Das Schreien vor Gott. Predigt über Lukas 18,1-8
Von Christoph Blumhardt
Dieses Gleichnis ist sehr bezeichnend für das Werden des Reiches Gottes, und zwar auf Erden, — um das handelt es sich ja in Christus. Auf Erden liegt die Schwierigkeit; bei Gott liegt keine Schwierigkeit, in seinen Regionen ist alles in Ordnung. So weit wir in diese Gottes-Regionen Hineinschauen können, müssen wir auch immer nur staunen über die wunderbaren Ordnungen, über die Freiheit, in welcher Sonne, Mond und Sterne und das ganze Himmelsgewölbe sich bewegt, und doch über die Gebundenheit an das, wie es sein soll, damit alles lebe und sein Recht habe, das Kleinste wie das Größte. So haben wir es auch im kleinen auf unserm kleinen Erdball, wir sehen da in die Werke Gottes hinein, in das, wo Gott waltet; wir sehen ein wenig ins Innere der Erde hinein, in das Gefüge der Steine; wir sehen auf die Oberfläche, in das Wachstum der Pflanzen, in das Gedeihen der Tiere, und überall sehen wir die größte Freiheit und die größte Ordnung. Jedes Pflänzchen ist sozusagen ein Gotteswunder, und jeder Organismus, wenn wir ihn betrachten, ist eine Gottesherrlichkeit; das kleinste Federchen am kleinsten Mückchen ist eine Pracht und ein Gotteswerk, über alles groß und schön und herrlich. Da fehlt es also nicht, da liegt keine Schwierigkeit; wir leben in einer herrlichen Gottessphäre, und wir können uns dieses Gottesreichtums freuen alle Tage.
Aber auf Erden, das heißt bei den Menschen, da will es noch nicht recht gehen; nicht als ob unser Organismus ein geringerer wäre als der einer Pflanze oder eines Tieres, als ob die Ausstattung des Menschen weniger herrlich wäre als die Ausstattung eines Elefanten, eines Tigers, eines Löwen oder eines Vogels; aber es ist in uns selbst ein verkehrter Wille. Kurz gesagt: das, was inwendig in uns ist, das will zur Ordnung noch nicht passen, wir können uns selbst nicht recht in die Gottesordnung hineinbringen, für die wir doch geschaffen sind. An diesem Menschenpünktchen in der großen weiten Schöpfung fehlt die Gottesherrlichkeit, das Gottesrecht. Es ist ja nur ein ganz kleines Pünktchen, aber genug — wenn am schönsten Organismus ein Punkt schmerzhaft ist, so ist der ganze Organismus im Leiden. So sehen wir uns Menschen, die ganze menschliche Gesellschaft, wie sie miteinander lebt, wie auch den einzelnen Menschen mehr oder weniger, aber durchweg, im Leiden; aber nicht so, daß der Mensch gleichsam im Leiden unterginge. Es beweist sich auch in diesem Leiden noch die Herrlichkeit Gottes am Menschen insofern, als er ringt und kämpft; er kann es sich nicht gefallen lassen, es darf nicht sein, und wenigstens einzelne unter den Menschen und Menschengeschlechtern und Menschenvölkern, die ringen und kämpfen mit Verderben und Tod und mit allem, was ihnen begegnet. Die Herrlichkeit Gottes in ihnen sagt ihnen: Strebet aufwärts! es soll nicht so sein, zum Elend seid ihr nicht geschaffen, ihr sollt selig sein.
In dieses Ringen hinein steht Jesus Christus; da, wo sie scheinbar verloren sind, wo sie in Sünde, in Verderben und in Unsicherheit, in Todesnöten und Todesqualen ringen und kämpfen, da steht Jesus mannhaft hinein und sagt: „Zu euch ringenden Menschen gehöre ich, und euch ringenden Menschen will ich den Weg zeigen, denn ihr sollt die Führer der Menschheit werden, damit das schwarze Pünktchen in euch Helle werde und euer Wille mit Gottes Wille übereinstimme, eure Herrlichkeit in Gottes Herrlichkeit hineinkomme und euer Leben in das große Gottesleben hineinpaßt.“ So steht Jesus unter uns und gründet eine Gemeine; er sammelt ringende Menschen, kämpfende Menschen. Kein Wunder, daß er sie als eine Witwe schildert, denn sie haben eigentlich eine Herrlichkeit, aber sie ist ihnen geraubt; sie stehen mitten in Gottes Welt und können sie nicht genießen, gerade wie eine Witwe, der der Mann gestorben ist; — was tut sie mit allem? Es ist heute noch so in der Welt, früher aber noch viel mehr zu Jesu Zeiten: eine Witwe gilt nichts; ob man wohl in der herrlichsten Welt lebt und unter viel glücklichen Menschen, eine Witwe hat wie kein Recht. So sind die Menschen, die um Jesus herum sind, rechtlos; sie werden eigentlich durch ihn erst rechtlos, insofern sie Licht bekommen über ihren Zustand. Andere Menschen, die nicht mit Jesus sind, die täuschen sich über ihre Situation weg; es kommt ihnen oft vor, als ob sie doch reich wären, als ob sie sich doch alles untertan machen könnten, als ob sie doch glücklich werden könnten; und sie jagen und hasten nach allen möglichen Richtungen um es zu beweisen, daß sie auch noch da sind, aber sie täuschen sich. Über kurz oder lang müssen sie sehen, daß sie zwar da und dort mit Gewalt etwas unter sich bekommen können, mit ungeheurer Anstrengung, mit Anwendung von Geistes- und Körperkraft ein Weltstück unter ihre Füße bekommen; aber sie müssen Gewalt anwenden, sie müssen sozusagen Blut vergießen, damit sie leben, sie müssen die Herrschenden sein und müssen rücksichtslos sein und müssen andere Menschen vergewaltigen, nur damit sie existieren können; damit sind sie noch nicht in die Herrlichkeit Gottes gekommen, damit schlagen sie sich bloß eine Zeitlang herum und leben eine Weile, und schließlich lahmt ihre Kraft, ihr Körper lahmt, ihr Geist lahmt, ihr Gemüt lahmt, und ehe sie es sich versehen, war alles nichts. So gehen sie wieder aus der Welt hinaus, sie haben als Herrscher, als Gewaltige vielleicht einen Namen gehabt unter den Menschen eine Zeitlang, aber inan geht über sie hinweg, wie wenn sie gar nicht dagewesen wären. Also, die Leute tauschen sich, sie meinen, sie haben es, und haben es nicht. Bei Jesus wird man rechtlos, aber man sieht, wie es ist; wir erkennen es: Ja, es ist wahr, das, was in uns Wille ist und Bewußtsein ist und Leben ist in uns Menschen, das paßt nicht hinein. Jedes Pflänzchen paßt hinein in die Ordnung, für die es geschaffen ist; jedes Tier paßt hinein in die Ordnung, für die es geschaffen ist, und wir Menschen passen nicht hinein. „Wo ist unser Recht? wo ist unser Menschenrecht?“ so schreien sie, wie die Witwe schreit: „Wo ist mein Recht?“
Liebe Freunde, wenn wir keine schreienden Menschen sind, um die Menschenrechte vor Gott schreiende Menschen, dann sind wir nicht bei Jesus. Ich kann den Frieden nicht leiden, der sich in alles schickt. Es gibt heidnische Religionen, die Großes ausgerichtet haben, und die wirklich mit großer menschlicher Intelligenz ausgedacht waren; sie lehren den Menschen die Resignation, wie man sagt, — sie sollen sich in alles schicken, sie sollen sich in alles ergeben, und das nennt man dann auch Religion. Aber bei Jesus gibt es keine Resignation, mit Jesus sucht man sein Recht, in Jesus soll man gerechtfertigt werden; in Jesus sucht man aber nicht nur sein Recht, sondern man sucht auch das Recht anderer Menschen, in Jesus bildet sich eine Gemeine, die um die Menschenrechte schreit. Das ist die Witwe, und sie soll schreien, sie soll sich nicht müde machen lassen, sie soll auch laufen und rennen und soll tun, was sie kann, mit aller Energie. Es muß den Menschen ihr Recht werden, das Recht, daß sie in Gottes Welt selig leben dürfen. Ob sie selig leben aus Erden oder im Himmel, ist ganz gleichgültig, — denket euch nicht, daß, wenn man stirbt, man sofort in die Herrlichkeit Gottes hineinkommt; wir können auch als gestorbene Menschen sehr unfertig sein und rechtlos, im jenseitigen Leben wie im diesseitigen; wir müssen eben Recht haben, in die Herrlichkeit Gottes zu kommen lind in der Herrlichkeit unser Leben zu haben; seien wir im Himmel, seien wir auf Erden, seien wir wo wir wollen, und seien wir Menschen, welche wir wollen, haben wir einen Stand und Beruf, welcher es auch sein mag — jeder Mensch soll als Mensch in die Herrlichkeit Gottes eingereiht werden. So dürfen wir schreien, und dafür sollen wir kämpfen; das ist unsere Aufgabe, es nie zu vergessen, daß wir dürfen in Gottes Herrlichkeit hinein.
Wer hat uns das Recht gegeben, so kühn zu reden? Das ist Jesus. Ich kenne niemand außer Jesus, der so ganz den Menschen Recht gegeben hat. Es ist sonderbar, daß dieser Mann so ins Dunkel gestellt werden konnte. Heute gibt es viele Christen, die meinen, Jesus nehme uns das Recht, — mißverstandene Auffassungen voll der Gnade Gottes, die führen dahin, daß wir fast wieder heidnisch werden; da fühlen sich viele Menschen wie rechtlos gestellt, weil Jesus einmal gesagt hat: „Verleugne dich selbst bis an den Tod.“Aber das heißt: „Verleugne dich, damit du zu deinem Recht kommst.“ Er ist die Persönlichkeit, die unser Recht vertritt und die uns die Macht gibt und auch die Gelegenheit schafft, daß wir um unser Recht kämpfen dürfen und kämpfen können. Deswegen werden wir im Glauben an diesen Jesus gerechtfertigt, recht haben wir; in Jesus will ich recht haben, und in Jesus mußt du auch recht haben, — so steht es.
Nun ist es weiter bezeichnend in diesem Gleichnis, daß Jesus den lieben Gott sozusagen identifiziert mit der ungerechten Welt, — die Witwe steht einem ungerechten Richter gegenüber. Es ist das so lieb vom Heiland, daß man es gar nicht ausdrücken kann, daß er uns gleichsam sagt: „Gott ist da drin in dieser ungerechten Welt, suchet ihn.“ Alles gibt euch Unrecht, die ganze menschliche Gesellschaft gibt euch Unrecht, die Richter geben euch Unrecht, jeder sucht das Seine und frägt nicht nach dem andern; jeder geht eben im Kampf um das Dasein seine eigenen Wege, — was kann er sich um den andern kümmern? Da sieht es immer aus, als ob der liebe Gott alles zugrundegehen lassen würde. So stehen wir als rechtlos in der ungerechten Welt, und viele Menschen schreien: „Gibt es denn keine Gerechtigkeit? ist denn kein Gott im Himmel? muß ich denn so elend zugrundegehen? soll ich denn zu gar keinem Rechte kommen?“ Da sieht es immer aus, als ob der liebe Gott in der Ungerechtigkeit stecken würde, wenn oft Leute schreien: „Ach Gott, fragst du denn gar nichts nach uns?“ während sie von der Welt geplagt werden, während sie kein Recht bei den Menschen finden. Wenn sie es sozusagen auf den lieben Gott schieben, so ist das ein Beweis, daß sie doch innerlich das gefühlt haben: Von Gott muß mir Recht werden. Man muß es den Menschen nicht so arg übelnehmen, wenn sie sagen: „Hilft mir denn Gott gar nicht? kann es denn gar nicht anders werden?“ Denn der Heiland läßt hier auch die Witwe zu dem ungerechten Richter laufen, immer wieder muß sie zu ihm sagen: „Du, du mußt mir helfen!“ So dürfen wir gleichsam auch in der ungerechten Welt zum lieben Gott sagen: „Du mußt mir helfen!“ Ja, du Welt mußt dich herumdrehen, du Welt mußt mir mein Recht geben, denn du bist in Gottes Hand, und weil Gott durch dich hindurch seinen Willen tun will, so hat es einen großen und guten Sinn, daß uns der liebe Gott in der ungerechten Welt und in den ungerechten Weltherrschaften stecken läßt, bis wir diese ungerechten Weltherrschaften herumgedreht haben und die ungerechten Herrschaften zu Gottesherrschaften geworden sind, bis die ungerechten Herrschaften nichts mehr gelten und die gerechten Herrschaften Gottes überall gelten.
Wir dürfen also mitten in der ungerechten Welt Gott suchen. Es ist das nicht unwichtig, wenn wir gleichsam unter dem vielerlei, was uns umgibt, immer Auslese halten und auf dem Boden der ungerechten Welt den lieben Gott suchen. Da muß ich ihn suchen, ich kann nicht in den Himmel hinauf, — du vielleicht? Ich nehme es dir nicht übel, wenn du in den Himmel hinaufsteigen kannst; ich kann es nicht, ich muß da, wo ich lebe, wo es mir so bitter schwer wird, wo mir die Leute alle möglichen Prügel in den Weg werfen, wo ich kämpfen und ringen muß, gerade da muß ich den lieben Gott suchen; dort, wo es aussieht, als ob es gar nicht mehr anders werden könnte, dort, wo die Menschen sich gegenseitig ihre Rechte nehmen und nach dem lieben Gott wie gar nicht fragen, dort, wo sie keine Liebe, keine Barmherzigkeit, kein Rechtsbewußtsein mehr haben, wo sie nur ihrem Eigennutz dienen, wo sie ihre eigenen Wege gehen, gerade da, wo die elendesten Zustände herrschen, da mitten drin in diesem unseligen Getriebe muß ich Gott suchen.
Aber da gibt es dann rechten Kampf und Schreien um das Recht in der Liebe Gottes; denn wenn ich dort, wo die falschen Rechte sind und die falsche Gerechtigkeit ist, Gott suchen muß, so darf ich natürlich nicht ohne Liebe in diese Welt hineinlaufen; und wenn sie mich anspeien und wenn sie mich hauen und beleidigen, wenn sie mich ins Gefängnis werfen, wenn sie mir den Leib nehmen, so muß ich dennoch sagen: Ich sehe nicht auf diese Beleidigungen, ich suche selbst bei euch noch den lieben Gott. So hat Jesus unter seinen Mördern Gott gesucht, Jesus hat unter seinen Foltern den Vater im Himmel gesehen und hat gesagt: „Ich gehe des Vaters Weg, ihr könnt mir nichts anhaben“; so hat er geschrien zu Gott: „Du bist mein Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ Er hat das Recht Gottes mitten in der ungerechten Welt, mitten unter Dieben und Mördern, unter Frommen und Unfrommen, er hat das Recht Gottes gewahrt. Was sollen wir tun? Sollen wir es machen wie gewisse fromme Leute, die immer nur über die Welt schnupfen, die sich gerne wollten von der Welt trennen, daß sie die Welt in die Hölle werfen? sollen wir alles wegwerfen und in den Himmel fahren und nichts mehr suchen auf Erden? Wahrlich nein! wir suchen es auf Erden mitten unter den bösen Menschen; mitten unter der Ungerechtigkeit der Welt, da »vollen wir ringen, da wollen wir kämpfen, da wollen wir unser Recht suchen, da wollen wir sagen: Ihr müßt uns unser Recht geben, denn nicht ihr seid es, — Gott ist es, der herrscht auf Erden; und wenn ihr heute noch so viel Ungerechtigkeit an euch habt und alles mögliche als Diebe und Mörder, so sage ich doch zu euch: Ihr müßt mir helfen, denn Gott ist mit euch; ich kann euch nicht verwerfen; ihr seid ja bloß verwirrte Menschen, aber Gott hat das Recht an euch, darum werdet ihr selber euch umwenden, ihr selber werdet die Gefäße der Gerechtigkeit Gottes, und die Welt selber muß in der starken Hand des gerechten Gottes der Gemeine Jesu Christi zuletzt helfen.
Ist das wahr? Das muß wahr sein, sonst würden wir einem Ideal nachjagen, welches niemals sich verwirklichen laßt. Können wir die Welt nicht so umwenden, daß sie den Willen Gottes tut, dann streben wir umsonst nach dem Himmelreich; aber wir streben eben nicht umsonst, und wir dürfen die Hoffnung haben, daß Gott uns rettet in einer Kürze. Aber wir müssen feste Leute sein, — weichliche Leute bringen nichts zuwege in der Welt; wir müssen das Ziel, welches uns gesteckt ist, ganz klar im Auge haben. Was wollen wir? was wollt ihr Christen überhaupt? Ich möchte es allen ins Gesicht rufen: Was wollt ihr denn? was laufet ihr denn so fromm da herum? wollt ihr leben wie andere Menschen und eurem Egoismus, eurer Selbstsucht leben? wollt ihr euch einbilden, ihr könnt es durchbringen auch ohne die andern? wollt ihr wieder von Jesus weg und gerade so blinde Menschen werden wie die andern? was wollt ihr denn, ihr Christen? wollt ihr in euren Kirchen sitzen und es euch da gemütlich machen, wie die andern Leute in ihrem Geld? wollt ihr hinsitzen und euch erbauen, wie andere in ihrem Theater? zu was seid ihr denn da, ihr Christenleute? Ihr seid zu nichts anderem da, als daß ihr das Reich Gottes herschreiet, d. h. daß ihr das Reich Gottes den Menschen geben wollt, und daß ihr in der ungerechten Welt voll Glaube, voll Mut, voll Ausdauer steht und sagt: „Es muß werden, ich lasse eher mein Leben, als daß ich von diesem Ziel abgehe.“ Dazu seid ihr Christenleute da. Was sitzet ihr denn so traurig und elend herum und jammert an euch herum und schimpfet und tadelt Welt und Gott? Ihr seid nicht bei Jesus, wenn ihr nicht mannhaft hinsteht und dieses Gottesziel im Auge habt, daß die Menschen zu ihrem Gottesrecht kommen und alle Menschen dürfen in der Herrlichkeit Gottes leben.
Wenn wir solche Menschen sind, mit diesem Ziel im Auge, dann kann uns Gott erretten in einer Kürze. Er kann es nicht, wenn wir es nicht wollen; er kann es gewiß nicht, wenn wir diesem Jesus den Rücken drehen; es geht nicht, wenn wir einen andern Christus predigen. Prediget einen Himmels-Christus noch einmal 2000 Jahre — es geht nicht! prediget einen Kirchen-Christus — es geht nicht! prediget einen Gemeinschafts-Christus und einen Seligkeits-Christus — es geht nicht, die Welt wird nicht anders! Wir müssen den wahrhaftigen Christus haben, der auf Erden den Menschen das Recht geben will, und dann kann uns Gott erretten in einer Kürze. Jeder, der so zu seinem Recht kommen will in der Liebe Gottes zu allen Menschen und der andern Menschen ihr Recht geben will, wird sofort, sofort, bis ins Kleinste hinein Errettung erfahren. Dafür will ich einmal Zeuge sein im Himmel und unter allen Kreaturen; wenn mir jemand sagt, Gott habe nicht in einer Kürze errettet, dann will ich sagen: Du lügst! ich bin auch ein Mensch gewesen, der fast verzweifelt ist, der auch in Jammer und Not gewesen ist wie vielleicht wenige; man hat mich auch auf den Boden gelegt und hat gesagt: „Da bleib‘ liegen und laß dir alles gefallen!“ aber schließlich habe ich gesagt: Nein! ich lasse es mir nicht gefallen! — und sofort war Errettung da. Und wenn wir im Namen der Menschen, nicht nur für uns selbst, nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse der ganzen Welt, die doch Gottes ist, aller Völker, die Gottes sind, und der ganzen Erde, die Gottes ist, — wenn wir im Namen dieser seufzenden Kreatur Rechte fordern und sagen: „Du Gott bist Gott!“ — sofort ist Errettung da. Es jammern viele um mich herum und seufzen und klagen und wollen, daß ich für sie bete — es geschieht nichts; und andere, die springen wie eine Springflut in die Höhe, wenn sie es merken, daß Jesus ihr Recht ist bei Gott, und wenn sie von Jesus sich taufen lassen in der Gottesliebe, mit der er unter allen Menschen gelebt hat. Glaubet es mir, meine Lieben: Daß ihr die ungerechte Welt verdammet, daß ihr Haß, Neid, Geschrei gegen die Ungerechten habet, daß ihr die Feinde nicht lieben könnt, daß ihr nicht mannhaft das Ziel für die größten Sünder festnehmt, daß ihr Höllen errichtet, statt Leben und Lebensfreude — das ist der Grund, weswegen ihr nicht errettet werdet. Es gibt keine Errettung, wenn wir nicht auf dem Wege Jesu sind; wenn wir hartherzige, lieblose Leute sind, wenn wir nur unser eigen Leben durchschlagen wollen und anderer Leben verachten und gering schätzen, dann gibt es keine Errettung. Sind wir aber bei Jesu, der für die Welt das Leben gibt, der sein Blut vergießt für die Sünder, sind wir mannhaft und sagen: Blut hin, Blut her, das Recht muß den Menschen werden, dafür sterbe ich, sei es auch am Kreuz in den größten Qualen — dann ist die Errettung da, dann ist die Auferstehung da, dann ist das Leben da.
Ja, meine Lieben, dieses Evangelium müssen wir wieder neu verkündigen und neu hören lernen. Die Leute sind an das altmodische Christentum so gewöhnt, man predigt ihnen eine Art Religion und macht sie ruhig, und da liegen sie immer auf ihrem alten Strohsack herum. Aber wir müssen aufwachen vom Schlafe, wir müssen uns rühren, und nur müssen wissen: Jesus ist unser Rechtsinhaber, unser Verteidiger, und er laßt uns nichts geschehen, und auf seiner Seite stehen wir. So müssen wir ganz besonders in unserer Zeit stehen, denn in unserer Zeit kommt der Schrei der seufzenden Kreatur mehr an unsere Ohren, als in anderen Zeiten es an der Menschen, auch der Christen Ohren gekommen ist. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, wie sie so taub sein konnten in den früheren Jahrhunderten; man hat gar kein Mitleiden gehabt, man hat können Menschen opfern für alles mögliche; man hat sie um ihres Glaubens willen getötet, um der Staaten willen, um der Ziele nullen, die irgendein König oder Kaiser hatte; man hat den Schrei gar nicht gehört. Heute schreien alle seufzenden Kreaturen, ich möchte fast sagen von der unsichtbaren Welt, wie von der sichtbaren Welt, alles schreit, alles will zu seinem Recht kommen. Auch in der menschlichen Gesellschaft hat es sich jetzt so gemacht, sie wollen zu ihrem Recht kommen, und da gibt es allerdings in den Weltreichen Krieg und Blutvergießen, leider! Sie kennen den Christus nicht, der ihnen auf anderem Weg als auf Kriegswegen das Recht verschafft. Aber sie wollen doch ihr Recht, und das ist das Gotteszeichen — ich möchte sagen das Zeichen des Menschensohnes auf Erden — daß sich nun die Menschen ihr Recht denken können, nicht nur daß sie darum schreien, sie können es sich heute auch schon vorstellen: es wird! Darum gibt es große Mengen, die in großer Not und großer Trübsal sind und darin Hoffende und Ringende sind; sie sagen: Wir können es uns denken, auch wir kommen noch zu unserm Recht. Das ist das Zeichen des Menschensohnes in unserer Zeit, und darauf müssen wir achten, und wir müssen darauf eingehen, und nichts muß uns lieber sein, als wenn irgendein Mensch uns begegnet und sagt: „Du, ich will mein Recht!“ und wenn es mir ins Fleisch hinein schneidet, und wenn es mich Verleugnung kostet, wenn einer zu mir sagt: „Ich will mein Recht wie du“, so muß ich sagen: Ja, du sollst es haben. Insofern sagt Johannes, wir sollen unser Leben für die Brüder lassen; wenn einer zu mir sagt: „Ich will mein Recht“, gut, dann soll nicht mein Profit gelten, nicht das, was mir jetzt am Herzen liegt, es soll das geschehen, was recht ist für den Menschen. Es gibt freilich auch Leute, die fordern etwas mit Unrecht, Sachen die ihnen gar nicht gehören, aber das muß doch untersucht werden, und es muß alles aufgeboten werden im Privatleben und im öffentlichen Leben, damit die Leute zu dem ihnen gehörenden Recht kommen. Dann gehören wir zu der Witwe, die schreit Tag und Nacht. Das ist nicht ein faules Hinsitzen und Beten, sondern es ist ein handelndes Leben, das Tag und Nacht schreit; ich muß Tag und Nacht ein tätiger Mensch sein für die Rechte des Menschen an die Herrlichkeit Gottes, Tag und Nacht bemüht, das ungerechte Wesen da oder dort, wie es eben kommt, wegzuschieben, damit da oder dort ein Mensch aufatmen kann in seinem Gottesrecht, eine Gesellschaft aufatmen kann in einer Hoffnung auf Gottes Recht. Dazu müssen wir beten, und das drückt sich aus in kraftvoller Energie, die wir persönlich immerfort Tag und Nacht beweisen, mitten in der menschlichen Gesellschaft, mitten in der Welt, in welcher wir oft schreien müssen, weil es uns an Recht gebricht; dann sind wir schon Kämpfer für das Recht der andern.
„Doch, wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, daß er Glauben finden wird auf Erden?“ Wenn dieser Jesus kommt, werden sie ihm dann glauben? Ja, wenn ein Jesus kommt, der ihnen sagt: „Schlaget die andern tot und seid ihr selig“, dann glauben sie; wenn aber dieser Menschensohn kommt — er heißt hier nicht Gottessohn, sondern ausdrücklich Menschensohn — wenn dieser richtige Mensch kommt, der jedem Menschen sein Recht geben will, der dir nur das Recht gibt, wenn du andern auch das Recht geben willst, der verlangt, daß wir alle uns verleugnen, damit alles Menschenvolk zu seinem Recht komme; wenn der Menschensohn kommt, der die Elenden und Armen aufhebt aus dem Staub und der die Hohen und Stolzen demütigt, wenn der Jesus kommt, der den Sünderstolz und Menschenstolz nicht mehr herrschen läßt, sondern Gottes Herrlichkeit zur Herrschaft bringen will — meinst du, der Jesus finde auch Glauben? Der andere Jesus, der Herrscher eingesetzt hat, die andere Menschen gebunden haben, der Papst-Jesus und der Herrscher-Jesus, der findet Anhänger genug; aber der Jesus, der Menschensohn Jesus? — Ja, der muß auch noch Glauben finden, wir geben die Hoffnung nicht auf. Dem Heiland ist es bange, ob der Jesus noch Recht findet, Glauben findet auf Erden. Wir wollen ihm Glauben schenken, dem Jesus wollen wir unser Herz und Leben weihen, diesem einen Jesus, der allen Menschen helfen will, soll die Glut unserer Tatkraft gelten; wie Feuersäulen wollen wir in der Welt hinstehen für ihn, damit ihm die Ehre werde im Himmel und auf Erden und unter der Erde und daß alle Menschen erkennen, daß in diesem Jesus ihr Heil ist.
Gehalten am 15. Oktober 1899.
Quelle: Christoph Blumhardt, Ihr Menschen seid Gottes! Predigten und Andachten aus den Jahren 1896 bis 1900, hrsg. v. R. Lejeune, Zürich-Leipzig, Rotapfel-Verlag, 1928, S. 356-367.