Von Johannes Hamel
„Wenn Sie Exegese des Neuen Testaments lernen wollen, gehen Sie zu Schniewind nach Königberg“, sagte mir 1931 ein Tübinger Dozent. Das war das erste Mal, daß ich von diesem Manne hörte, der dann, wie für viele, so auch für mich der Lehrer des Evangeliums werden sollte. Ehemalige Königsberger Studenten hatten schon von diesem Professor erzählt, daß er wie kaum ein anderer es verstünde, uns durch seine Forschung und Lehre Freude an der Heiligen Schrift zu machen. So gingen wir Anfang der 30er Jahre in Scharen nach Ostpreußen und saßen zu seinen Füßen. Was war es so Besonderes an diesem Manne?
Eine hohe, gebietende Gestalt, ein Gesicht von einer prägnanten Schärfe, das man nie wieder vergaß, Augen, vor denen man sich fürchten konnte, eine weit vorspringende Nase, dünne, festgeschlossene Lippen, ein hoher Hals und Glieder, die etwas zu lang wirkten; lebhaft und leidenschaftlich, seine rheinische Abkunft nicht verleugnend, mitunter aristokratisch abweisend, immer wie auf der Jagd nach einem unsichtbaren Ziel, ständig unterwegs, auf dem Sprunge, zu innerst hörend und wartend, flehend und seufzend, stets im Aufbruch begriffen und harrend auf einen Frieden, der höher ist als alle Vernunft, Ausschau haltend nach der Verheißung, nach der ihm so bange war, von der Freude über das gehörte Wort lebend, in sich verzweifelt, von Tag zu Tag getröstet durch Ihn. Wie oft rief er uns zu: „Es hängt für Paulus alles an einem seidenen Faden.“ Als ich ihn das erste Mal nach Kriegsausbruch 1939 sprach, sagte er plötzlich: „Mein ständiges Gebet ist jetzt nur eines: Führe uns nicht in Versuchung.“
Wir fürchteten ihn. Es muß ähnlich gewesen sein wie bei seinem Lehrer Martin Kähler, dessen Augen mancher gern auswich, wie Julius Schniewind erzählte. „Ich habe es erlebt, daß Studenten kehrt machten, nur um Kähler nicht zu begegnen!“ Diese Scheu entstand nicht an irgendwelchen Menschlichkeiten, die er als Mensch natürlich auch hatte. Aber daß dieser Mann, seinem eigenen Wesen zum Trotz und gegen sich selbst mit seinen Begierden und Wollungen, unbeirrt und ganz auf das Wort Gottes hinwies, buchstäblich überall, wo er ging und stand, und nicht müde wurde, von der Herrlichkeit Jesu zu zeugen, das verbreitete um ihn eine ehrfürchtige Scheu, ja mitunter Haß bei diesem und jenem. Ich erlebte kurz vor seinem Tode einen Wutausbruch eines Pfarrers seiner Propstei, von dem ich wußte, wie sehr Schniewind gerade ihn mit Flehen und Tränen auf dem Herzen trug: »Das ist doch kein Propst. Ein Harlekin ist das. Der Mensch kommt mir nicht mehr auf meine Kanzel. Die Kinder lachen über ihn. Ein Lügner ist er.“ Das Gesicht dieses Schmähenden, für gewöhnlich glatt und verbindlich, verzerrte sich bei diesen Worten. Es war mit den Händen zu greifen: Hier wehrte sich einer verzweifelt gegen das Bußwort, das uns Schniewind als Freudenwort verstehen lehrte.
Wir liebten ihn. Mag sein, daß wir in jüngeren Semestern auch für ihn schwärmten. Wie sollte das auch nicht der Fall gewesen sein, bei diesem gütigen und gebietenden Manne, voller Geist und Feuer! Schniewind gehörte so ganz und gar nicht zu denen, die an dem Turm ihrer eigenen Persönlichkeit bauen und ihren Zeitgenossen ein formvollendetes Ganzes hinterlassen wollen. Er blieb ein Mensch, mit all seiner Gebrechlichkeit und auch seinem Widerspruch. Er konnte kurz hintereinander Urteile zu Problemen, Sachen und auch Personen aussprechen, die miteinander nicht in Einklang zu bringen waren. Ein Systematiker war er nicht, und mancher verzweifelte schier ob dieser Widersprüche, die sich jedem System entzogen. So hinterließ er auch keine Schule und keine Schüler im eigentlichen Sinne des Wortes, wohl aber eine Schar derer, die ihn liebten wie einen Vater. Der letzte Grund dafür? Sein Zeugnis sprach uns die Befreiung von unserem Ich zu, die im Tode und in der Auferstehung Jesu begründet ist. So rief das von ihm bezeugte Evangelium uns von unserer Selbstrechtfertigung hinweg und machte uns frei für den Herrn, der unser neues Leben in Person ist. Er liebte es nicht, Menschen auf ihre konkreten Sünden hin anzusprechen und zitierte in diesem Zusammenhang wohl Eph. Kap. 5, V. 3. In Bibelstunden war er alles andere als ein Treiber und Dränger; fast glichen sie mehr Vorlesungen. Aber ebenso: seine Schriftauslegung war in ihrer strengen Wortgebundenheit und mit ihrem Verzicht auf bewußte Anwendung des Textes auf den Einzelnen unmittelbar Zuspruch, Trost und Warnung, Mahnung und Ruf zur Freude. Es kam vor, daß ein Student wütend aus solcher Bibelstunde herausging, um nach zwei Stunden zu erkennen, daß sein alter Adam, zu innerst angepackt, rebelliert hatte. Wir liebten ihn, weil er uns Gottes Wort sagte und weil sein Leben in dieser Weitergabe des Trostes bestand, den er selbst suchte und empfing.
Weil er dem verkündigten Wort der Schrift alles zutraute, leitete er uns an, freie Wissenschaft zu treiben. Wo war in seinem Kolleg und Seminar der alte Gegensatz zwischen positiver Gläubigkeit an die Wahrheit der Bibel und der liberalen kritischen Wissenschaft vom Neuen Testament geblieben? Er ehrte die großen liberalen Forscher Bousset, Gunkel, Johannes Weiß, Wrede, Weinel und andere, und lehrte uns, sie in ihren Anliegen suchend zu verstehen und ernst zu nehmen. Vor keiner historischen Fragestellung, vor keiner Quellenkritik und vor keinem religionsgeschichtlichen Vergleich schreckte er zurück. „Die Liberalen haben Diamanten gefunden, nur: sie denken oft, es seien Murmeln aus Glas oder Ton.“ Die jeweilige Verkündigung eines Textabschnittes zu finden war seine nie ermüdende Leidenschaft. Unbefangen hörte er auf die Stimmen der Forscher vor ihm, unbekümmert gab er zu, wo er noch keine Lösungen gefunden zu haben meinte; in echter Wissenschaftlichkeit ließ er sich sagen und konnte sich korrigieren. Er, der in der protestantischen Theologie Europas einen geachteten Namen hatte, war in seiner theologischen Arbeit immer im Werden. Auf sein Wort hörten Liberale und Gemeinschaftsleute, Dialektiker und Konfessionalisten. Bekehrte und Unbekehrte, einfach weil er treu dem Text der Schrift dienen wollte, die Jesus als den Herrn bezeugt.
„Umkehr ist Freude“ — wie oft hat er uns das zugerufen! Einmal nach einem Johannes-Seminar standen wir im Tor der Universität in Königsberg und warteten auf das Ende des strömenden Regens: „Nicht wahr, wie herrlich ist es. Neues Testament treiben zu dürfen!“ „Buße“, er sagte lieber ‚Umkehr‘, „ist Abkehr von sich selbst, Hinwendung zum Worte, und das Wort ist die Freudenbotschaft.“ Mochte er völlig übermüdet in einen Studentenkreis kommen, bald war er dabei, den Jungen die Schrift herrlich zu machen. Im Eisenbahnwagen, in der Straßenbahn, auf Spaziergängen, nach Kollegs auf dem Nachhausewege war es sein Schönstes zu „theologisieren“, und das hieß für ihn: vom Geheimnis des Neuen Testaments zu sprechen, das Jesus Christus ist. Acht Tage vor seinem Tode, als er schon wochenlang schmerzhaft krank darniederlag, sprachen wir von diesem und jenem in der Studentengemeinde. Plötzlich brach er ab: „Aber davon wollte ich heute nicht mit Ihnen reden. Heute wollten wir davon sprechen, daß Er unsere Gerechtigkeit ist.“ So tröstete er vom Sterbebette aus den Gesunden mit dem Evangelium im Evangelium.
„Er ist unsere Gerechtigkeit.“ — Vielleicht gibt dieses Wort aus 1.Kor. Kap. 1, V. 30 am treffendsten den innersten Kern seines Lehrens und Lebens wieder. Lehren und Leben fielen für ihn in diesem Freudenwort zusammen. Als wir 1936 in Coburg auf einer Konferenz der Studentenamtsleiter der Bekennenden Kirche — sie fand natürlich geheim statt — zusammensaßen, sprachen wir kritisch über den Nationalsozialismus, und Schniewind betonte dessen Antinomismus (Gesetzlosigkeit). Auf die Entgegnung, er habe im Frühjahr 1933 mitunter auch anders geredet und im Nationalsozialismus ein Stück Gesetzesverwirklichung gesehen, antwortete er tiefernst statt aller berechtigten und möglichen Zurechtweisung des naseweisen Partners: „Ja, weil ich ein armer, fehlsamer, sündiger Mensch bin.“ Im Kolleg behandelte er die Paulinische Rechtfertigungslehre. Eines Tages trat er erregt aufs Katheder: Gerade habe ihm ein Pfarrer geklagt, die moderne Theologie stoße alles um, wenn sie behaupte, daß auch die Frommen vor Gott verlorene Leute seien. Er habe seiner Gemeinde in vielen Jahren etwas ganz anderes beigebracht. Und zornig schloß Schniewind seinen Bericht, daß es uns durch Mark und Bein ging: „Das haben sie zu sagen gewagt!“ Im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit in Christus war er frei von der Selbstrechtfertigung. Als er auf einem Offenen Abend nach 1945 das Verhalten der Mitglieder einer Synode, zu denen er selbst gehört hatte, in einer stark umstrittenen Entscheidung gegen studentische Kritik zu begründen versuchte und ein jüngerer Frechling auf sein Entgegenhalten, man möge doch auch etwas berücksichtigen, daß diese Entscheidung von sehr vielen älteren Männern vorher sorgsam bedacht worden sei, halblaut rief: „Alter schützt vor Torheit nicht“, da konnte er das Gespräch ohne jede Empfindlichkeit fortsetzen. Er wußte zu sehr, daß Jesus Christus allein der Gerechte ist, um sich an sich selbst festzuhalten, und hat gerade an diesem Studenten später seine helle Freude gehabt. Von da aus vertrug er Widerspruch. Im November 1946 kam er eines Abends völlig unterernährt und erschöpft nach einer längeren Reise in den Kreis unserer Jungen Bruderschaft in der Bekennenden Kirche, um unsere starken Bedenken gegen jene schon erwähnte Synodalentscheidung zu hören. Fast die ganze Nacht währte das von uns z. T. leidenschaftlich geführte Gespräch. Zum Schluß sagte ihm einer seiner alten Schüler, es sei für ihn sehr bitter, Schniewind so entschieden widersprechen zu müssen, und erhielt die gütige und freundliche Antwort: „Ach, das haben Sie doch schon in Königsberg immer getan. Wissen Sie das nicht mehr?“ Weil in seinem Denken und Entscheiden der Platz für Jesus den Herrn als Lehrer und Richter freiblieb, ließ er sich auch von Jüngeren sagen.
„Besprenge mich mit deinem Blute um und um.“ Dieses Gebet des Evangelisten Elias Schrenk hat ihn ständig umgetrieben. Unvergeßlich ist mir ein Abschiedswort, als er auf eine für ihn ehrenvolle Vortragsreise ging: „Beten Sie für mich.“ Und als ich stumm blieb: „Ja, beten Sie für mich; idia doxa (eigene Ehre), idia doxa! Da wird man alt und geehrt und wird zu so etwas aufgefordert. Beten Sie für mich, daß ich nicht verloren gehe.“ Unvergeßlich auch seine Bibelstunde in der Studentengemeinde über Kol.-Brief Kap. 3, V. 20: „Ihr Kinder, seid gehorsam den Eltern in allen Stücken“, in der er sagte: „Ich kenne einen Menschen, der eines Tages niederfiel und zu Gott schrie: Erbarme dich meiner, erbarme dich meiner, ich kann meine Mutter nicht mehr lieben, so böse bin ich. Erbarme dich meiner! Daß wir anderen nur kein Skandalon (Anstoß) geben, an dem ihr Glaube Schiffbruch leidet!“
Als Propst wurde er mit so manchen Verfehlungen von Pfarrern befaßt. Er litt um jeden Einzelnen, bis zum körperlichen Leiden. Wie zitterte er für jeden Einzelnen in dem Wissen um das eigene böse Herz und das Gericht. Ich habe ihn nie über einen Menschen richten hören. Auch wo ihm krasse Sünde entgegentrat und er im Amte energisch zugreifen mußte, gab er keinen verloren, denn „ich bin ein verlorener und verdammter Mensch, erworben, gewonnen, …“. Er konnte wohl sagen: „Wir werden gar nicht immer besser, gerade umgekehrt ist es. Es geht Schritt für Schritt in die Tiefe. Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“ — Er flüchtete sich zu diesem Wort, das uns vor uns selbst behütet.
Darin war er wahrhaft frei. In dieser schlichten Abhängigkeit von dem Zuspruch des Evangeliums trat er anderen frei gegenüber, nüchtern und klar. Wo es um dieses Evangelium ging, das die Gottlosen gerecht spricht, kannte der feinnervige Gelehrte keine Menschenfurcht. Als 1948 die Welle des sogenannten Volksbegehrens das Land erfüllte, jede Gegenpropaganda unmöglich war und viele sich von der Angst bestimmen ließen, rief er als einziger Professor in Halle seinen Studenten im Kolleg zu: „Fürchtet allein Gott in eurer Entscheidung. Fürchtet nichts. Ich gehe jedenfalls nicht hin.“ Und ein paar Tage danach wiederholte er diesen Ruf zur Furcht Gottes ausführlich in einer Predigt. Und nicht ohne Humor erzählte er von einem Gespräch mit einem Offizier der Besatzungsmacht, in dem dieser fragte, warum so manche Angehörige der Intelligenz nach dem Westen gingen? „Sie fürchten sich.“ „Warum fürchten? In unserer Zone braucht niemand Angst zu haben.“ Und Schniewind antwortete unbekümmert: „Ja, das finde ich auch, es braucht sich niemand zu fürchten.“ Diese Furchtlosigkeit empfing er von dem, der allein zu fürchten ist. Seine Natur hatte ihn gewiß nicht zum Helden bestimmt. Daß er in der Ostzone, in Halle-Wittenberg, als Professor blieb, stand für ihn fest. An Versuchungen und Rufen in die Westzone fehlte es nicht. Er sah, was ihn dort reizen könnte, aber schlug alles aus: „Die cathedra Lutheri (Luther war ja Professor der Heiligen Schrift in Wittenberg) gibt man nicht so leicht auf.“ Als freigemachter Hörer des Wortes Gottes gab er die Gewissen anderer ebenso frei. — „Ihr Gewissen reagiert da anders als das meine“, sagte er einmal, „aber ich sehe, Sie sind durch Gottes Wort gebunden. Ich werde alles tun, um Ihre Sadie und Ihren Antrag dem Bischof und der Kirchenleitung vorzulegen.“ Er tanzte von Jugend an nicht und konnte das auch schlicht erzählen, aber er legte niemandem ein Joch damit auf. Er ließ die „Mitteldinge“ frei für jeden, allein darauf bedacht, daß in allem Christi Name gepriesen werde. Derselbe Mann, der so großzügig und tolerant war, so frei von jeder Gesetzlichkeit und Enge, wagte es aber auch, unerbittlich streng zu werden, wenn es um die Freiheit des Evangeliums ging.
Natürlich stand er im Kampf der Bekennenden Kirche. Am Tage nach Hitlers Ernennung zum Kanzler begann er sein Kolleg mit den prophetischen Worten: „Große Dinge sind geschehen. Wie lange wir noch lesen können? Gehen wir an die Arbeit!“ Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. 1934 rief er vor versammelter theologischer Fachschaft einem nationalsozialistischen Professor und Denunzianten zu: „Und nun gehen Sie hin zur Gestapo und zeigen Sie mich an, aber lassen Sie wenigstens die anderen in Ruhe.“ Ungescheut trat er dem Gauleiter Erich Koch entgegen. Gegen das Verbot nahm er an Freizeiten der Bekennenden Kirche für Theologiestudenten teil, die die Ersetzung zahlreicher Dozenten durch deutsch-christliche Ideologen wettmachen sollten. In schlichter Selbstverständlichkeit übertrat er das Verbot Heinrich Himmlers und prüfte heimlich in den Prüfungsausschüssen der Bruderräte die jungen Theologen mit. Fröhlich ertrug er unter aller Trauer um sein Volk die Maßregelungen des 3. Reiches: Strafversetzung, Gehaltsentzug, ein Jahr lang Vorlesungsverbot. Er betete täglich gegen den Tyrannen und die Tyrannei, aber er war weder verbittert noch resigniert. Ein Universitätsprofessor, der in all den Jahren nach 1933 bis 1948 fröhlich und getrost an seine Sache glaubte inmitten einer Schar müder und halb verzweifelter Kollegen, war eine köstliche Sache! Er wußte als der ständig Angefochtene und Mitleidende im Kampf um das Evangeliums entstand, war er dabei, mußte er dabei sein. So waren die Jahre 1933-1935 in Königsberg und Ostpreußen die Jahre der Evangelisation, die viele zu Lob und Preis und Bekenntnis des einen Jesus Christus aufriefen und zusammenschlossen. So wurde er später in dem Jahre des Vorlesungsverbotes in Deutschland bekannt durch seine Vorträge, Bibelarbeiten und Predigten auf Konferenzen und Rüstzeiten. So kostete er jeden Tag aus und befahl sein Geschick dem lebendigen Gott. Wo er in diesen Jahren mittat und mitkämpfte, trat der Evangelist auf den Plan und warb um die Herzen der Fernstehenden. Auf jener schon erwähnten Coburger Zusammenkunft referierte ein jüngerer Theologe über die Gründe und Voraussetzungen des Kirchenkampfes. Es war eine saubere Darstellung der theologischen und kirchenrechtlichen Motive. In der Aussprache sprang Schniewind als erster auf: „Sie haben ja das Eigentliche vergessen. Warum sind wir denn angetreten? Weil uns Jesus Christus allein von Furcht, Tod und Sünde befreit hat und wir es nicht lassen können, das Evangelium von dem Gekreuzigten und Auferstandenen mit Wort und Tat aller Welt zu bezeugen, die unter der Gewalt des Bösen steht. Wie könnten wir anders leben als unter diesem Zuspruch, ihn empfangend und weitergebend!“
Die lutherische Rechtfertigungslehre war ihm die theologische Umschreibung dieser einen Grundtatsache: Gott spricht uns den ans Kreuz Gehängten als unser neues Leben zu. An dieser Stelle wurde er zum leidenschaftlichen „Lutheraner“. Aber gerade hierin wußte er sich mit dem reformierten Karl Barth und Paul Humburg einig und hatte in diesem Punkt Einwände gegen Adolf Schlatter und gewisse lutherische Theologen. Als der katholische Kontroverstheologe Josef Lortz, bekannt durch seine friedfertige Darstellung der Reformationszeit, nach Halle kam und im Una-sancta-Kreis über das Gemeinsame der beiden Konfessionen sprach, kam man auf die Sündenlehre. In die Enge getrieben, meinte Lortz: Der heilige Paulus habe doch wohl allzusehr die Sünde ins Zentrum der Theologie gestellt. Jesus habe etwas freundlicher über den Menschen gedacht. Das werde gewiß Kollege Schniewind als Neutestamentler bestätigen. Ich höre noch Schniewinds Worte, als er mir über diese Szene berichtete: „Ausgerechnet ich sollte ihm das bestätigen!“ Und Lortz erhielt eine andere Antwort, als er erwartet hatte. Noch in dem letzten Jahre seines Lebens sagte er im Blick auf die Abendmahlsgespräche innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland; „Es geht darum, daß wir nicht das „heilige Ding“, die materia coelestis (die himmlische Materie) im Abendmahl lehren, statt des Zuspruchs der Vergebung, die Er in Person ist.“ Wer die Rechtfertigung der Gottlosen den Geplagten und Ermatteten heute als die frohmachende Botschaft zurufen könnte! Sie suchte er in den Predigten der anderen und war rührend dankbar für die bescheidenste Predigt, wenn er diese Stimme hörte, und betrübte sich über ihr Fehlen auf so vielen Kanzeln. Weinend sagte er mir vor seinem Tode: „Es werden immer nur wenige sein, die sie predigen.“ Er, der so viel tröstete, suchte persönlich diesen Zuspruch. So blieb er ein Kind bis zuletzt, das von des Vaters Wort allein leben kann.
„Er ist unsere Heiligung“. Wo hat man von dem Geheimnis der Heiligung so reden hören? Er stand mit dem Zuspruch, daß Jesus Christus selbst unsere Rechtfertigung, also auch unsere Heiligung ist, auf Konferenzen und Freizeiten meist allein. Ein Pfarrer der neuen Heiligungsbewegung schickte ihm einst seine, später eine gewisse Berühmtheit erlangende, Broschüre im Manuskript zu mit der Bitte, dazu ein Vorwort zu schreiben. Schniewind geriet in Zorn: „Was denkt der sich eigentlich! Wie kann ich zu einem Buche das Vorwort schreiben, das auf jeder Seite den articulus stantis et cadentis ecclesiae (den Grundartikel der Kirche, mit dem sie steht und fällt), die Rechtfertigung der Gottlosen angreift!“ Die Verharmlosung der Sünde konnte er nicht ausstehen. Der geringste Gedanke ist ja ein Zeichen unseres bösen Herzens. Wie könnte man sich der Illusion hingeben, mit dieser Realität aus sich oder auch im Bewußtsein eingegebener Gnadenkraft fertig zu werden. Wie konnte er leidenschaftlich auftreten gegen die Selbstberuhigung des protestantischen Menschen, der sich eigenmächtig die Sünde vergibt und mit seiner Sünde im Namen der Vergebung Frieden schließt! Der modernen Heiligungsbewegung warf er nicht zu viel, sondern zu wenig Ernst in den kleinsten Dingen vor! Gegen unsere Sünde streitet allein der Sieger Jesus von Nazareth. Seinen Sieg gelten zu lassen und sich an das Siegeswort zu halten, das Ihn verkündigt, hieße in der Heiligung stehen. Alle pietistische Verkrampftheit war ihm, der sich stolz einen Wuppertaler Pietisten nannte, ebenso fremd wie die moderne pseudo-evangelische Weltoffenheit, die nichts weiß vom Jüngsten Gericht, das uns nach unseren Worten und den geringen Taten fragen wird. „Jesus ist der zukünftige Weltenrichter“, mancher Theologiestudent erschrak vor dem Ernst, mit dem er diesen kommenden Richter predigte. Den Stolzen war diese Botschaft zu düster, viele gingen da nicht mit. Den angefochtenen, bedrängten und bekümmerten Gewissen aber war solch Wort Warnung und Trost zugleich. Oft war es in seinen Kollegs totenstill; der Gelehrte und der Zeuge fielen bei ihm zusammen.
„Andere schreiben Bücher, ich muß für meine Studenten da sein.“ Entdeckt wurde er von Studenten, um seinetwillen kamen sie nach Königsberg und Halle. Er führte die Tradition der Studentenseelsorger Tholuck und Kähler weiter. Wie oft kamen wir in sein Haus, immer mit gleicher Liebe aufgenommen, und wie umgab er den mit heimlicher Sunde Beschwerten mit seiner überwindenden Güte und machte den Verzagten Mut, das Evangelium auch für sich selbst zu glauben. Wie hörte er auch unseren unreifen und verworrenen Ansichten geduldig zu. Allerdings: oft passierte es, daß er auf eine Frage antwortete, die sein Partner gar nicht ausgesprochen, aber die Schniewind als das Eigentliche im Herzen des anderen erkannt hatte. Dann ging man erschrocken und bekümmert zugleich weg. Von Gott sprach er betend; sicher hat er in den vielen Gesprächen seiner Sprechstunde seine Worte mit stillen Seufzern begleitet, und oft betete er mit seinen Besuchern zum Schluß, ohne doch ein Gesetz daraus zu machen. Solch Beten geschah in biblischen Worten, meist Psalmstellen, und war ein Seufzen und Schreien, Loben und Danken. „Wie kann man eigentlich anders beten?“ Darum war er auch uns Jüngeren in diesen Gesprächen Freund und Bruder. Und Beichtgespräche waren ein gemeinsames Sichtröstenlassen. Für Beichtordnungen, wie man sie heute liebt, hatte er wenig Sinn. Er sprach dagegen oft von der mutua consolatio fratrum (der wechselseitigen Tröstung der Brüder). Oft wurde ein Gespräch zur Beichte, weil er jeden ernst nahm, als von Gott geliebten und in sich selbst verlorenen Menschen. Mancher Pfarrer und mancher Student, der sich von Schniewind sorgfältig fernhielt, hat nie geahnt, daß da einer war, der um ihn rang, ob er wohl gerettet würde. Tagelang war er zu innerst erschüttert über jenen Pfarrer, der ihn auf dem Sterbebette noch skeptisch gefragt hatte, „ob Jesus wohl Gottes Sohn gewesen sei“. Und im Blick auf einen anderen, dessen Tod mit der Enthüllung verborgener, schandbarer Dinge zusammenfiel, sagte er mir: „Für meine Hoffnung, daß er errettet wird, habe ich nur ein tröstendes Zeichen: er hat das Abendmahl auf dem Sterbebette abgewiesen. Es könnte ja sein, daß dies ein letzter Schrei um Erbarmen des sonst so Sicheren war.“ Und als er in den letzten Tagen seines Lebens in der Klinik erfuhr, daß einer seiner Superintendenten ebenfalls dort mit dem Tode rang, war seine ständige Sorge, daß einer diesen besuchte, um ihm den Trost in die letzte Anfechtung hinein zuzusprechen.
Er war ein geplagter Mann wie Mose, vor allem in den Jahren 1945-1948. Auf die inständige Bitte der Kirchenleitung übernahm er im Jahre 1946 zu seiner Professur hinzu noch das Propstamt und wurde der Seelsorger von etwa 200 Pfarrern. Viele kamen zu ihm, viele lud er zu sich ein, viele hat er besucht. Ein Privatleben hatte er in diesen Jahren kaum noch. Wie gern wäre er etwa in Konzerte gegangen, wie gern hätte er, der hochbegabte Musiker, der ursprünglich einmal Künstler werden wollte, öfter musiziert. „Es ist jetzt nicht die Stunde dazu. Mag sein, daß sie wieder einmal kommt. Jetzt müssen wir das Wort Gottes treiben, solange es Tag ist.“ Die Strapazen der vielen Reisen —eine Marter in den überfüllten, beschädigten, ungeheizten, unbeleuchteten und nur mit großer Verspätung ankommenden Zügen — ertrug er gelassen. Ich habe ihn nie darüber sich beklagen hören. Schmerzlich war ihm nur die Versäumnis so vieler kostbarer Stunden. Und als er, der 63-Jährige, im Kreise wohlhabenden Großbürgertums aufgewachsen, einmal im Winter durchs Fenster in den Zug klettern mußte und sich dabei eine ernstliche Verletzung zuzog, ertrug er sein Mißgeschick scherzend. Dabei war sein Leben ein ständiges Ringen mit den Krankheitsmächten. Bei dem seelisch Labilen wirkte sich jede Depression auch körperlich aus. Zuletzt trat ein schmerzhaftes und ihn innerlich niederdrückendes Blasenleiden hinzu. Die letzten Wochen waren sehr qualvoll, zumal die Ärzte den Ernst der Erkrankung verkannten. Als wieder ein Anfall kam und er vor Schmerzen stöhnte und wimmerte, stieß er heraus: „Ich will doch zuletzt meinem Gott keine Schande machen.“ Und kurz vor seinem Tode sagte er mir, es war das letzte Gespräch: „Ich kann nicht mehr beten, der Schmerz ist zu groß. Aber ich klammere mich an den, der allezeit für mich betet.“ Und dann ließ er sich Psalmworte vorsprechen, in denen er so oft für einen anderen gebetet hatte.
Er war schon in den Königsberger Jahren zum Sterben fertig. Nicht aus Lebensüberdruß. Er lebte gern, und noch mehr freute er sich mit den Fröhlichen. Bei unserem letzten Abschied rief er, der Sterbende, mir noch nach: „Und nun gehen Sie noch ein bißchen zu den beiden Glücklichen“ (ein jung verlobtes Paar, das draußen wartete). Seine Todesbereitschaft fiel unmittelbar zusammen mit dem Wissen um die Gegenwart Gottes. Vor Ihm sind tausend Jahre wie ein Tag, und dieser ist in seinem Wort und Sakrament mitten unter uns. Tod ist Gerichtsurteil Gottes, und dieses Todesurteil, am Kreuz vollzogen, ist die Botschaft unseres Heils. Auf dieses Urteil bezogen war er dankbar für alles in Gottes Schöpfung. Einst zitierte er als Strafversetzter 1935 in Kiel im Kolleg: „Was sind dieses Lebens Güter, ein Hand voller Sand, Kummer der Gemüter.“ Offenbar machten die Studenten etwas verständnislose Gesichter, und Schniewind rief lebhaft, übersprudelnd, fröhlich und ernst zugleich: „Sie glauben das nicht? Ziehen Sie erst einmal um, dann merken Sie es!“ Gerade hatte seine Frau alle Möbel usw. im Möbelwagen verpackt, um ihm nach Kiel zu folgen, als der Preußische Kultusminister mitteilte, er müsse den Wanderstab von dort weiter setzen! Ein Sohn starb ihm an Kriegsfolgen. Wenig hat er zu Fremden von diesem Erleben gesprochen. Tat er es aber einmal, so hörte man, wie er mit der Macht und dem Grauen des Todes rang. Der Tod ist der Feind, der zuletzt überwunden werden wird. Er sehnte sich nach der Auferstehung und wartete auf das Wiederfinden vor Gottes Thron. „Aber wie will ich meine Mutter wiedersehen? Alt, jung? Was aufersteht, ist das von Christus neu geschaffene Ich. Dieses wiederzufinden, danach sehne ich mich.“ Unvergeßlich eine Abendstunde, in der er ein paar Kompositionen von sich, Choralsätze, spielte. In ihnen klang das ganze Warten eines Menschen, der seine Hoffnung allein auf den kommenden Christus setzt. In solcher Hoffnung trauerte er um die vielen, die von seinen Hörern in diesem Krieg gefallen waren, und hielt sie alle in einem treuen Gedenken. Von denen, die das von ihm überkommene Erbe auf Dozentenstühlen hätten fortsetzen können, waren ja die meisten nicht mehr am Leben.
Von dem Wissen um die Auferstehung her war sein Familienleben geprägt. Seine Ehe war eine lebendige Predigt des 6. Gebots, das uns einander zu lieben und vor allem zu ehren gebietet. Keiner seiner Studenten wird das je vergessen. Aber zugleich war er völlig frei von jedem Familienkult in gröberer oder feinerer Form. Der Dienst des Evangeliums, der ihm absolut geboten war, ließ alles andere relativ und diesem Dienste untertan sein. Über seiner Ehe stand jene Predigt, die Paul Humburg einmal über das frei zusammengesetzte Wort aus 1.Mose Kap. 12 gehalten haben soll: „Und Sarah zog mit.“
Er war ein Segensträger. Aber indem ich das niederschreibe, höre ich seine Worte: „Unsere bösen Taten kommen aus uns selbst, unsere guten Taten aber kommen von Gott. Die Gottlosen sagen zu ihren guten Werken: hoc ego feci (das habe ich getan). —“ Und leidenschaftlich haben Pastoren gerade diese These immer wieder abgelehnt. Er, der nicht müde wurde, von seinem Lehrer Martin Kähler ehrfürchtig zu erzählen, konnte auch einmal sagen: „Da redet man von frommen Menschen, die durch Gottes Gnade gerecht und heilig geworden sind. Ich weiß doch ganz genau, was Martin Kähler eigentlich war, und er hat es doch auch gewußt.“ „Der Segen Gottes geht trotz unseres bösen Herzens über unseren Kopf weg und ist das Wunder, das uns zum Glauben ruft.“ „Wie sieht denn die Erfüllung der Bergpredigt aus?“ Er erzählte uns einmal im Kolleg von einem Königsberger Pfarrer, der von seinem Gemeindekirchenrat in übelster Weise verleumdet wurde und darüber in tiefe Verbitterung und Groll geriet. Kurz danach erkrankte er tödlich. Wenige Stunden vor seinem Tode, erwacht und frei von Fieber, sagte er plötzlich: „Ich kann ihnen ja gar nicht mehr böse sein; ich kann ihnen ja gar nicht mehr böse sein.“ Unsere Gebotserfüllungen sind die Wunder, die Gott in Christus schafft für die Armen und Elenden. Er kannte sich nicht anders als den Menschen, der vor Gott arm ist, aber noch besser kannte er den, der reich ist über alle, die ihn anrufen. Darum geht sein Zeugnis weiter — nicht nur in seinen Büchern, etwa den Auslegungen des Markus- und Matthäus-Evangeliums — und ist in seinem Vorbilde lebendig.
„Gedenkt eurer Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben. Ihr Ende schaut an und folget ihrem Glauben nach.“ Sein Tod ließ manchen Mann weinen, und mancher schlug die Geschichte von der Himmelfahrt Elias auf in 2. Könige Kap. 2, und rief mit Elisa: „Mein Vater, mein Vater, Wagen Israels und seine Reiter.“ An seinem Sarge wurde gepredigt über das Wort: „Jesus Christus ist uns von Gott gemacht zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung.“
Quelle: Hans Lilje (Hrsg.), Begegnungen, Nürnberg: Laetare Verlag, 1949, S. 106-117.