Über die Wahrheit und deren parteiliches Unverständnis
Wenn es um eine Definition von Wahrheit bzw. von Wahr-Sein geht, sind zwei verschiedene Ausrichtungen möglich, eine kognitive und moralische. Für die kognitive Ausrichtung ist der Gegenbegriff „Falschheit“ (bzw. „Unrichtigkeit“), während im moralischen Sinne der Gegenbegriff „Lüge“ (bzw. „Unwahrhaftigkeit“) ist. Das „Falsch-Gewusste“ entspricht nicht der „Wahrheit“, kann aber dennoch wahrhaftig gemeint sein.
Um die Wahrheitsfrage zu stellen bzw. um das Wahr-Sein zu hinterfragen bedarf es der Sprache, die Sachverhalte, Wahrnehmungen und Erkenntnisse aussagen lässt. Ohne eine sprachliche Verständigung können Wahrnehmungen nicht auf das „Wahr-sein“ hin reflektiert werden. Die Wahrheit betrifft immer intersubjektive oder zwischenmenschliche Verhältnisse.
Wenn wir von subjektiver Wahrheit und damit plural von Wahrheiten sprechen, ist dies missverständlich. Besser sollte man von subjektiven Wahrnehmungen bzw. Perspektiven oder individuellen Sichtweisen reden. Eine „Allsicht“ (panorama) lässt sich nicht erreichen. Wahrheit lässt sich weder aneignen noch besitzen, sondern muss im Zweifelsfall über eine gemeinsame Verständigung geklärt werden. Frage ich, ob etwas wahr ist bzw. warum etwas wahr ist, beziehe ich mich auf eine Aussage, die einen Sachverhalt wiedergibt. Die Frage ist, wie nun der Wahrheitsgehalt dieser Aussage geklärt werden kann. Im Allgemeinen reden wir bezüglich der Wahrheit von Tatsachen oder Fakten. Wir beziehen uns dabei auf beobachtbare Sachverhalten, die sich gemeinsam, z.B. durch ein Experiment oder anhand statistischer Daten überprüfen lassen. Aber Aussagen mit einem Wahrheitsanspruch beziehen sich häufig nicht auf augenscheinlich Beobachtbares, sondern auf abstrakte und damit unsichtbare Sachverhalte, die sich eben über eine gemeinsame Beobachtung nicht bewahrheiten bzw. verifizieren lassen.
Außerdem ist es die Sprache selbst, die „Wahrheit“ erschwert, wenn nämlich die bei einer Aussage verwendete Begriffe nicht präzise genug oder aber zwei- bzw. mehrdeutig sind. Dann kommt es darauf an, was man unter dem jeweiligen Begriff versteht.
Wenn etwas wahrgenommen und auf eine Aussage gebracht wird, sind aufgrund verschiedener Perspektiven, unterschiedlichen Vorwissens, persönlicher Vorlieben oder unterschiedlicher kultureller Kontexte unterschiedliche Interpretationen bezüglich eines Sachverhaltes möglich (und auch wahrscheinlich). Das vermeintlich Gleiche wird unterschiedlich verstanden und demzufolge auch jeweils anders ausgesagt. Ergänzend dazu enthalten Aussagen bezüglich eines Sachverhaltes unterschiedliche Wertungen.
Das führt dann zu der Frage, inwiefern Aussagen intentional, also mit Absicht unterschiedlich gehalten sind. Mit Aussagen, die ja von anderen gehört werden oder gar von diesen eingefordert werden – wie z.B. Zeugenaussagen vor Gericht – sind immer auch persönliche Interessen verbunden. Durch Verheimlichungen oder Auslassungen soll möglicherweise nicht die ganze Wahrheit ans Licht kommen. Da wird gesellschaftlich eine Tugend der Wahrhaftigkeit betont, und doch wird mitunter aus eigenem Interesse die Wahrheit verschwiegen bzw. bewusst die Unwahrheit gesagt und damit wider besseres Wissen gelogen.
Selbst wenn die Wahrheit ans Licht kommt, wenn empirisch oder rational nachgewiesen werden kann, dass eine Aussage nicht der Wahrheit entspricht, beharren Menschen mitunter auf ihrer ursprünglichen Aussage und sind nicht bereit, diese zu korrigieren. Man will für sich selbst und gegenüber anderen Recht behalten. Möglicherweise finden sich andere, die einen selbst in der (als falsch erwiesenen) Aussage bestärken. Unter diesen Umständen ist eine gemeinsame Verständigung über die Wahrheit nicht möglich. Die Folge davon ist, dass Menschen sich nicht länger miteinander kommunikativ verständigen können. Damit zerfällt die Gesellschaft.
Wird in der Gesellschaft nicht länger eine gemeinsame nachprüfbare Wahrheitsgrundlage akzeptiert, lassen sich die Folgen im Bild des Kalbens, d.h. des Abbrechens größerer Eismassen von im Meer oder Binnengewässern endenden Gletschern darstellen. Verschiedene Eisschollen treiben ins offene Meer, wo sie sich durch Abschmelzen und Auseinanderbrechen langsam verkleinern und schließlich auflösen.
Beharren Menschen auf ihren eigenen Meinungen, Stimmungen und Gefühle, mit denen sie sich auf einer gemeinsamen Plattform mit anderen wahrnehmen und sich einer allgemeinen Nachprüfung ihrer Aussagen verweigern, begeben sie sich als fragmentierte „Weltanschauungsgruppe“ auf das weite Meer, wo verbleibende Gemeinsamkeiten immer mehr abschmelzen, bis schließlich jeder tragfähige Grundlage verlorengegangen ist.
Ein sehr guter nach-denkenswerter Essay. Danke, lieber Jochen. Ich kann diesen Text gleich gut gebrauchen – im Streit um die Wahrheit. Sei gut zu Dir – in diesen entbehrungsreichen Tagen – und bleib bei Trost: Dein Rolf Wischnath