlichen Einzigkeit ewige Geschichte, was Jesus Christus ist, leidet und tut, das ist, leidet und tut er für uns Andere. So ist er Immanuel, d. h. Gott mit uns, so jener lebendige Gott, der uns in seiner souveränen Gnade gegenübertritt, um uns das Neue zu sagen, das Neue zu geben, daß wir ihm gehören. Also nicht von einem Allgemeinen her, das angeblich die menschliche Wirklichkeit wäre, ist dieser eine besondere Mensch Jesus Christus zu sehen und zu beurteilen, sondern von diesem einen, besonderen Menschen her das, was jeder Mensch, der wirkliche Mensch im allgemeinen ist.
Was ist der Mensch? Ich versuche es nun, in vier Punkten zusammenzufassen, was im Sinne der christlichen Botschaft dazu zu sagen ist.
1. Der Mensch ist von Gott her zu Gott hin: reines Objekt von Gott her und gerade so reines Subjekt zu Gott hin, sein Geschöpf, aber sein für ihn freies Geschöpf. Das ist die Beschreibung einer Bewegung — einer Geschichte. Sie geschieht in der jedem Menschen und der Menschheit im ganzen gegebenen und befristeten Zeit. Sie ist von Gott seinem Schöpfer her eine Geschichte der Erweisungen seiner Barmherzigkeit. Sie könnte vom Menschen her nur eine Geschichte seines Dankes, seines Gehorsams, seiner Anbetung sein. Der wirkliche Mensch ist, indem diese Geschichte geschieht. Das ist das Wort, das in Jesus Christus über ihn gesprochen ist. Die Aussagen des menschlichen Selbstverständnisses brauchen darum nicht falsch zu sein. Es lehrt die alte und neue Naturwissenschaft oder vielmehr Naturphilosophie, daß der Mensch als ein allerdings sehr besonderes und merkwürdiges Element im kosmisch-terrestrischen, im physikalisch-chemischen, im organisch-biotischen Prozeß des universalen Daseins zu verstehen sei. Es lehrt der Idealismus aller Zeiten, er sei darin Mensch, daß er als erkennendes und moralisches Vernunftwesen sich selbst inmitten des Naturprozesses und ihm gegenüber durchzusetzen und zu behaupten die Freiheit habe. Es lehrt der Existentialismus unserer Tage, er sei, indem er, der in seiner natürlich-geistigen Totalität durch ein übermächtiges Unbekanntes Begrenzte, Bedrohte und Befangene, durch sein Dasein in der Tat sich immer wieder zu transzendieren, d. h. die ihm eigentliche verschlossene Zukunft faktisch aufzubrechen wisse. Das Alles kann auch von der christlichen Botschaft her gesehen wahr sein. Es ist aber von ihr aus gesehen nur wahr, indem es darin eingeschlossen, dem untergeordnet und im Zusammenhang damit verstanden ist, daß der Mensch von Gott her und zu Gott hin ist, daß er als sein Geschöpf ihm und dem ewigen Leben mit ihm entgegeneilt. Alles Andere können doch nur seine Möglichkeiten sein. Menschliches Selbstverständnis umfaßt des Menschen Möglichkeiten, nicht ihn selbst, nicht den wirklichen Menschen. Der Mensch selbst, der wirkliche Mensch, ist, indem der lebendige Gott für ihn und mit ihm ist — sein Anfang und sein Ende. Der wirkliche Mensch ist also in jener Geschichte. Das ist die Basis, von der her die christliche Botschaft mit dem klassischen wie mit jedem anderen Humanismus im Frieden auskommen kann, vielleicht auch mit ihnen in Streit stehen muß.
2. Der Mensch ist in der freien Begegnung mit dem Menschen, in der gelebten Beziehung zwischen dem Einen und seinem Nächsten, zwischen Ich und Du, zwischen Mann und Frau. Ein isolierter Mensch für sich ist kein Mensch. Das Ich ohne Du ist kein Mensch. Der Mann ohne die Frau ist es auch nicht und die Frau ohne den Mann ist es auch nicht. Menschlichkeit ist Mitmenschlichkeit, was nicht Mitmenschlichkeit ist, ist Unmenschlichkeit, wir sind menschlich, indem wir miteinander sind, indem wir uns als Menschen sehen, als Menschen hören, als Menschen miteinander reden, als Menschen uns beistehen und — wohlverstanden, indem wir das gerne und also in Freiheit tun. Im Spiegel Jesu Christi — des Einen, der für alle Anderen ist — ist das menschliche Sein, wie es, vertikal gesehen, nur in der Geschichte zwischen Gott und Mensch wirklich ist, horizontal gesehen notwendig eine Geschichte zwischen Mensch und Mensch. Hier stehen wir vor der Frage, die von der christlichen Botschaft her an allen individualistischen oder kollektivistischen Humanismus alter und neuer Zeit zu richten ist. Sie schließt den Individualismus nicht aus und so auch nicht den Kollektivismus. Sie zielt ja auch auf den Einzelnen und auch auf die Gemeinschaft. Sie meint aber immer den Einzelnen im konkreten Gegenüber zum anderen Einzelnen. Und sie meint immer die Gemeinschaft, die in der gegenseitigen und beiderseitig freien Verantwortung begründet ist. Sie hütet also gegen Nietzsche die Bindung und gegen Marx die Freiheit. Oder heute: gegen den Westen die sozialistische, gegen den Osten die personalistische Wahrheit. Sie ist der unerbittliche Protest gegen den Herrenmenschen und gegen den Massenmenschen. Sie steht und anerkennt menschliche würde, menschliche Pflicht, menschliches Recht nur im Rahmen der Erkenntnis, daß das Sein des wirklichen Menschen ein freies Zusammensein mit seinesgleichen ist.
3. Der Mensch existiert aber — immer von der christlichen Botschaft her gesehen — nicht in der Wirklichkeit, in der er im Verhältnis zu Gott und im Verhältnis zu seinem Nächsten existieren dürfte. Er existiert nicht in der Freiheit, in der er geschaffen ist. wir reden von einem Faktum, für das es keine Erklärung gibt, weil es absurd ist. Aber es ist Faktum: Der Mensch ist neben seinen eigenen weg herausgetreten: dahin, wo er nicht stehen und gehen, sondern nur fallen und stürzen kann. Er wollte Gott nicht als Gott danken, gehorchen und anrufen. Und er wollte Mensch sein ohne seinen Mitmenschen. Er verachtete die Gnade. Er wollte sein wie Gott. Indem er das wollte, sündigte er. Indem er das wollte, blieb er Gott als seinem Anfang und Ziel, blieb er aber auch seinem Nächsten sich selbst schuldig, und zwar völlig schuldig. Indem er das wollte, unterbrach er den Stromkreis, in welchem er mit Gott und seinem Mitmenschen verbunden war. Seine doppelte Lebensgeschichte kam ins Stocken. So ist die menschliche Wirklichkeit eine zerfallende, eine der Nichtigkeit, dem ewigen Tod verfallene Wirklichkeit geworden. Es ist nicht des Menschen Schicksal, daß dem so ist. Er selbst wollte es so, will es immer wieder so. So die Anklage, im Tode Jesu Christi gegen den Menschen erhoben; so das Urteil, das im Tode Jesu Christi über ihn ausgesprochen ist. Der Humanismus Gottes schließt zweifellos auch diese Anklage und dieses Urteil in sich. Der klassische Humanismus meinte es sich leisten zu können, weder diese Anklage noch dieses Urteil gelten zu lasten. Es bleibt abzuwarten, ob ein neuer Humanismus sie gelten lasten wird. Viele Illusionen über die Güte des Menschen und über das Glück seiner Existenz sind uns heute genommen. Aber wenn ich Heidegger und Sartre lese, so frage ich mich, ob der die Gnade verachtende und darum der Gnade entbehrende Trotz des Menschen seiner selbst nicht auch heute ebenso unbelehrbar gewiß ist wie nur je. Müssen und werden aber, wo der Trotz derselbe geblieben ist, nicht auch die Illusionen eines Tages wiederkommen? Die Kirche wird sich jedenfalls der ihr durch die christliche Botschaft gestellten unpopulären Aufgabe nicht entziehen können auch heute darauf hinzuweisen, daß die Gefährdung der menschlichen Existenz größer, sehr viel größer ist, als man es immer wieder wahrhaben möchte. Tu non considerasti, quanti ponderis sit peccatum. Der wirkliche Mensch ist durch sich selbst unendlich, unheilbar gefährdet.
4. Die entscheidende Aussage der christlichen Botschaft ist aber diese: Eben der seiner eigenen Wirklichkeit entfremdete, eben dieser unendlich und unheilbar gefährdete, dieser, was ihn betrifft, einfach böse und verlorene Mensch, ist von Gott — von dem Gott, der wahrer Gott ist und als solcher wahrer Mensch wurde — gehalten. Der Mensch ist untreu. Aber Gott ist treu. Der Tod Jesu Christi ist nicht nur Gottes Anklage gegen den Menschen, nicht nur sein Urteil über ihn. Er ist auch — und er ist sogar zuerst und vor allem — der Sieg und die Aufrichtung der vollen Herrschaft seiner Gnade. Gott ist gerecht. Er läßt seiner nicht spotten, was der Mensch sät, das muß er ernten. Aber Gott selbst hat es auf sich genommen, diese fatale Ernte einzubringen, und Gott selbst hat an Stelle des Menschen, für den Menschen, neue Saat gesät. Gott selbst hat sich unter die Anklage und unter das Urteil über den gottlosen Adam und über den Brudermörder Rain gestellt. Und Gott selbst ist an ihrer, an unserer Stelle, für uns der wirkliche Mensch gewesen, von dessen weg wir abgewichen sind. Gott selbst hat damit das Wort der Vergebung gesprochen, das Wort des neuen Gebotes, das Wort von der Auferstehung des Fleisches und vom ewigen Leben. Daß seine Gnade reine, freie, unverdiente Gnade ist, wird hier unzweideutig. Aber noch wichtiger ist das Andere: hier ist es begründet, und hier wird es offenbar, daß Gottes Gnade bleibt, siegt, herrscht und gilt. Der Humanismus Gottes ist diese freie und gültige Gnade. Die Kirche ist der Ort, wo sie erkannt und verkündigt wird. Aber sie geht alle Menschen, sic geht die Welt an. Sie ist die Wahrheit, von der, ohne daß er es weiß, auch der Jude und der Heide lebt, auch der Gleichgültige, auch der Gottesleugner und Menschenfeind. Sie ist keine „religiöse“, sie ist die universale Wahrheit. Sie ist die «condition humaine», die allen anderen vorangeht. Der klassische Humanismus ist an diese Wahrheit trotz seiner bekannten Verbindung mit dem sogenannten Christentum nie so recht herangekommen. Es bleibt wieder abzuwarten, ob ein neuer Humanismus darin wirklich neu sein wird. So weit er sich bis jetzt bekanntgemacht hat, zeigt er ein merkwürdig zweifelndes und trauriges Gesicht. Obwohl er doch — und vielleicht gerade, weil er von des Menschen Sünde, Schuld und Verderben noch immerzu wenig weiß! Aber wie dem auch sei: nichts kann weniger verschwiegen werden als dies: daß die christliche Botschaft in ihrer entscheidenden Aussage Evangelium ist, frohe Botschaft. Sie geht ja davon aus, daß das Reich zwar noch nicht sichtbar, aber schon gekommen, daß Alles vollbracht ist. Von da aus protestiert sie gegen allen Pessimismus, alle Tragik, alle Skepsis. Sie verbietet dem, der sie hört, ein zweifelndes, trauriges Gesicht zu machen. Sie ist die Botschaft von der Hoffnung, die der böse und verlorene Mensch — nicht auf sich selbst, wohl aber auf seinen Gott setzen und in der er dann auch — und das ist die Voraussetzung aller Ethik — seinen Nächsten lieben darf.
Was soll ich Ihnen aber zum Schluß von der Aktualität der christlichen Botschaft sagen? In einem beschränkteren Sinne dieses Wortes habe ich sie schon kenntlich gemacht, indem ich die christliche Botschaft speziell nach ihrer anthropologischen Seite hin dargestellt und indem ich von Punkt zu Punkt auf ihre Bedeutsamkeit für die Frage nach dem Humanismus hingewiesen habe. Aber der Begriff „Aktualität“ sagt ja nicht nur, daß eine Sache bedeutsam, sondern daß sie lebendig, praktisch, wirksam wird. Und nun steht es mit der christlichen Botschaft so, daß sie außerhalb ihres Ursprungs und Gegenstandes, der Jesus Christus selbst ist — in ihm ist sie ewig aktuell — nur durch ihre eigene Kraft, d. h. nur durch den Heiligen Geist, nur im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung, lebendig, praktisch und wirksam und also aktuell werden will und kann. Ich sprach am Anfang von der bittersüßen Eigenschaft dieser Botschaft, in der sie als eine Entscheidung Entscheidung fordernd auf uns zukommt. Ich könnte Ihnen also die Aktualität der christlichen Botschaft nicht zeigen, indem ich Ihnen jetzt noch irgend etwas vom heutigen Stand und Leben der christlichen Kirchen, ihrem größeren oder kleineren Einfluß, ihren richtigen und weniger richtigen Stellungnahmen erzählen würde. Ich kann Ihnen die Aktualität der christlichen Botschaft überhaupt nicht zeigen, auf keinem Teller präsentieren. Und ich würde Sie mit jedem Versuch dieser Art von ihrer wirklichen Aktualität doch nur ablenken können. Hätte ich hier zu predigen, so müßte ich jetzt wohl fortfahren mit der Aufforderung: „Tut Buße und glaubet an das Evangelium!“ Aber ich habe hier nicht zu predigen, sondern einen Vortrag zu Ende zu führen. Mir bleibt also nichts übrig, als die Sache noch einmal mit Ihnen zusammen gewissermaßen von außen zu betrachten und festzustellen: Ja, darum — um Buße und Glauben — um Bekehrung also — würde es sich allerdings handeln, wenn die christliche Botschaft für die Frage nach dem neuen Humanismus „aktuell“ werden sollte. Und eine Verhandlung über diese Frage würde, um ihrerseits „aktuell“ zu sein, allerdings damit anfangen müssen, daß wir miteinander das „Unser Vater“ beteten und das Heilige Abendmahl feierten, um dann in allen Stücken und unter allen Gesichtspunkten erstlich und letztlich von da aus zu denken und zu reden und um dann sicher mit dem Ergebnis zu endigen, daß der neue Humanismus, um wirklich neu zu sein, nur der Humanismus Gottes sein könne. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich mich hüte, hier diesen Vorschlag zu machen, daß es mir vielmehr bewußt ist: das ist zu viel verlangt. Ich sage es auch nur, um in aller Ruhe und Heiterkeit in letzter Zuspitzung deutlich zu machen, wie es aussähe, wenn die christliche Botschaft hier oder anderswo plötzlich „aktuell“ werden sollte.
Vortrag gehalten an den «Rencontres Internationales» in Genf, 1. September 1949.
Quelle: Karl Barth, Humanismus, Theologische Studien 28, Zollikon-Zürich: EVZ, 1950, S. 3-12.