Ernst Wolf, „Jesus Christus, mein HERR“ – die „Sache“ der Reformation (1967): „Ausgeschlossen ist nämlich, daß die Christengemeinde ihre Mitverantwortung für Staat und Gesellschaft überhaupt anders vollziehen könnte als von ihrem Grund, vom Wort Gottes her. Ausgeschlossen also, daß sie es etwa versuchte, mit sogenannten christlichen Konzeptionen, Ideologien, Programmen oder Parteien. Ausgeschlossen ist vor allem, daß die Kirche ihre Mitverantwortung für die Gesellschaft ergreift, um ihre eigene Sache wirksam zu vertreten. Sie, die Kirche, vertritt in der Öffentlichkeit nicht sich selbst, sondern mit ihrem Zeugnis ihren Herrn.“

„Jesus Christus, mein HERR“ – die „Sache“ der Reformation

Von Ernst Wolf

Wird man vor die Frage gestellt, was die Reformation der Christenheit und der Welt gebracht, was man ihr bewußt oder unbewußt zu danken habe, so lautet in unseren Gemeinden, im evangelischen Religionsunterricht, auch darüber hinaus die durch­schnittliche Antwort, wie man sie bereits damals etwas summarisch gegeben hat: Lautere Verkündigung des Evangeli­ums und schriftgemäße Verwaltung der Sakra­mente; oder man spricht von der Rechtfertigungslehre als dem wesentlichen, entschei­denden Stück grundlegender reformatorischer Entdeckung. Alles wohl richtig, aber jene erste Antwort ist etwas zu formal: Was heißt denn „lautere Evangeliumsverkündigung“ inhaltlich? Was macht schriftgemäße Sakramentsverwaltung sachlich aus? Und die andere Antwort – Rechtfertigungslehre – wiederholt eine Formel, die der damaligen theologischen Schulsprache zugehört und für viele von heute etwas rätselhaft bleibt.

Gibt man die Antwort mit der Formel: „Jesus Christus mein Herr“, dann soll das jene üblichen Antworten deutlicher und lebendiger machen.

I

Die Hauptfrage Luthers war die Frage nach der wahren Kirche Jesu Christi, genauer, was es heiße, „in und von“ der wahren Kirche zu sein, worauf sich das begründe, was das herbeiführe. Alle Fragen und Antworten Luthers, die auf Glauben und Heil des einzelnen bezogen erscheinen, etwa die berühmte Klosterfrage: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“; oder die etwas legendäre Antwort in Worms: „Hier stehe ich. ich kann nicht anders. Gott helfe mir“ (an der nur der gewöhnliche Predigtschluß „Gott helfe mir. Amen“ echt sein dürfte), alle diese Fragen und Antworten sind stets bezogen auf jene Frage nach der wahren Kirche, in die hinein freilich Gott den ein­zelnen bei seinem Namen ruft.

Darum hat Luther es auch abgelehnt,[1] lediglich einen „Orden“, eine Gemeinschaft mit besonderer abgesonderter Frömmigkeit zu bilden, wie im Mönchtum, sondern er hat in Auseinandersetzung mit dem Kirchenwesen seiner Zeit eine Reformation der Kirche angestrebt, von dem Grund ihres Wesens her, vom wirksamen Wort Got­tes aus, eben nicht nur im Bereich theologischer Lehrtätigkeit als Professor, sondern sehr bewußt dem „Volk“, der Gemeinde zugewandt, freilich auch hier streng vom Er­trag seiner theologischen Arbeit aus.

Die Annahme, daß man Luthers „Sache“ hier, in der unmittelbaren Zuwendung zum Volk, noch etwas deutlicher vor Augen bekommen könne als bei der theologischen Arbeit, daß es aber hier wie dort um dasselbe gehe, trügt auch nicht. Seine Schriften zum Neubau der Gemeinde verraten aber alle den strengen theologischen Hinter­grund, ohne den sie nicht sein könnten, und sie sprechen zugleich eine Sprache, die man, damals wenigstens, für sich wohl verstehen konnte. In ihnen faßt sich häufig das ganze reformatorische Anliegen knapp zusammen.

Das bekannteste Beispiel sind die „Katechismen“, in denen Luther die seit Jahrhun­derten überlieferten und gelehrten Lehrstücke neu auslegt. Wir greifen die Aus­legung des „Glaubens“, des Credo, nämlich des sog. Apostolischen Glaubensbekennt­nisses heraus und in ihm den sogenannten zweiten Artikel, den er „Artikel von der Erlösung“ überschreibt: „Und an Jesum Christum, seinen einzigen Sohn, unsern HERRN, der empfangen ist vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrauen Maria, gelitten unter Pontio Pilato, gekreuziget, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hellen, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sit­zend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.“

Auf die Frage „Was ist das?“ – auf die Frage, was diese ebenso reichen wie mannig­faltigen Aussagen des dem 2. Jahrhundert entstammenden altkirchlichen Bekenntnis­ses meinen, heißt es dann: „Ich glaube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geborn und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrauen Maria geborn, sei mein HERR, der mich verlornen und verdammpten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen und von allen Sunden, vom Tode und von der Gewalt des Teu­fels nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und seinem unschuldigen Leiden und Sterben, auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihme diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auf erstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit; das ist ge­wißlich wahr.“[2]

Was das altkirchliche Bekenntnis zur Geschichte des Jesus Christus mit seinen Sätzen aussagt, ist hier konzentriert und – wenigstens auf den ersten Blick – reduziert auf die Aussage: „sei mein HERR, der mich … erlöset hat, … auf daß ich sein eigen sei“.

„Der große Katechismus“ gibt die Erläuterung dieser Konzentration und unterstreicht, daß es Luther beim zweiten Artikel wesentlich auf die Aussagen ankommt: „an Jesum Christum, unsern HERRN“, oder – als Inhalt des Christusglaubens zusammengefaßt – „Ich gläube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gottessohn, sei mein HErr worden“, und zwar Herr geworden dadurch, „daß er mich erlöset hat von Sunde, vom Teufel, vom Tode und allem Unglück. Denn zuvor habe ich keinen Herrn noch König gehabt, sondern unter des Teufels Gewalt gefangen, zu dem Tod verdammpt, in der Sunde und Blindheit verstrickt gewesen“. D. h. Jesus Christus wird mein Herr, indem er mich aus der Gewalt jener Mächte befreit dadurch, daß er an ihre Stelle tritt als „ein Herr des Lebens. Gerechtigkeit, alles Guts und Seligkeit.“[3] Das erinnert an jenes alte Christuslied, das Paulus in Phil. 2 benützt: „Ein jeglicher sei gesinnet [so Luther], wie Jesus Christus auch war: welcher, ob er wohl in gött­licher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern ent­äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward ge­horsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.

Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Him­mel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Dieser mythische Hymnus, der zum Urbekenntnis der Christenheit hinführt: Kyrios Iesous Christos, sagt aus, daß dieser Gehorsame der Kosmokrator ist, der Herr der Welt; daß Christus an die Stelle des Schicksals, der Gewalt der überirdischen Mächte getreten ist, daß der im irdischen Sklavenstand ganz Gehorsame eben darum zum Herrn der Welt erhöht wurde; sein Gehorsamshandeln geht die ganze Welt an, „er ist fortan ihr Herrscher und Richter … Er setzt das Schicksal des Alls und jedes ein­zelnen Wesens“,[4] weil er kraft seines Gehorsams die dämonischen Mächte überwun­den hat, die sich der Herrschaft über Gottes Welt bemächtigt hatten.

Das Christusbild der Ostkirche zeigt immer wieder den Kosmokrator, den Erhöh­ten, dem die Repräsentation Gottes der Welt gegenüber übertragen ist. Luther blickt weniger darauf, auf diese weltüberlegene Herrlichkeit, es geht ihm darum, „daß das Wortlin ‚HERR‘ aufs einfältigste so viel heiße als ein Erlöser, das ist, der uns vom Teufel zu Gotte, vom Tod zum Leben, von Sund zur Gerechtigkeit gebracht hat und dabei erhält“, daß er Mensch geworden sei „auf daß er der Sunden Herr wäre“, daß er gelitten habe, gestorben und begraben sei, „daß er für mich genug täte und bezahlete, was ich verschuldet habe“ … „Und dies alles darüme, daß er mein HERR würde“[5] – Für Luther liegt der Ton ganz und gar auf der Sündenvergebung. Das ist die Mitte der neuen, der reformatorischen Christusverkündigung. Man be­greift dieses entscheidend Neue auf dem Hintergrund des Alten.

In der westlichen Christenheit hat das Bild des Sünde und Tod überwindenden Kosmokrator sich gleichsam zerteilt. Man hielt zwar den Gedanken fest, daß der Kreuzestod als die große Genugtuung an Gott, als das erlösende Sühnopfer für die Sünden der Welt zu gelten habe, aber die Gnadenfrüchte dieses Opfers seien der Kirche übergeben, damit diese sie durch Ausspendung der Sakramente den Gläubi­gen je nach Verdienst und Würdigkeit zuteile. Man hielt auch den Gehorsamen fest als Vorbild eines Wandels in Demut und Liebestätigkeit. Man stellte dazu drittens den Weltenherrn als den strengen Richter des Endgerichts; in dieser Gestalt begegnete Christus den Gläubigen des späten Mittelalters am eindrucksvollsten und erschreckendsten und drängte ihn, seine Zuflucht zu Maria vor allem und zu den Heiligen als Mittlern zu nehmen.

Dieses Christusbild machte einst Luther – er hatte es auch z. B. an der Wittenberger Marktkirche stets vor Augen – viel zu schaffen. Es steht zugleich in engem Zusam­menhang mit jenem, das als sittliches Lebensideal vorgezeichnet wurde und die spät­mittelalterliche Predigt der „imitatio morum Christi“, des Wandels nach dem sitt­lichen Vorbild Christi, bestimmte. Hier war Christus in Person als „normatives Ideal“ zugleich der Geber des neuen Gesetzes, dem dann derselbe Christus als Rich­ter entspricht, der sein Urteil letztinstanzlich fällt, je nach Erfüllung oder Verfeh­lung jenes Gesetzes. Diese Richtergestalt sah der junge Luther um so drohender vor sich, je intensiver er sich mühte um die Erfüllung seines Gesetzes durch eigenes Tun. Luther hat später einmal (in „De libértate Christiana“, aber auch sonst oft) erklärt, es sei „nicht zureichend, auch nicht einmal christlich“, wenn man Christi Taten, Le­ben und Worte histórico modo, d. h. auf geschichtliche Weise, predige oder gewisse Handlungen, die zu ken­nen hinreiche zur Gestaltung eines Lebensideals.[6] Luther wendet sich damit gegen jene Christusverkündigung, die die „Besten“ seiner Zeit – wie er sagt – predigten oder in umfangreichen „Leben Jesu“ den Gläubigen vor Augen führten. Hier setzte seine Kritik an. Und damit hat er die im Schwange ge­hende Moralisierung der Christusverkündigung überwunden – sie lebte weiter, bis in unsere Tage, und lebte auch im Protestantismus wieder auf – und er hat zugleich das Bild vom Richter des Jüngsten Gerichts an den ihm zukommenden Ort gestellt. Die rechte Christusverkündigung will hingegen zum Glauben an Christus führen, nämlich daß er „Dir und mir Christus sei“, für uns in den Tod gegeben, und daß „der Christus das in uns wirke, was von ihm gesagt ward und was er selber genannt wird“ – nämlich Heiland und Heil.[7] Dieser Glaube an Christus aber hat seine Mitte darin, daß man seinem Wort glaubt, das in Menschenworten in der Kirche verkün­digt wird, daß man dem Zuspruch der Vergebung der Sünden vertraut. Denn nur solcher Glaube ist Anerkennung der Herrschaft Christi in ihrer absoluten und sou­veränen Freiheit und Ausschließlichkeit. Aber solcher Anerkennung entzieht sich der Mensch immer wieder um seiner eigenen vermeintlichen Freiheit und Herrlichkeit willen.

Ziemlich früh, schon in seiner Vorlesung über den Römerbrief, hat Luther diese Selbsteinschätzung des Menschen und seines Heilsweges einmal festgesteilt: „Wir glauben Gott, daß wir gerechtfertigt werden müssen, aber wir suchen selbst dies für uns zu erreichen, indem wir zu ihm beten, klagen und bekennen. Christus aber wollen wir nicht, denn Gott kann uns ohne Christus seine Gerechtigkeit geben.“ So sagen wir. Darauf antwortet Luther mit Röm. 5,22: „Gott will das nicht und kann das nicht… die Gerechtigkeit wird nicht gegeben außer durch den Glauben an Jesus Christus. So ist es festgesetzt, so gefällt es Gott, und daran wird nichts geändert.“[8] Es ist An­maßung und Überheblichkeit, nicht durch Christus gerechtfertigt werden zu wollen. Glaube an Christus als das restlose Vertrauen zu ihm fällt so mit Rechtfertigung, und das heißt mit Sündenvergebung, für Luther zusammen. Darin, daß er sich des Sün­ders annimmt, daß er um seinetwillen sich erniedrigt, daß er für ihn eintritt, sich mit ihm solidarisch macht und ihn so den Mächten der Sünde und des Todes, der Herr­schaft des Teufels entreißt, und das heißt auch seiner eigenen, auch seiner religiösen Selbst-Sucht entnimmt, darin erweist sich Christus als „Herr des Lebens“. Alles steht auf diesem „Artikel“ des Glaubens, auf dem Artikel des Glaubens an Christus: „wen dieser artickel wancket, so sind wir verloren“.[9] „Darumb ligt es gar an diesem Artikel von Christo und hanget alles darin: Wer diesen hat, der hat alles.“[10] „Der Artickel macht nun Christen undt sonst keiner undt, wen dieser verlohren wirdt, so heißen die andern alle nicht. Undt mit dem Arttickel werden wir auch von allen falschen Christen undt heiligen abgesondert.“[11] Er ist nach den Schmalkaldischen Artikeln der „Häuptartickel“, von dem man „nichts weichen oder nach­geben [kann], es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will; denn es ist kein ander Name (den Menschen gegeben), dadurch wir können selig werden, spricht S. Petrus Act. 4[,12]. Und durch seine Wunden sind wir geheilet [Jes. 53,5]. Und auf diesem Artikel stehet alles, das wir wider den Bapst, Teufel und Welt lehren und leben …“[12]

Es entspricht dieser Christusverkündigung als Verkündigung „meines Herrn“ um der durch ihn allein geschenkten Sündenvergebung willen, daß bei der Durchführung der Reformation in der Kursächsischen Landeskirche durch die Visitation 1527/28 die übernommenen katholischen Pfarrer angewiesen werden, nunmehr das Apostolikum auf diese Mitte hin und so evangeliumsgemäß zu lehren. „Da träumen einige“ – heißt es in den Visitationsartikeln – „Glauben heiße so viel, wie die Geschichte von Christus fürwahrhalten …, aber diese irren erheblich. Nur jener Glaube rechtfertigt, der die Vergebung der Sünden glaubt. Daher werden sie [die Pfarrer] angewiesen, bei der Behandlung des Symbols auf den Artikel zu blicken – ich glaube die Vergebung der Sünden –, auf ihn alle vorangehenden Artikel zu beziehen.“[13]

Lautere Evangeliumsverkündigung ist so die Verkündigung der Herrlichkeit Christi um der durch ihn mit der Vergebung der Sünden in Vollmacht aufgerichteten Er­lösung willen. Niemand anderer und nichts anderes neben ihm! Und es entspricht diesem ersten Stück reformatorischer Erkenntnis, wenn in der Situation der Bedro­hung solcher lauterer Verkündigung durch Zusätze etwa: Jesus Christus und die deutsche Stunde 1953, Jesus Christus und germanisches Wesen, die erste Barmer These von 1954 formulierte: „Jesus Christus wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

II

Schriftgemäße Sakramentsverwaltung, das heißt nun. daß die Sakramente nicht als die Vehikel der Gnade von der Kirche ausgespendet werden unter der Vorausset­zung bestimmter Leistungen zur Würdigkeit auf Seiten des Empfängers, sondern daß z. B. das Abendmahl gefeiert wird als Angebot und giaubensgewisse Annahme des Zuspruchs der Sündenvergebung, des Absolutionswortes, das sinnenfällig versiegelt ist durch die wirksamen Zeichen von Brot und Wein. Darum kommt es auch hier ganz wesentlich auf den Glauben an: „fides virtus sacra­mento“,[14] der Glaube ist die Kraft für das Sakrament! Darum erhält gerade der im Glauben Angefochtene hier die Stärkung seines Glaubens. Es ist wiederum Christus in Person, der hier den Menschen unter seine Herrschaft stellt, als Glied seines Leibes, und ihn von der Knech­tung der Fremdherrschaft, von Angst und Sorge befreit. Und darum ist nur das Sa­krament, was, nachweislich von Christus eingesetzt, diesen Zusammenhang mit Ver­heißungswort und Glauben als unaufgebbar bekundet, also nur Taufe und Abend­mahl. Die Abendmahlsstreitigkei­ten im werdenden Protestantismus haben dann freilich diese schlichte und zentrale Grunderkenntnis bald wieder verdeckt.

III

Luther hat wiederholt bei der Frage, was denn die Reformation Neues gebracht habe, nicht zwei, sondern drei Errungenschaften aufgezählt, nämlich neben der Wie­dergewinnung lauterer Evangeliumsverkündigung und evangeliumsgemäßer Sakramentsverwaltung als dritte und nicht minder wichtige die jenen beiden ersten Er­rungenschaften entsprechende neue Einstellung zum menschlichen Dasein in der Ge­meinschaft.[15]

Das Christenleben ist für Luther nicht mehr – wie das im Mittelalter weithin der Fall war und wie es dann auch zum Teil im Pietismus und im modernen Protestantis­mus ähnlich begegnet – eine private Angelegenheit oder eine Sache des Lebens im „Raum“ der Kirche unter gewisser Abkehr von der „Welt“ oder in Zurückhaltung ihr gegenüber. Die ganze Heilige Schrift, sagt Luther, zeige, „daß es niemals einen Heiligen gegeben habe, der nicht beschäftigt gewesen wate mit Politik oder mit Wirt­schaft“.“[16] Es gibt für den Christenmenschen kein „privates“ Dasein. Inhaltlich be­deutet diese evangelische Entdeckung der Gesellschaft – und der Welt überhaupt – freilich nicht die Proklamation einer „christlichen Gesellschaft“ oder eines „christ­lichen Staates“, so oft auch eine „christliche Obrigkeit“ angeredet werden mag. Die Ordnung des Reiches Gottes und die Ordnungen in der Welt sind verschiedene Dinge. „Das Evangelium bringt keine neuen Gesetze für das bürgerliche Dasein“, heißt es in der „Apolo­gie“.[17] Und die Kirche ist weder das Gesetz der Gesellschaft noch ihr Ideal, sie übt auch keine Herrschaft über die Gesellschaft, wie dies alles im Mittelalter gedacht und angestrebt war. Vielmehr bedeutet die Reformation in ihrer Auswirkung auf die Gesellschaft ihre Entklerikalisierung, und das heißt positiv formuliert einmal: daß die Welt nun wieder entdeckt wird als von Gott geschaffene Welt, die den Ort der Bewährung des Glaubens im Gehorsam darstellt, den Raum der Heiligung, das Feld der Betätigung der Freiheit eines Christenmenschen. Denn der Glaube drängt zum Gehorsam, zum Zeugnis von Jesus Christus vor der Welt und zur Übung der Liebe in der Nächstenschaft, oder, wie Luther in „De libertate christiana“ sehr kühn sagt, der Glaube drängt dazu, dem anderen ein Christus zu werden,[18] so wie mir Christus in seiner rettenden Liebe begegnet ist und begegnet. Heiligung ist nun nicht mehr das Bemühen um Gewinnung eigener Gerechtigkeit und Seligkeit durch fromme Übungen etwa und sittliche Vervollkommnung, sondern Heiligung hat die Rechtfertigung, hat das Geschenk des neuen Lebens in Christus, har die Befreiung zur Freiheit der Kinder Gottes – alles von Gott in Christus ge­geben und im Glauben empfangen –, Heiligung hat die Rechtfertigung zur ermög­lichenden Voraussetzung und das irdische Leben in Solidarität mit den Nöten dieser Welt zur vorgefundenen Bedingung. So wie Gott einst Adam – Luther gebraucht dieses Bild – in den Garten Eden gesetzt hat mit dem Auftrag, ihn zu bestellen, sich die Erde „untertan“ zu machen,[19] so, entsprechend, wird der Christenmensch aufs neue an die Welt gewiesen, ihr das Heil Gottes zu bezeugen im besonderen durch die Tat selbstlosen Dienens an der Überwindung der Heillosigkeit dieser im Abfall von Gott in Unordnung geratenen Welt.

Diese dritte Errungenschaft der Reformation heißt positiv dann weiter: daß Gott uns haben will zu Mitarbeitern an seinem Versöhnungshandeln an der Welt.[20] Denn Gott hat in Christus die Welt mit sich versöhnt (2. Kor. 5,19). Diesen Gedanken der Mitarbeiterschaft in dienstba­rer Anteilhabe an Gottes Erlösungshandeln hat die Re­formation ausgesprochen mit ihrer Neuentdeckung des Berufs. Der Begriff des Be­rufs galt im Sinne religiöser Berufung im Mittelalter vor allem dem „Stand“ des Mönchs. Nun aber heißt es, jeder ist dort, wo er in der Welt steht, als Christ, also auf Grund des Hineingerufenseins in die Gotteskindschaft, werkzeuglich hinein­genommen in Gottes Handeln an der Welt. Eben darin hat Gott ihn gerade mitten in seinem irdischen Dasein und in dessen Bewältigung zugleich ganz für sich be­schlagnahmt.

Die zweite Barmer These hat das wiederum sehr genau und eindrücklich formuliert: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist. so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Le­ben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.“ Auch in diesem Sinne also ist Jesus Christus „mein Herr“. Die zweite Barmer These erläutert das dahin: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gäbe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“

Man darf dieses Dienen freilich nicht im Sinne einer beliebigen, wählerischen, ja sentimenta­len Liebesgesinnung mißverstehen. Was hier geschehen soll, ist nach Lu­ther vielmehr der rechte Weg der Nachfolge Christi, d. h. der freie Nachvollzug der Selbsterniedrigung Christi, ein Herabsteigen von der geschenkten Höhe der Gotteskindschaft in die Niedrigkeit der Welt unter der Sünde, frei gerade auch von allen eigenen Interessen, frei auch von der Sorge um das eigene Heil, bereit, sich auch „schmutzige Hände“ zu holen, ganz selbstlos der Aufgabe am Nächsten, dem Men­schen in ihm, auch im „Gottlosen“ zugewandt, nicht parteiisch, vor allem nicht wählerisch, sondern eben schlicht gehorsam. Es ist Glaubensgehorsam in sehr nüchternem Tun, Anteilhabe und Anteilnahme daran, daß Christus selbst keine „persona privata“ ist. Es sagt eben die reformatorische Botschaft dem Menschen auch dies, daß er innerhalb seiner geschöpflichen Grenzen, im Bereich seines irdischen Daseins dem Tun Gottes entsprechen darf, daß er aufgerufen ist „zur Beteiligung an dem Ge­schehen des Willens und Werkes Gottes“.[21] So kommt es in der Erkenntnis und An­erkennung der weltlichen Dinge als Geschöpfe Gottes und im Wissen um ihre Vor­läufigkeit dazu, daß man die Welt zwar nicht als absolut setzt, sie aber doch als Wert begreift; so kommt es dazu, daß das Leben des Christen in der Gesellschaft etwa sich bewährt im Nachvollzug der Mit-Menschlichkeit Christi.

So wenig aber das Werk Christi ein bloß karitatives Lindern einer Not, sondern die Herauf­führung der Entscheidung über Leben und Tod ist, gerade dort, wo es den einzelnen trifft, so wenig ist das Handeln des Christen als Mitarbeiter Gottes ein pri­vat-karitatives und darin willkürliches. Seine Aufgabe wird ihm vielmehr je und je gestellt in seiner Zuwendung an alle. Dieses Handeln hat mithin einen Auftrag an die Öffentlichkeit, und es vollzieht sich auf Grund davon als eine freie, in der Ver­antwortung gegen Gott eben freie Mitarbeit an der menschlichen Gesellschaft, weil diese in ihrer geschöpflichen Wirklichkeit und Weltlichkeit neu geschaut und ernst genommen wird als Gott gehörig.

Das etwa meint der reformatorische Gedanke von dem mit den Nöten der Welt „solidari­schen“ Christenmenschen, der eben in dieser neuen Zuordnung zur Welt sich als Gottes Mitarbeiter bewähren soll. Man darf daraus freilich kein falsches Pro­gramm einer Verchristlichung der Welt machen! Ausgeschlossen ist nämlich, daß die Christengemeinde ihre Mitverantwortung für Staat und Gesellschaft überhaupt an­ders vollziehen könnte als von ihrem Grund, vom Wort Gottes her. Ausgeschlossen also, daß sie es etwa versuchte, mit sogenannten christlichen Konzeptionen, Ideolo­gien, Programmen oder Parteien. Ausgeschlossen ist vor allem, daß die Kirche ihre Mitverantwortung für die Gesellschaft ergreift, um ihre eigene Sache wirksam zu vertreten. Sie, die Kirche, vertritt in der Öffentlichkeit nicht sich selbst, sondern mit ihrem Zeugnis ihren Herrn. Darin unterscheidet sich nach reformatorischer Erkennt­nis die wahre Kirche Christi von der verfälschten Kirche des Papsttums, die Dienstkirche von der Herrschaftskirche. Denn Christus allein übt die Herrschaft über Kirche und Welt,

All dieses „Heiligungshandeln“ aber geschieht zugleich in eigentümlicher Verborgenheit und Gebrochenheit, denn – und das ist die dritte positive Bestimmung der in der Re­formation errungenen neuen Einstellung zum menschlichen Dasein in der Gesellschaft – in dem allen setzt sich das Reich Christi hier auf Erden durch, selbst verborgen, nur dem Glauben sichtbar, aber wirklich und wirksam. Es ist das Reich Christi, das, wie es in der „Apologie“ einmal heißt,[22] kommt, indem Christus selbst „in unserer Schwachheit seine Macht deklariert“. Man hat diesen Gedanken von der verborge­nen Königsherrschaft Christi von der Herrschaft in der Gestalt des Dienens! –, der in Luthers Wiederentdeckung des Evangeliums gegenüber from­mer Gesetzlichkeit überall zur Stelle ist, man hat diesen Gedanken lange Zeit zurückgeschoben, mit­unter zugunsten mannigfacher Versuche, die Welt greifbar zu verbessern, indem man sie vorchristliche und damit zugleich einer fragwürdigen Herrschaft der Kirche unterstellt. Parteien, die sich betont christlich nennen, stehen immer in der Versuchung, ihre Interessen mit dem Evangelium zu verwechseln, so wie im Mittelalter die Kirche um ihre „Freiheit“, d. h. um ihre Überordnung kämpfte, während es z. B. im Kir­chenkampf der dreißiger Jahre um die Freiheit des Evangeliums ging, darum, immer und überall Jesus Christus als unsern eigentlichen Herrn zu bezeugen.

Was man als wesentliche Errungenschaft der Reformation gegenüber allem, auch allem from­men, religiösen Selbst-Sein-Wollen immer neu bedenken muß, ist, daß der Gehorsam eines Gott unmittelbar verantwortlichen Lebens in der Welt, vor den Menschen, seinen tragenden Grund hat in dem Glauben, der Jesus Christus als sei­nen alleinigen Herrn bezeugt, in der Freiheit, die Christus den Seinen durch seine Be­freiungstat geschenkt hat, gerade auch in der Freiheit von allen groben und feinen Formen der Selbstsucht, und in der Hoffnung, die unserem Tun, auch dort, wo es zu scheitern scheint, wo es ins Leiden führt oder im Leiden besteht, die getroste Gewißheit gibt, daß es aus Gehorsam geschieht. Die Hoffnung nimmt dem Glauben die Angst, die auch den „hoffenden Menschen“ – und jeder Mensch ist als solcher „Hoffen­der“, von seinen Hoffnungen bestimmter Mensch – überkommt angesichts der un­verfügbaren Zukunft; oder die ihn in Versuchung führt, sich der Zukunft selbstherr­lich zu bemächtigen.

Im Neuen Testament werden die Christen als „Inhaber von Hoffnung“ denen gegenübergestellt, die keine Hoffnung haben, obwohl sie ihre Hoffnungen haben. Inhaber der Hoffnung sind die Christen, weil sie den zum Herrn haben, der als Gott der Hoffnung zugleich im Glauben „Freude und Friede“ in Fülle gibt, weil Jesus Chri­stus eben ihre Hoffnung ist und bleibt, weil er die Erfüllung der Hoffnung garan­tiert. Der Christ lebt nicht seinen Hoffnungen, sondern er hat Hoffnung des Lebens, eine Hoffnung, die, wie das Neue Testament sagt, bleibt, die „nicht zuschanden wird“ (Röm. 5,5), durch die wir gerettet sind (Röm. 8,24).

Eben in dieser Hoffnung gewinnt der Glaube an Christus als meinen Herrn sein „Frei- und Offensein für die Zukunft, da der Glaubende die Sorge um sich selbst und damit um seine Zukunft im Gehorsam Gott anheim gestellt hat.“[23] Diese Hoff­nung ist Hoffnung auf Versöhnung und Erlösung der Welt, auf die endliche Offen­barung der Freiheit der Kinder Gottes, auf das Erscheinen des Reiches Christi in Herrlichkeit. Sie bleibt auch dort wirksam, wo innerweltliche Hoffnungen zum Scheitern kommen; sie ist das auf das Ende blickende Motiv des Verharrens im Gehorsam, und sie ermahnt darum immer wieder zur Nüchternheit, weil sie täglich das Wunder Gottes in seinem Erlösungswerk erwartet. Der Herr, unser Herr, ist – gegen allen Augenschein, verhüllt und unsichtbar – im Kommen und führt die Welt auf sein Herrlichkeitsreich zu.

Und weil die Christen als Mitarbeiter Gottes in diese Bewegung des Reiches Gottes gerufen sind, jeder an seinem besonderen Ort, dürfen sie nicht müßig sein, nicht re­signieren und nicht träumen, sondern sie sind voll tätiger Erwartung, vorwärts ge­wendet, offen gegenüber dem Unerwarteten. Denn das Evangelium, wie es die Re­formation wieder an den Tag gebracht hat, verkündet das Leben aus der Zukunft Gottes auf Grund der ein für allemal in Christus, am Kreuz geschehenen Heilsrat Gottes. Aber eben darum ist christliche Hoffnung kein schwärmerischer Optimismus und darum sind für sie auch die Leiden Zeichen der kommenden Gottesherrschaft. Denn „wie sollte man bei Erfolgen übermütig oder an Mißerfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet?“[24]

Indem die christliche Hoffnung die Welt im Licht der über sie kommenden Christus-Herrschaft sieht, bereitet sie dem Handeln des Glaubensgehorsams den Raum und den Rahmen, den Raum, sofern sie an den Sieg Jesu Christi über die Mächte der Finsternis glaubt, den Rahmen, sofern sie weiß, daß er. er allein in Herrlichkeit ent­hüllen wird, was hier im Verborgenen geschieht.

Es ist für das Hoffnungszeugnis der Kirche Jesu Christi wichtig, daß sie sich selbst versteht als „gerettete Welt“ und daß sie eben darum sich zur Solidarität mit der an falsche Hoffnungen oder an Hoffnungslosigkeit preisgegebenen Welt gerufen weiß. Als „gerettete Welt“ stellt die Christenheit den irdischen Wirklichkeiten gegenüber; aber nicht in der Haltung der glücklichen Besitzenden, lediglich besorgt um die Bewah­rung dieses Besitzes, bedacht auf Selbstsicherung und Selbstdurchsetzung, sondern gedrängt zum Dienst an der noch nicht geretteten Welt. Das Gegenüber zu dieser wird so auf Grund der Solidarität zum Ermöglichungsgrund für den Dienst der Kirche als dienender Kirche an der Not und Schuld der Welt. Damit sind ausge­schlossen, was im Bereich abendländischen Christentums auf Grund der Idee einer an die Stelle Jesu Christi getretenen „herrschenden“ Kirche immer wieder begegnete und mög­lich war: einmal die Klerikalisierung der Welt oder die kirchliche Bevormundung der Gesell­schaft; sodann die Privatisierung des Christendaseins oder der Ungehorsam in der Nach­folge; drittens das Sich-Zurückziehen des einzelnen Christen hinter „Die Kirche“ oder das Mißverständnis der Gemeinde. Machen wir uns nichts vor: uns gelüstet immer wieder nach diesem Dreifachen, aber wir sollen solcher Versuchung widerstehen.

Denn die Kirche als „gerettete Welt“ gehört nicht sich selbst, sondern ihrem Herrn, den sie als Herrn der Weit und als Herrn wie Haupt der Kirche der noch nicht ge­retteten Welt gegenüber als die alleinige Hoffnung bezeugen muß. Auch die Welt hat alles von diesem Herrn zu erwarten, nicht nur die Kirche. Aber die Kirche kann der Welt nicht ein Rettungsprogramm vorlegen; wohl aber hat sie ihr zu bezeugen, daß Gott seine Welt nicht verlorengehen läßt, sofern er sie in Christus mit sich versöhnt hat und versöhnt (2. Kor. 5,19). Sie richtet dieses Zeugnis aus, indem sie in der Soli­darität mit der Welt an deren Nöten die Zeichen der Versöhnung anzubringen sucht. Das heißt weiterhin:

Daß in wahrer, in schlicht gehorsamer Nachfolge Christi der nach Gottes Schöpfer- und Erlöserabsicht zur Mitmenschlichkeit geschaffene und in Christus neu berufene Mensch z. B. dafür sorgt, daß menschliches Ringen um Freiheit nicht zu neuer Knecht­schaft, menschliches Ringen um Gerechtigkeit nicht zu neuer Ungerechtigkeit führt, menschliches Ringen um Frieden nicht zum Krieg als angeblichem Mittel zum Frie­den, menschliches Ringen um Wahrheit nicht zur Lüge der Verkündigung falscher Wahrheiten, menschliches Ringen um Leben nicht zur Auslöschung menschlicher Existenz; und das heißt drittens:

Als die tragende Mitte eines solche Zeichen aufrichtenden Tuns erscheint die Ge­meinde Jesu Christi. Ihre Bruderschaft ist schon in den Anfängen der Christenheit der Welt als „revolutionär“ aufgefallen und von der Christenheit selbst als „Volk Gottes“ den Völkern gegenüber zur Erlösung, zum Dienst an der Erlösung prokla­miert worden. Die Gemeinde trägt durch ihre Hoffnung, ihre Fürbitte und ihr Sein überhaupt den unentbehrlichen Dienst des einzelnen, wohin immer dieser gestellt sein mag, als Hausvater, als Politiker, als Mann in der Wirtschaft, als berufener Pfarrer. Es ist der Dienst jenes einzelnen, der zu solchem Dienst für Christi verborgenes Reich durch Christus befreit ist von den gottlosen Bindungen dieser Welt, der aber selbst als solcher einzelner und als Glied christlicher Gemeinde ein „Gebundener“, ein „Knecht“ Jesu Christi ist, aber nicht ein „Parteigenosse“ der Gemeinde. Denn jeder einzelne kann in seinem Handeln für die Kirche als ganze stehen. Die Kirche als Institution und Organisation bleibt mit all ihren Demonstrationen der Welt ge­genüber zuletzt wirkungslos, wenn nicht am freien Handeln ihrer Glieder kund wird, daß sie zum „Salz der Erde“ und zum „Licht der Welt“ berufen sind. Denn Gott ge­braucht jeden als Mitarbeiter in seinem Versöhnungswerk! Jeder hat weiterzugeben, und zwar in der Welt und an sie, was er empfangen hat: Freiheit, Friede, Gerechtig­keit, Wahrheit.

Indem die Reformation das Grundbekenntnis: „Jesus Christus mein Herr“ wieder in die Mitte christlichen Glaubens gerückt hat, hat sie dem einzelnen Zeugen Jesu Christi so seinen gottgewollten Ort in der Welt als die Stelle seines freien Dienstes in Mitmenschlichkeit an Gottes Schöpfung zum Lobpreis Gottes neu aufgedeckt.

Quelle: Vierhundertfünfzig Jahre lutherische Reformation 1517-1967. Festschrift für Franz Lau zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Helmar Junghans, Ingetraut Ludolphy und Kurt Meier, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1968, S. 416-425.


[1] Vgl. z. B. WA 50,272,3-26.

[2] Kleiner Katechismus. BSLK, 511,11-38.

[3] Großer Katechismus. BSLK, 651, 31-40; 652, 4-6.

[4] E. Käsemann: Kritische Analyse von Phil. 2, 5-11. In: E. Käsemann: Exegetische Versuche und Besinnungen. Bd. 1. Göttingen 1960, 85.

[5] Großer Katechismus. BSLK, 652,26-30; 40-43; 45 f.

[6] WA 7,58,31-34.

[7] WA 7,58,40-59,1.

[8] WA 56,255,25-25.26-28.

[9] WA 47,541,17 f.

[10] WA 46,19.24 f.

[11] WA 33,160,21-26.

[12] BSLK, 415, 21-416, 4.

[13] ER 26,12.

[14] Vgl. De captivitate Babylonica (WA 6,533,32-34; Cl. 1, 467,36-39): „Neque enim eredi potest, nisi assit promissio, nec promissio stabilitur, nisi credatur, ambae uero, si mutuae sint, faciunt veram et certissimam efficatiam sacramentis (!).“

[15] Vgl. WA TR 4,178,8-22 (4172); Schmalkaldische Artikel, BSLK, 411, 20-24.

[16] WA 40 111,207,8 f.

[17] XVI, 3 (BSLK, 308, 8 f.).

[18] WA 7,66,27 f.

[19] WA 7,61,1-9.

[20] Vgl. WA 40 I, 436 f.

[21] Karl Barth: Kirchliche Dogmatik. Bd. 3, 4. Zollikon 1951, 551.

[22] IV, 189 (BSLK 197, 53-56).

[23] R. Bultmann: Theologie des Neuen Testaments. Tübingen 1953, 316.

[24] D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. München 1961, 249.

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