Grund zur Freude. Eine Meditation über Philipper 4,4 zur Freiheit der Kirche in der Gesellschaft
Von Walter Kreck
»Freut euch in dem Herrn allezeit!« (Philipper 4,4). Das ist der Grundton des Briefes, den Paulus in der Mitte des ersten Jahrhunderts nach Chr. an die Gemeinde in Philippi schrieb.
Dieser Appell ist eine unerhörte Zumutung, denn wie kann ein Mensch, auch wenn er der glücklichste auf Erden wäre, sich allezeit freuen? Viel ehrlicher erscheint es uns, wenn Goethe von sich bekennt, daß er wohl nur einige Wochen in seinem langen Leben wirklich glücklich gewesen sei.
Paulus aber war kein Dichterfürst, sondern eine Art Wanderprediger, der damals als Gefangener (wohl in Ephesus) einem ungewissen Ausgang seines Prozesses entgegensah, und die kleine mazedonische Gemeinde bangte mit guten Gründen um das Leben des Apostels und um ihre eigene gefährdete Existenz. Paulus wußte nicht, ob er mit einem Freispruch rechnen konnte oder dem Todesurteil entgegenging. Er hatte auch mit seinen christlichen Brüdern nicht nur gute Erfahrungen gemacht, sondern er spricht von solchen, die sein apostolisches Wirken mit Eifersucht und Neid begleiteten, ja, ihn im Stich gelassen hatten.
Die Gemeinde in Philippi war also nicht nur von außen angefochten, sondern auch von innen. Paulus spricht von »Feinden des Kreuzes Christi«, die mit ihrer Gesetzesfrömmigkeit dem von ihm verkündigten Evangelium von der freien Gnade Gottes widersprechen und für die der Apostel das rote Tuch ist. Also nicht nur sein Leben ist bedroht, sondern auch der Fortgang seines Werkes als Heidenapostel ist ungewiß.
Kurz, es besteht Grund genug, zu klagen und zu resignieren. Aber stattdessen ein zuversichtlicher Apostel, der die Gemeinde aufruft, sich mit ihm zu freuen. Wie ist das möglich?
So fragen wir, die wir doch nach fast 2.000 Jahren Kirchengeschichte ganz andere Aktivposten zu haben meinen. Statt der kleinen Gemeinden an den Rändern des Mittelmeers, die in der Völkerwelt des römischen Reiches kleiner oder nur einer marginalen Notiz gewürdigt wurden und noch lange in ihrer Existenz bedroht waren, leben wir in einer weltweiten ökumenischen Christenheit, die aus der Menschheitsgeschichte, an der sie zum Guten oder Bösen vielfältig mitgewirkt hat, nicht wegzudenken ist.
»Christliche Werte« scheinen gefragt zu sein, und die Kirchen haben noch immer gerade in den führenden westlichen Industrienationen eine beachtliche Stellung, zumal nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten.
Und dennoch: Ist die Welt soviel anders geworden seit jenem Imperium Romanum, das durch seine militärische Macht, seine Wirtschaftskraft und seine kulturelle Herrschaft die Völker im Griff hielt? Ist der Einfluß derer, die mit Ernst Christen sein wollen, auf Krieg und Frieden, auf Produktionsverhältnisse und Verteilung von Gütern, auf die Medienwelt und den herrschenden Zeitgeist nicht sehr begrenzt und vor allem die Christenheit selbst so zerrissen und gelähmt, daß man sehr bezweifeln möchte, sie sei – wie ihr verheißen – »Salz der Erde« und »Licht der Welt«?
Zwar ist die Stimme des Evangeliums nicht zum Schweigen gekommen, und der Brief des Apostels wie überhaupt die Bibel gehört zur Weltliteratur, aber ist sie für und eine überschwengliche Freudenbotschaft wie für Paulus?
Alles kommt darauf an, zu begreifen, wo für den Apostel der Grund seiner Freude liegt, nämlich »in dem Herrn«. Und was er damit meint, das sagt konzentriert das Christuslied Philipper 2,5ff., in dem man wohl mit Recht einen urchristlichen Hymnus erkannt hat. Damals gab es gewiß noch keine systematische entfaltete Christologie, wie sie in den folgenden Jahr- hunderten in Bergen theologischer Literatur entworfen wurde, und dennoch wird das Christusgeschehen hier in wenigen Versen umschrieben und auf den Punkt gebracht, indem die Selbsterniedrigung und die Erhöhung Jesu Christi besungen wird. Der Grund für die Freude des Apostels ist der hier vollzogene radikale Machtwechsel. Christus hielt seine »göttliche Gestalt« nicht wie einen Raub fest, sondern entäußerte sich, nahm Knechtsgestalt an und ward gehorsam bis zum Tod am Kreuz.
Das Neue Testament läßt uns nicht im Zweifel über die einzigartige Hoheit dieses Gottessohnes – unser Text spricht von seinem »Gottgleichsein«, und die Evangelien zeichnen ihn als den, der in unerhörter Vollmacht verkündigte und mit Zeichen und Wundern das Kommende Reich Gottes ansagte.
Aber nicht darauf legt dieser Christushymnus den Akzent, sondern auf den, der sich aller sichtbaren Herrlichkeit entäußert, der nicht den Weg nach oben, sondern nach unten geht, in die Tiefe menschlichen Elends und in die Gemeinschaft mit Ausgegrenzten und Schuldiggewordenen, ja, bis zum Verbrechertod am Galgen.
Deshalb ist das Wort vom Kreuz für uns ein Ärgernis und eine Torheit, weil es unserer rücksichtslosen Selbstbehauptung, unserem Drang nach oben und dem Geist unserer Ellenbogengesellschaft diametral widerspricht und uns mit dem konfrontiert, der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben für die Vielen hinzugeben.
Aber gerade diesen Ausgestoßenen und Gekreuzigten, also nach menschlichen Ermessen endgültig Gescheiterten, der mit dem Ruf: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« auf den Lippen stirbt, hat Gott auferweckt, erhöht und zum Kyrios eingesetzt, dessen Namen alle Zungen bekennen und vor dem sich alle Kniee beugen werden.
Als dem Verfolger der Gemeinde, Saulus, dieser Jesus Christus begegnete und er die Stimme vernahm: »Saulus, was verfolgst du mich«, da brach ihm eine Welt zusammen und eine neue Wirklichkeit erschloß sich ihm. Was ihm bisher als Gewinn erschien, seine Abstammung aus dem erwählten Volk, seine Leistung nach dem Gesetz, seine eigene Gerechtigkeit, das achtete er nun als Schaden und Dreck, gemessen an der Erkenntnis Jesu Christi (Phil 3,5ff). Die Gerechtigkeit aus Glauben an Christus, die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden – das alles ist der Quell seiner Freude und der Grund seines Rühmens.
Die Berufung auf dies Christusgeschehen ist also für Paulus nicht nur die Erinnerung an ein ergreifendes Ereignis, an das tragische Schicksal eines großen Propheten und der Appell zur Nachfolge eines selbstlosen Märtyrers, sondern die Proklamation eines Himmel und Erde umspannenden radikalen Machtwechsels. Ja, es geht um mehr als einen Machtwechsel, d.h. eine Revolution, bei der die Machthaber ausgetauscht werden, denn der Begriff Macht wird ganz neu definiert. Während es bei uns selbstverständlich ist, daß dem die Macht zufällt, der sich selbst durchzusetzen vermag, der um jeden Preis sein Leben erhalten will, wird sie hier dem zugesprochen, der sich freiwillig dienend hingibt. Hier ist das bei uns herrschende Weltgesetz aus den Angeln gehoben, hier kommt es zur großen Götzendämmerung, weil die Allmacht des lebendigen Gottes sich erweist in der Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart.
Paulus spricht zu den Philippern von dieser Macht nicht wie von einer Idee, sondern wie von einer Wirklichkeit, die sie, indem sie Christen geworden waren und sich auf den Namen dieses Herrn taufen ließen, im Grunde längst anerkannt haben. Wer sich zu dem Gott bekennt, der den gekreuzigten Christus auferweckt und erhöht hat, dem ist der Star gestochen, der ist aus der Finsternis zum Licht gedrungen, der ist von neuem geboren. Hier kann man wirklich zur Freude aufrufen, weil es nicht an jemandes Wollen oder Laufen liegt, sondern an Gottes Erbarmen, denn »Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt« (Phil 2,13).
Der Apostel kann, weil der Grund zur Freude nicht in uns liegt und alles eigene Verdienst ausgeschlossen ist, von der Gotteskindschaft unbefangen reden und nicht nur von sich sagen, daß ihn Christus ergriffen habe (3,12), sondern auch von dem guten Werk sprechen, das Gott in der Gemeinde in Philippi begonnen habe und auch vollenden werde (1,6).
Aber er redet von alledem nicht wie von »Heilstatsachen«, d.h. von in sich ruhenden, abgeschlossenen, historisch feststellbaren Fakten, sondern es heißt zugleich: »Nicht daß ich schon ergriffen habe oder schon vollkommen bin …« (3,12). Und der Gemeinde ruft er zu: »Schafft mit Furcht und Zittern eure Rettung!«, gerade weil es Gott ist, der das Wollen und Vollbringen bewirkt. Weil Gottes Kraft in Christus am Werk ist, darum gibt es keine in ihm, in Paulus, in seinem Glauben und Wirken begründete Sicherheit, keine auf die Glaubenserfahrung sich stützende Heilsgewißheit.
»Ich kann nicht an meinen Glauben glauben«, sagte Karl Barth einmal, d.h. nicht an den erfahrenen Glaubensakt, sondern »ich kann meinen Glauben nur glauben«. Aber die von Luther mit Recht so bezeichnete »passive« und »fremde« Gerechtigkeit ist keine abstrakte Idee, sondern die mich ergreifende und verändernde Wirklichkeit und der Glaube »ein lebendig und geschäftig Ding«. »Der Glaube allein rechtfertigt«, so heißt es bei Luther, aber »der Glaube ist nie allein, sondern in der Liebe tätig«.
Der Grund seiner Freude wird von Paulus lapidar zusammengefaßt in dem Bekenntnis: Christus ist mein Leben! (1,21). Sein »Leben im Fleisch ist bestimmt, umfangen und beschlagnahmt von Christus, er ist an seine Stelle getreten, so daß – wie es Galater 2, 20 heißen kann – nicht ich eigentlich mehr lebe, sondern Christus in mir. Das bedeutet nicht eine Auslöschung seiner Existenz, sondern ihre Indienststellung, ihre Neugründung und Ausrichtung auf ein Ziel hin, nämlich zur Verherrlichung Jesu Christi. Das Leben der Christen als »lautere und fleckenlose Kinder Gottes mitten in einem verkehrten und verwirrten Geschlecht«, in dem sie »leuchten wie die Gestirne des Weltraumes«, wenn sie festhalten am »Wort des Lebens« (2,15f.), ist keine Fortsetzung oder Wiederholung des einzigartigen Christusgeschehens, seines Todes und seiner Auferweckung und Erhöhung, aber es ist eine Bewegung, die diese große rettende Tat Gottes verkündigt, ihr in Zeugnis und Dienst entspricht, also keine gequälte und verkrampfte Leistung, sondern ein freudiges und verheißungsvolles Beginnen. Das Gelingen hängt nicht vom sichtbaren Erfolg ab, sondern entscheidend ist, daß Richtung und Ziel stimmen.
Wenn Paulus die Gemeinde in Philippi zu einem Leben, das »des Evangeliums würdig ist« aufruft (1,27) und dabei auf sein Vorbild hinweisen kann, so legt er sie damit nicht auf ein christliches Charakterbild, auf religiöse Bräuche, auf bestimmte Gemütszustände fest, sondern er nennt vielmehr konkrete, Verhaltensweisen im täglichen Umgang mit den Mitmenschen, die er als Gemeinschaft mit den Leiden Christi, mit der Schmach des Kreuzes versteht. Es ist eher ein Abstieg, als ein Weg nach oben, es ist ein Kampf, der mit den eigenen alten Adam geführt werden muß, wenn er vor Ehrgeiz und Prahlerei warnt und zur Hochschätzung des anderen und zur Eintracht mahnt.
Wir wissen von Paulus (aus dem 2. Korintherbrief), daß er die Versuchung eines »christlichen« Hochmuts kennt, die gerade den bedroht, der sich tiefer theologischer Erkenntnis und reicher, überschwenglicher Erfahrungen erfreut, so daß er sich seiner hohen Offenbarungen rühmt. Er hat selbst wiederholt Gott gebeten, eine schwere, seinen Dienst als Apostel belastende gesundheitliche Behinderung von ihm zu nehmen, aber sich sagen lassen müssen: »Meine Gnade genügt dir, denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit« (2. Kor 12,9). Darum kann er barmherzig mit seinen Nächsten umgehen und es als Gefangener ohne Verbitterung ertragen, daß christliche Brüder hinterhältig und aus Rechthaberei mit ihm konkurrieren und ihn, den Gefangenen, demütigen wollen (Phil. 1,15ff)
»Wenn nur Christus gepredigt wird, ob in unlauterer oder lauterer Absicht«, kann er sagen in der Gewißheit, daß Gott auch unser unvollkommenes Werk annehmen und gebrauchen kann und das letzte Wort und Urteil über uns und andere Christus sprechen wird.
Aber diese Geduld hat eine unübersehbare Grenze, nämlich da, wo die Christusbotschaft im Kern verfälscht wird. So stehen mitten in diesem freudigen, zu Demut und Nachsicht aufrufenden Philipperbrief schneidend scharfe Sätze. Der Apostel warnt vor den »Hunden«, den »Werkgerechten«, den »Feinden des Kreuzes Christi«, deren Ende das Verderben, deren Gott ihr Bauch, deren Herrlichkeit ihre Scham ist, deren Sinn auf das Irdische und nicht auf das »Bürgerrecht im Himmel« gerichtet ist (Phil. 3,2 und 18f.)
Verträgt sich das mit dem Grundtenor dieses Schreibens? So möchte man fragen, wenn wir beachten, daß hier nicht ein Zornesausbruch des Apostels gegen Laster der heidnischen Umwelt erfolgt, sondern er sich – bei al lern Drängen auf die Gemeinde – unerbittlich abgrenzt gegen Menschen, die offenbar Christen sein wollen, ja, die mit besonderem Ernst und Eifer nach Gerechtigkeit trachten, allerdings einer Gerechtigkeit durch Gesetzeserfüllung.
Nicht unmoralische Zuchtlosigkeit, nicht sinnliche Genußsucht scheint Paulus hier im Auge zu haben, sondern ein die Glaubensgerechtigkeit angeblich überbietendes, aber in Wirklichkeit sie verleugnendes religiöses oder sittliches Streben, das mit der Botschaft vom Kreuz in unüberbrückbarem Konflikt steht. Also doch nicht all- seitige Verbrüderung, nicht Toleranz nach allen Richtungen hin. nicht autonome Freiheit, sondern Prüfung der Geister im Sinn des Wortes: Alles ist euer, ihr aber seid Christi!
Wir wissen, wie rasch oft die Kirchen in der Geschichte unter Berufung auf die gebotene »reine Lehre« zu Gewissenszwang, zum Damnamus, zur Ketzerverfolgung bereit waren, und freuen uns der in der Moderne zunehmende religiösen Toleranz und der verfassungsmäßig geschützten Glaubens- und Gewissensfreiheit. Aber wir erleben es auch in der gewachsenen ökumenischen Bewegung, wie schwer es ist, die ersehnte und verheißene Einheit mit der faktischen und auch zu respektierenden Unterschiedenheit in Einklang zu bringen.
Die großen kirchlichen Bekenntnisse haben meist neben der in ihnen enthaltenen Bejahung auch Verneinungen und Abgrenzungen, und es kommt alles darauf an, an welchem Maßstab hier gemessen wird. Für Paulus ist offenbar entscheidend, daß das Reden und Handeln des Christen dem sich erniedrigenden Christus entspricht, der identisch ist mit dem Auferstandenen und Erhöhten. Hier im Philipperbrief legt Paulus den Akzent auf die Gemeinschaft mit den Leiden Jesu Christi, der sich diese »Vollkommenen« entziehen.
Es sind wohl eher die Judaisten und nicht die Libertinisten, denen Paulus hier scharf widersteht, indem er all das für Schaden und Kot erklärt, dessen er sich einst als eifriger Pharisäer rühmen konnte. Gerade jene Vorzüge sieht er nun als Verlust an, und die untadelige Gerechtigkeit ist in Wahrheit ein Vertrauen aufs »Irdische«. Ob man hier (mit Lohmeyer) auch daran denken kann, daß sich judaistische Tendenzen damals in politischer Bedrängnis empfehlen konnten, um unter dem Schutzschild der religio licita zu stehen, den das römische Reich dem Judentum gewährte, sei dahingestellt. Es geht dem Apostel jedenfalls um eine theologica crucis, die mit jeder theologica gloriae, auch und gerade einer »christlichen«, unvereinbar ist.
»Wo liegen heute die Fronten?«, so fragt H. Iwand angesichts der von Paulus mit Tränen konstatierten »Feindschaft gegen das Kreuz Christi« (Pred. Med. S. 275) und fährt fort:
»sind wirklich all die Beweise des Öffentlichkeitswillens der Kirche, von denen heute Presse und Reden überfließen – man denke nur an die geradezu zum kirchlichen und politischen Programmpunkt erhobene Formel vom christlichen Abendland! – Zeugnisse des Kreuzes Christi? Ist diese öffentliche Anerkennung der Kirche, deren wir uns erfreuen, darauf zurückzuführen, daß das Kreuz und die Theologie des Kreuzes so hoch im Kurse steht, und zwar jenes Kreuz, das nicht Symbol ist, das man nicht sichtbar tragen und zeigen kann, sondern eben ›das Kreuz Christi‹, das im Leiden und Abbau des natürlichen Menschen wirksam wird, jenes Nadelöhr, durch das jedermann hindurch muß und bei welchen man alles, was man hat und hatte, auch die Verdienste des Martyriums, hinter sich lassen muß, wenn anders man ganz und allein von Christus und seiner Gerechtigkeit leben will?«
Wird diese Frage nicht heute nach der »Wende«, in der die Kirche auf dem Wagen des Siegers zu sitzen meinte, und nach der inzwischen erfolgten Ernüchterung, in der sie um ihre Sicherheit zu bangen beginnt, noch dringlicher, da sie versucht ist, diesen Maßstab der theologia crucis aus dem Auge zu verlieren und zu vergessen, daß ihr »Bürgerrecht im Himmel« ist (3,20)?
Wie kann, so möchte man wohl fragen, eine solche Kreuzestheologie zur Freude führen?
In der Tat gibt es auch eine theologia crucis, die erst recht zu verkrampfter Gesetzlichkeit neigt und keineswegs befreit. Das ist dann der Fall, wenn vergessen wird, daß der bis zum zum Kreuzestod sich Erniedrigende zugleich der Erhöhte ist, dem sich alle Knie beugen werden.
Wenn Paulus von dem »Bürgerrecht im Himmel« spricht, so ist damit nicht eine abstrakte Transzendenz gemeint, die alles Leben auf dieser Erde bagatellisiert, sondern eher eine Zukunftsperspektive, die uns aber schon jetzt bis ins leibliche Leben hinein betrifft. Wenn er vom »Himmel« redet, so fährt er unmittelbar fort: »Von dannen erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter, der unseren armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines verherrlichten Leibes, in der Kraft, mit der er sich alles unterwerfen kann« (Phil. 3,21).
Das ist für ihn nicht eine resignierende Vertröstung auf ein fernes Ereignis, sondern die Erwartung des Kommenden, der bereits vor der Tür steht. »Der Herr ist nahe«, heißt es (4,5), und er spricht damit die glühende Hoffnung der Urgemeinde aus, die dabei nicht nur die Gegenwart des Herrn im heiligen Geist meint.
Ist das nach fast 2.000-jährigen Verzug der Parusie eine überholte Aussage, oder haben die recht, die daran erinnern, daß für Gott 1.000 Jahre wie 1 Tag sind, und in dem »Verzug« die Geduld Gottes am Werk sehen, nicht aber eine Rücknahme der Verheißung? Sollte hier nicht die Christenheit sich von Walter Benjamin an die Zukunftsauffassung des jüdischen Messianismus erinnern lassen, denn »in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte«? (Ges. Schriften I, S. 704). Wichtig ist für Paulus nicht die Spekulation über Endzeittermine, wie er auch nicht darauf fixiert ist, ob sein Märtyrertod nahe bevorsteht oder er weiterwirken darf als Apostel, sondern entscheidend ist, daß Christus verherrlicht wird – durch sein Leben oder durch sein Sterben.
Aus dieser Gewißheit erwächst die Freude, die ihn erfüllt und zu der er die Gemeinde in Philippi ermuntert. Sie erlaubt die große Sorglosigkeit, welche die Anfechtung wohl kennt, aber sie in Bitte und Danksagung zu Gott bringt. Sie macht frei zum offenen und gütigen Umgang mit unseren Mitmenschen und zum dankbaren Anerkennen dessen, was uns an »Gutem« in der Welt begegnet, »was immer wahrhaft, edel, recht, lauter, liebenswert und ansprechend ist« (4,8). Sie gibt uns aber auch die Kraft zum Widerstand gegen die »Feinde des Kreuzes Christi« im frommen Gewand.
In dieser Freiheit können wir auch in einer Gesellschaft, in der man Jesu Wort: »Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon« zwar zitiert, aber faktisch ins Gegenteil verkehrt, gegen den Strom schwimmen in der Gewißheit, daß Gott längst darüber entschieden hat, wen alle Zungen bekennen und wem sich alle Kniee beugen werden.
Quelle: Reformierte Kirchenzeitung, Nr. 2 (1995), S. 66-71.