Eberhard Jüngels Vortrag Das Salz der Erde. Zum Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde von 1978: „Es geht darum, dass die Kirche sich ihre politische Relevanz nicht erschleicht. Es gibt heutzutage eine gera­dezu obszön zu nennende Versessenheit auf politische Beachtung und ein Geilen nach »poli­tischem« Effekt. Dergleichen kann der wahren Bedeutung der Christengemeinde für die Bürgergemeinde nur Abbruch tun. Denn es pervertiert die Gemeinde Jesu Christi letztlich zu einem epitheton ornans, zu einem religiösen Prädikat der politischen Wirklichkeit.“

Das Salz der Erde. Zum Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde

Von Eberhard Jüngel

Von Jesus ist bekannt, daß er (nach Mk 12,13-17) den ihn observierenden »Pharisäern und Parteigängern des herodianischen Herr­scherhauses« empfohlen hat, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist – und Gott, was Gottes ist. Das war Jesu Antwort auf eine Fangfrage, mit der man ihn – ausgerechnet an seiner Stellung zur Steuer! – einer staatsfeindli­chen Gesinnung überführen wollte. Jesu Antwort »verblüffte«, wie Markus notiert. Sie war verblüffend einfach und gerade so außerordent­lich diplomatisch. Sie befriedigt den ehrlichen Fragesteller und führt doch zugleich den Gesinnungsschnüffler ad absurdum. Jesu verblüffen­de Antwort ist denn auch zur klassischen Ant­wort auf die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat, von Religion und Politik, von Christengemeinde und Bürgergemeinde gewor­den. Suum cuique, jedem das Seine: Gott, was Gottes ist. und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Es kann der Kirche, es kann vor allem aber dem Staat gar nichts besseres widerfahren, als beide so klar wie möglich voneinander zu unterschei­den. Gerade dann werden sie auch fruchtbar aufeinander bezogen sein. Dem Staat widerfährt eine ausgesprochene Wohltat, wenn wir ihm verweigern, was Gottes ist. Es ist bekannt, daß Christen staatsbejahende Menschen sind.

Weniger bekannt ist die Tatsache, daß Jesus (nach Lk 13,31) seinen Landesherrn »gelegent­lich in aller Ruhe einen »›Fuchs‹ zu nennen«[1] wagte. Offensichtlich gehört auch eine solche Sprache, die nicht nur die Dinge, sondern auch die »Staatsmänner« beim Namen, bei dem ih­nen zukommenden Namen nennt, zu dem, was ein staatstreuer und gottesfürchtiger Bürger der Staatsgewalt schuldig ist. Man würde dem Kai­ser nicht geben, was des Kaisers ist, wenn man ihm das Zeugnis der Wahrheit und also eine ehrliche Sprache vorenthielte. Mit Recht be­merkt Karl Barth, Jesus wäre dann »objektiv und faktisch ein Staatsfeind gewesen, wenn er es etwa nicht gewagt hätte, seinen Landesherrn Herodes gelegentlich in aller Ruhe einen ›Fuchs‹ zu nennen«[2].

Wir wollen von den vielfältigen, fruchtbaren, aber auch gefährlichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat, Christentum und Gesell­schaft, Glaube und Politik, nur einen einzigen, grundsätzlichen Aspekt bedenken, indem wir uns von jenen beiden Nachrichten über Jesu Verhältnis zur politischen Gewalt leiten lassen: der bekannten Nachricht, dergemäß dem Kaiser zu geben ist, was des Kaisers ist; aber nicht weniger der nicht ganz so bekannten Nachricht, daß Jesus seinen Landesherrn aus gutem Grund einen Fuchs zu nennen gewagt hat.

Der eine, grundsätzliche Aspekt, unter dem die spannungs- und folgenreichen Beziehungen von Christengemeinde und Bürgergemeinde bedacht werden soll, ist mit dem etwas an­spruchsvollen Titel angezeigt: Das Salz der Erde. Die Christen haben sich diesen Anspruch nicht selbst zugelegt. Er ist ihnen von ihrem Herrn zugesprochen worden. Und eben des­halb werden wir uns, auch auf die Gefahr hin, für unbescheiden zu gelten, um die anspruchsvolle Rolle nicht herummogeln dürfen, das Salz der Erde zu sein, Wir fragen also, was die Existenz der Christengemeinde für die Bürger­gemeinde bedeutet. Es gibt auch die andere, nicht weniger wichtige Frage, was die Bürger­gemeinde für die Christengemeinde, was das politische Leben für den Glauben bedeutet. Doch wir vernachlässigen für diesmal diese an­dere Frage, um wenigstens annähernd genau angeben zu können, was es bedeuten soll, wenn Jesus die Seinen das Salz der Erde nennt. Wohl­gemerkt: Salz, nicht Pfeffer! Der Welt Pfeffer zu geben, ist nicht die Aufgabe der Christen.

Ich habe dem Titel im Anschluß an eine be­rühmte Schrift Karl Barths den Untertitel »Christengemeinde und Bürgergemeinde« hin­zugefügt. Er soll deutlich machen, daß es nicht nur das Verhältnis der Institution Kirche zur Institution Staat gibt, sondern auch eine, sagen wir einmal: etwas weniger hierarchische Beziehung der christlichen Gemeinde zur Wirklich­keit des politischen Lebens. Im folgenden ist also, wenn von Kirche und Staat die Rede ist, immer auch die nicht weniger gewichtige Bezie­hung der christlichen Gemeinde zum politi­schen Leben auf unterer Ebene mitgemeint: eben ihre Bedeutung für die Bürgergemeinde. Ich will nun in vier Teilen die Bedeutung der Christengemeinde für die Bürgergemeinde erörtern. Am Anfang soll eine methodische Über­legung stehen. Dann soll von der theologischen Auszeichnung der Bürgergemeinde, hernach von ihrer Gefährdung und schließlich vom rechtzeitigen politischen Widerstand die Rede sein.

I. Zur Methode

900 Jahre Tübingen sind, bei allem Respekt vor einer so langen Geschichte einer so bedeuten­den Stadt, eine vergleichsweise kurze Zeit, wenn man die Geschichte der christlichen Kir­che im Blick hat. Aus Anlaß eines solchen Jubiläums über das Verhältnis von Christenge­meinde und Bürgergemeinde nachzudenken, könnte deshalb sehr leicht dazu verführen, von der Warte der so erheblich älteren Institution Kirche her Belehrungen über Staat, Gesellschaft und Bürgergemeinde zum besten zu geben. Und in der Tat wird es ohne dergleichen Beleh­rungen nicht abgehen, wenn ernsthaft über das Verhältnis von Christengemeinde und Bürger­gemeinde nachgedacht werden soll. Nur daß es nicht die Tatsache ihres hohen Alters und der reichen geschichtlichen Erfahrungen der Kirche ist, von der solche Belehrungen auszugehen haben, sondern daß die Christengemeinde sich vielmehr selber allererst darüber belehren lassen muß, wie sich ihr Verhältnis zur Bürgergemein­de darstellt. Lehrmeister ist das Neue Testa­ment – so wie es heute zu uns redet. Wir werden zu jeder Zeit immer wieder neu in die Schule der Heiligen Schrift gehen müssen, um zu lernen, was die Funktion und die Aufgabe der christlichen Gemeinde in und gegenüber dem politischen Gemeinwesen ist. Und in sol­cher Lernbereitschaft werden nun Christenge­meinde und Bürgergemeinde wenn auch nicht gleich alt, so doch gleichermaßen jung.

Indem wir so verfahren, bedenken wir das Ver­hältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde vom Standpunkt der Christengemeinde, von ihrem Zentrum aus. Das ist eine Vorent­scheidung. Man kann das Verhältnis von Staat und Kirche ja nicht nur unter sehr verschiede­nen Gesichtspunkten, sondern auch aus unter­schiedlichen Gesichtspunkten betrachten. Und entsprechend unterschiedlich sieht dann jeweils das aus, was da als Staat und als Kirche in den Blick kommt. »Sieht man vom Markt in die Kirche hinein, so ist alles dunkel und düster. Und so sieht’s auch der Herr Philister« – hat Goethe gesagt. Wahrscheinlich hat er ein wenig übertrieben. Und wahrscheinlich hat er noch mehr übertrieben, als er dann fortfuhr: »Tritt aber nur einmal herein, begrüß die heilige Kapelle, da wird’s auf einmal lichterhelle.« Schön wäre es ja! Doch es kommt uns jetzt nicht auf mögliche Übertreibungen, sondern allein dar­auf an, daß es eben in der Tat ein erheblicher methodischer Unterschied ist, ob man die Kir­che vom Markt aus wahrnimmt und also auch nach den Gesetzen des Marktes versteht oder ob man sie von innen heraus, sozusagen vom Allerheiligsten her versteht und von da aus dann auch ihr Verhältnis zum politischen Ge­meinwesen bestimmt. Möglich ist beides, und wahrscheinlich ist auch beides notwendig: je nachdem, wo man sich eben befindet.

Theologie befindet sich, auch wenn sie an der Universität Gastrecht hat. grundsätzlich im Raum der Kirche. Theologie ist nichts anderes als die selbstkritische Reflexion, mit der sich die Kirche der Wahrheit aussetzt. Eine theologi­sche Besinnung wird also das Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde vom Selbstverständnis der Kirche aus bestimmen müssen. Sie wird nicht schielen oder gar faszi­niert zum Rathaus hinüberstarren. Sie wird sich nicht von der Frage fixieren lassen, was man dort für einen Eindruck macht. In der Regel wahrscheinlich überhaupt keinen. Eindruck wird die Kirche in der politischen Öffentlich­keit noch immer am ehesten dann machen, wenn sie – statt danach zu fragen, was für einen Eindruck sie macht – nichts anderes sein will als die Gemeinde Jesu Christi.

Gerade so, gerade in ihrer genuin geistlichen Identität ist die Christengemeinde allerdings wirklich politisch bedeutungsvoll. Sic ist das auch dann, wenn es der Bürgergemeinde ver­borgen bleiben sollte. Es geht also, wenn wir das Verhältnis von Kirche und Staat theologisch »von innen heraus«, vom »Allerheiligsten« her zu bestimmen versuchen, gewiß nicht um ein Plädoyer für das, was man seit einiger Zeit fälschlicherweise als »reine Innerlichkeit« zu bekämpfen pflegt: es geht nicht um »selbstge­nügsame Frömmigkeit«. Wahre Frömmigkeit ist nie selbstgenügsam, weil wahre Frömmigkeit sich schlechterdings nicht selber genug sein kann. Aber es geht um ein Plädoyer dafür, nicht schon methodisch die spezifische Differenz zwischen Christengemeinde und Bürgerge­meinde zu verwischen. Es geht nicht darum, der Christengemeinde politische Abstinenz zu pre­digen. Ganz und gar nicht! Aber es geht darum, daß die Kirche sich ihre politische Relevanz nicht erschleicht. Es gibt heutzutage eine gera­dezu obszön zu nennende Versessenheit auf politische Beachtung und ein Geilen nach »poli­tischem« Effekt. Dergleichen kann der wahren Bedeutung der Christengemeinde für die Bür­gergemeinde nur Abbruch tun. Denn es pervertiert die Gemeinde Jesu Christi letztlich zu einem epitheton ornans, zu einem religiösen Prädikat der politischen Wirklichkeit. Die Kirche ist aber nicht ein religiöses Prädikat der politischen Wirklichkeit, sondern mitten in die­ser deren Gegenüber. Sie ist ein Fall für sich. Sie ist ein ganz besonderer Fall für sich, weil und insofern sie sich des Evangeliums nicht schämt. Denn das Evangelium ist ihr Allerheiligstes, von dem her sie sich selbst und ihr Verhältnis zum öffentlichen Leben versteht. Das Evange­lium von der in Jesus Christus erschienenen Menschenfreundlichkeit Gottes macht die Kir­che zu einem unverwechselbaren Fall für sich. Gerade als dieser unverwechselbare Fall für sich und nur so ist die Christengemeinde politisch relevant, hat sie für die Bürgergemeinde erheb­liche Bedeutung, ist sie deren Salz.

Christen als Salz der Erde – das ist allerdings eine höchst anspruchsvolle Metapher. Bevor man sie sich zu eigen macht, ist es wohl nütz­lich, darauf zu achten, daß dieser anspruchsvol­le Satz »Ihr seid das Salz der Erde« in der Bergpredigt eine seinem steilen Anspruch ent­sprechende schroffe Kehrseite hat: »Wenn nun das Salz seine (Wirkung) Eigenart verliert, wo­mit soll es (selber) gesalzen werden? Es ist zu nichts mehr nütze, als weggeworfen und von den Menschen zertreten zu werden« (Mt 5,13)

Wenn wir uns die Zumutung, Salz der Erde zu sein, gefallen lassen, werden wir uns also vor Augen halten: die christliche Gemeinde ist in dem Moment, in dem sie ihre spezifische Eigen­art verliert, überhaupt nichts wert; sie ist dann schlechterdings bedeutungslos, so daß man über sie hin Weggehen kann wie über wegge­worfenes Salz, das die Menschen, ohne es über­haupt zu bemerken, mit Füßen treten. Nur eine Kirche, die sich ihrer Identität als Kirche nicht schämt, und das heißt: die sich des Evangeliums nicht schämt, ist Salz für die Erde. Gerade sic ist für das politische Leben in höchstem Maße relevant.

II. Die theologische Auszeichnung der Bürgergemeinde

Salz ist nun freilich kein Lebensmittel, das man um seiner selbst willen genießt. Es ist nicht selber Speise, sondern man fügt es den Speisen hinzu: sei es nun, wie vor allem in früheren Zeiten, als Konservierungsmittel, sei es, wie vor allem heutzutage, um der Speise – ihren eige­nen! – Geschmack zu geben. Wollte hingegen jemand auf den Gedanken kommen, Salz als Selbstzweck und also selber als Speise auszugeben, so würde die Reaktion derer, die darauf hereinfallen, alsbald jeden überzeugen, daß Salz als Speise genossen ungenießbar ist: man würde spucken.

Man muß das ganz uneingeschränkt auch von der Kirche, auch von der christlichen Gemeinde sagen. Sie ist »kein Selbstzweck«[3]. Sie existiert nicht um ihrer selbst willen. Sie ist vielmehr ausschließlich um des Evangeliums willen da. Und das Evangelium ist für die Welt da. Denn es ist die rechtskräftige Verkündigung der Tat­sache, daß Gott in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnt hat. Evangelium heißt Rechtferti­gung des Gottlosen. Die Christengemeinde ist das Salz der Erde, indem sie durch ihre Existenz der politischen Welt bezeugt, was diese in Wahrheit ist: nämlich mit Gott versöhnt, und was sie in Wirklichkeit sein könnte: nämlich in und mit sich selbst versöhnte Welt, gerade so aber politische Welt. Salz hat ja nicht nur die Wirkung eines Konservierungsmittels, sondern, wie jede Hausfrau weiß, die Wirkung, den Ei­gengeschmack der Speise hervorzuheben bzw. überhaupt erst zur Geltung zu bringen. Der christliche Glaube ist in dem doppelten Sinne Salz der Erde, daß er dieser vehement die Treue hält, daß er für ihre Erhaltung sorgt und daß er dabei eben die irdische Eigenart der Erde, die weltliche Eigenart der Welt und also auch die politische Eigenart des politischen Lebens zur Geltung bringt.

Das zeigt sich vor allem darin, daß die Chri­stengemeinde einer ewigen Zukunft entgegen­geht, in der sie gerade keine Kirche, keine Reli­gionsgemeinschaft, sondern eine ausgesproche­ne politische Gemeinschaft erwartet, eben die zukünftige polis, das himmlische politeuma, wie es im Neuen Testament (vgl. Hebr 11,10,13ff; 12,22; 13,14; Phil 2,20) unmißverständlich heißt. Was die Christengemeinde im Himmel bzw. unter einem neuen Himmel auf einer neuen Erde erwartet, das ist gerade kein Heilig­tum, sondern eine neue Stadt. »Einen Tempel«, berichtet der Visionär, der die Grundrisse und die Architektur dieser polis mit einem kühnen Blick in die Zukunft ausgemessen hat, »einen Tempel sah ich nicht in ihr» (Apk 21,22). Die Kirche hat spätestens im Himmel ein Ende. Denn an die Stelle des Tempels wird dann der regierende Gott selbst getreten sein, der aber seinerseits mit »dem Lamm« herrschen wird. Auch dort wird also geherrscht werden, aber mit dem Lamm, d. h. mit dem geopferten Men­schensohn, in dem sich alle Opfer irdischer Gewalt wiedererkennen dürfen. Es wird regiert werden. Die Utopie einer herrschaftsfreien Zu­kunft, einer anarchistischen Gesellschaft gar, kennt der Glaube weder im Himmel noch auf Erden. Doch er leitet, indem er Herrschaft und Lamm, Machtausübung und Kreuz zusammen­zudenken, wohlgemerkt: widerspruchslos zu­sammenzudenken wagt, dazu an, den Begriff der Herrschaft neu: nämlich menschenfreund­lich zu definieren. Es gibt menschenfreundliche Herrschaft und Machtausübung. Ihr Kriterium sind die Ohnmächtigen. Wo geglaubt wird, daß Gott im Zeichen des Kreuzes herrscht, da wird alle Macht daran gemessen werden, wie sie sich zu den Ohnmächtigen verhält. An ihnen muß sich die Macht als Macht bewähren. Und das geschieht da, wo Macht und Liebe keinen Wi­derspruch bilden — wie oberflächliche Brutali­tät, aber ebenso seichte Sentimentalität uns ein­reden will. Liebe ist der Ernstfall der Macht. Wo geglaubt wird, daß Gott im Zeichen des Lammes regiert, da wird als der harte Kern der Macht die Macht der Liebe offenbar.

Die Christengemeinde bezeugt durch ihren Glauben der Bürgergemeinde, daß am Ende die im politischen Leben nur zu oft nur zu sehr ignorierte und zur Ohnmacht verurteilte Macht der Liebe sich als die wirkliche Macht herausstellen wird, dergegenüber jede lieblose und gerade in ihrer Lieblosigkeit scheinbar erfolg­reiche Machtausübung sich als eine von innen heraus durch und durch morsche Zwangsveran­staltung erweisen wird. Das christliche Zeugnis von der Macht der Liebe soll die politische Machtausübung also nicht etwa weniger poli­tisch machen, sondern vielmehr noch politi­scher machen. Der Glaube an die Macht der Liebe will die Macht nicht kastrieren, sondern so sensibilisieren, daß sie in Wahrheit mächtig wird.

Gerade die großen und kleinen vom Machtmißbrauch lebenden Zwingherren werden dann ih­rerseits als unter Zwang Handelnde durch­schaubar, die jenes Arztes bedürfen, der sie von ihrer zum Scheitern verurteilten Machtverses­senheit befreit und der das politische Leben zum Fortschritt in das wahre Zentrum der Macht befreit. Liebe ist weiß Gott etwas ande­res als Sentimentalität. Die christliche Gemein­de bezeugt der Bürgergemeinde, daß das wahre Zentrum der Macht die Macht der Liebe ist.

Daß Liebe eine Macht, daß sie das wahre Zen­trum der Macht ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß sie auf Wahrheit besteht. Liebe ist immer zugleich Liebe zur Wahrheit. Liebe ist in jeder Gestalt die unerbittliche Gegnerin der Macht der Lüge. Liebe und Lüge schließen sich aus. Das gilt für das intime Verhältnis genauso wie für das öffentliche Leben, in dem Liebe zwar vielleicht weniger aufregend, aber nicht weniger notwendig ist. Als Liebe zur Wahrheit läßt die Liebe schon jetzt ihre Macht erkennen. Sie erweist sich mächtig, indem sie Licht bringt in das Halbdunkel oder gar totale Dunkel menschlicher Lebenslügen. Darin ist sie streng und hilfreich zugleich. Uns Menschen kann ja oft genug gar keine größere Barmherzigkeit widerfahren, als daß uns die Wahrheit gesagt wird. Nicht zuletzt dadurch gibt schon ein wenig Liebe – man wird sehr nüchtern immer nur auf »ein wenig« von diesem hohen Gut hoffen können – dem Leben in der politischen Gemeinde Sinn. Der neue Ehrenbürger unserer Stadt Gebhard Müller hat es drüben im Rathaus bei der Eröffnung der Feiern der Tübinger Bür­gergemeinde mit Worten eines Mannes, der da­für mit dem Tode eingestanden ist, in Erinne­rung gerufen: »Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Licht und Wahrheit, ein wenig mehr Güte und Liebe in der Welt war, hat sein Leben einen Sinn gehabt.«

Summa: Der christliche Glaube versteht gerade die politische Gemeinde als das Modell der »bleibenden Stadt«, die die Christen auf Erden noch nicht haben, weil sie nach der zukünfti­gen, und der mit Sicherheit kommenden Stadt unterwegs sind. Die Christengemeinde kann der Bürgergemeinde keinen größeren Dienst tun, als diese daran zu erinnern, daß sie in ihrer ganzen Profanität und Vergänglichkeit – auch Tübingen wird vergehen! – ein Gleichnis des kommenden Reiches ist. Oh, wenn unser politi­sches Handeln doch aus unseren Städten und Staaten wenn schon nicht einwandfreie, so doch immerhin fehlerhafte Gleichnisse der zukünftigen polis machen könnte und wollte. Nicht mehr als Gleichnisse, nicht mehr als Analogien! Aber immerhin Gleichnisse! Die Christenge­meinde ist nicht zuletzt darin das Salz der Erde, daß sie die Städte und Staaten der Erde auf diese ihre Gleichnisfähigkeit für die zukünftige Stadt anspricht und ihnen zumutet, reale Gleichnisse der kommenden polis Gottes zu sein: Gleich­nisse und Analogien jenes Herrschaftsberei­ches, in dem sich unwiderruflich und unüber­sehbar als das Zentrum aller das Leben gestal­tenden Macht die Macht der Liebe erweisen wird.

III. Die Gefährdung der Bürgergemeinde

Die Christengemeinde erwartet also vom Staat, daß er nicht etwa weniger Staat, sondern daß er wirklich Staat sei. Sie mutet der Bürgergemein­de zu, nicht etwa weniger politisch, sondern wirklich politisch zu sein. Nur eines soll der Staat, darf die Bürgergemeinde auf keinen Fall sein: nämlich religiös. So sehr das Neue Testa­ment die Funktionen der Kirche in einer ausgesprochen politischen Terminologie darstellt, so sehr spricht sie doch umgekehrt dem Staat jede religiöse Funktion ab. Zwar ist er »von Gott«, zwar kann die Staatsgewalt als »Diakon Got­tes«, zwar können sogar die Steuerbeamten – ausgerechnet sie! – als »Liturgen Gottes­bezeichnet werden (vgl. Röm 13). Aber religiö­se Funktion hat der Staat ebensowenig wie das Finanzamt.

Für den Christen gehört der Staat zwar ganz zweifellos zur göttlichen Wohlordnung der Welt. Aber er ist auf keinen Fall seinerseits eine Art Kirche. Das politische Gemeinwesen und seine Regierungen haben ihre eigene und nicht zu verscherzende Würde. Der Staat hat durch­aus seine Ehre, und seine Repräsentanten soll­ten sie auch haben. Aber religiöse Verehrung, kul­tische Ansprüche und was immer in deren Nähe kommt, haben im politischen Gemeinwe­sen nichts, aber auch gar nichts zu suchen. Im Staat ist nichts und niemand anzubeten.

Wo es dennoch geschieht, wo auch nur Ansätze dazu erkennbar sind, hat die Christengemeinde der Bürgergemeinde kompromißlos zu wider­sprechen. Der einzig legitime Ort für Anbetung ist – das Gebet. Und auch da sollst Du den Namen des Herrn, Deines Gottes nicht unnützlich führen. Der christliche Glaube ist in einer Zeit entstanden, in der die Staatsgewalt religiöse Verehrung beansprucht hat. Der Glaube hat dem Staat, obwohl er ihn ausdrücklich als Got­tes Anordnung zu würdigen wußte, diese Ver­ehrung versagt. Die Christengemeinde war, in­dem sie Gott allein anbetete, und sie ist, inso­fern sie dies tut, immer wieder eine radikale Entmythologisierung, eine religiöse Entzaube­rung des Staates und seiner Gewalt. Der Staat soll keinen Zauber haben, und religiösen Zau­ber schon gar nicht. Er würde sich als Quasikir­che selber dämonisieren und so sein eigenes Wesen ad absurdum führen. Und man geht wohl nicht fehl in der Diagnose, daß der Staat, daß die politische Gewalt auch in ihren profan­sten Entartungen allemal von einem bewußten oder unbewußten religiösen Selbstmißverständnis bestimmt ist. Das Neue Testament identifi­ziert den sich derart mißverstehenden Staat als Tier aus dem Abgrund, als abgründiges Tier schlechthin (Apk 13). Ihm gegenüber ist der aktive Widerstand der Christengemeinde gefor­dert.

Damit haben wir nun allerdings bereits das wohl heißeste Eisen angefaßt, daß es in dem spannungsreichen Verhältnis zwischen Kirche und Staat, das es also für die inmitten der Bürgergemeinde existierende Christengemeinde gibt: das Problem des politischen Widerstandes. Es ist heute als Frage nach der »gerechten Rebellion« im Blick auf die afrikanischen Frei­heitsbewegungen besonders aktuell und in der evangelischen Theologie heftig umstritten. Daß die Chri­stengemeinde als solche weder Kriege führen noch Revolutionen zu machen hat, dürfte klar sein. Heilige Kriege sind ebenso wie heilige Revolutionen seit Jesu Tod ein Ana­chronismus. Aber gibt es einen wenn nicht heiligen, so doch im Urteil der Christengemein­de gerechten gewaltsamen Aufstand gegen die Staatsgewalt? Kann die Christengemeinde die Bürgergemeinde oder Gruppen in ihr dazu im Namen Jesu Christi ermutigen?

Ich will zunächst feststellen, worüber man sich weitgehend einig ist. Einig sind sich die Theolo­gen fast aller Richtungen in der grundsätzlichen Bejahung staatlicher Gewalt. Widerstand gegen den Staat kann immer nur Verteidigung des Staates gegen den Staat sein. So sehr es einer Vergötzung staatlicher Gewalt zu wehren gilt, genausosehr ist vor einer Verteufelung der staatlichen Gewalt zu warnen. Vergötzung und Verteufelung des Staates und allen politischen Handelns sind zwei Seiten derselben Fehlhal­tung und bedingen einander oft genug gegensei­tig. Wo man den Staat vergöttert, da befindet man sich auch schon auf dem Weg zu seiner Verteufelung. Aber eben auch umgekehrt: man verteufle den Staat – und man ist schon auf dem Weg, ihm alsbald göttliche oder doch quasigött­liche Dignität geradezu aufzudrängen. Verteu­felung ist noch immer der beste Weg zur Ver­gottung.

Gegen solche Fehleinschätzungen des Staates setzt die christliche Gemeinde die öffentliche Fürbitte für die Träger der Staatsgewalt. Das klingt zwar harmlos Doch man täusche sich nicht! Welche Bedeutung es für den Staat, für seine Regierungen und Institutionen hat, daß für die staatlichen Entscheidungsträger in der christlichen Gemeinde gebetet wird, das wird in der Regel zwar kaum und von den Vertretern der staatlichen Gewalt wohl am allerwenigsten ermessen. Aber das sieht sofort anders aus, wenn im öffentlichen Gottesdienst für die Op­fer staatlicher Willkür gebetet, wenn die Namen derer fürbittend genannt werden, die die auf Abwege geratene Staatsgewalt gerade vergessen machen will. Die christliche Gemeinde ist – nicht kraft besonderer Tapferkeit, sondern kraft ihres ureigenen Wesens als betende und fürbittende Gemeinde – eine unüberwindbare Instanz gegen alle Versuche, Menschen zu Un­personen zu machen. Wenn in Südafrika die Regierung ihr mißliebige Personen bannt, gibt die Gemeinde allein schon durch ihre Fürbitte den Gebannten ihren ehrlichen Namen zurück. Und daß hier in Tübingen im letzten Herbst in einem Fürbittgottesdienst sowohl für die Opfer der Terroristen wie für ihre Mörder gemeinsam gebetet wurde, das ist ein in seiner die gängigen politischen Alternativen so gründlich verfrem­denden Bedeutsamkeit nur schwer zu unter­schätzender Vorgang. Und das gilt nun auch im Blick auf den Vorgang des Gebetes für die Träger der staatlichen Gewalt. Indem für sie öffentlich gebetet wird, wird faktisch jedenfalls auch dies gesagt, daß ihre Tätigkeit als Träger und Exekutoren der politischen Gewalt weder göttlich noch teuflisch, sondern eben ein der Fürbitte gar sehr bedürftiges menschliches und oft genug nur allzu menschliches Geschäft ist. Es hat seine guten Gründe, daß »das Gebet» der Kirche »für die Träger der Staatsgewalt … zum eisernen Bestand ihrer eigenen Existenz«[4] ge­hört. Es demonstriert geradezu, daß der Staat weder göttlich noch teuflisch, sondern eben – menschlich ist.

Menschlich soll er aber auch im qualifizierten Sinne des Wortes sein. Und eben für einen humanen Staat, für eine humane Gesellschafts­ordnung, für eine humane Bürgergemeinde muß notfalls auch gegen diese gestritten wer­den. Auch mit Waffengewalt? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Gibt es die »ge­rechte Rebellion«?

Meine eigene Auffassung ist die, daß eine solche Frage schlechterdings nicht theoretisch vorweg entschieden werden kann. Ob eine Rebellion, ob eine Revolution gerecht ist, das ist m. F ohnehin eine völlig schiefe Frage: genau so schief wie die ältere Frage nach dem gerechten Krieg. Gerecht sind dergleichen Aktivitäten nie. Jeder Todesschrei desavouiert sie. Aber kann man statt von der gerechten Rebellion nicht wenigstens von einer gerechtfertigten Rebellion reden? Meines Erachtens vermag auch darüber keine Theorie zu entscheiden. Ganz egal, ob man nun ja oder nein sagt: die Auskunft ist zu billig. Zu entscheiden haben das nur einzig und allein die Betroffenen. Und gerade sie werden wissen, daß man aus solchen Situationen nur schwer oder gar nicht mit unverletztem Gewis­sen hervorgeht. Es gibt Situationen, in denen man durch den Verzicht auf Widerstand genau­so schuldig wird wie durch dessen gewaltsame Ausübung. Es gibt Situationen, in denen man gerade auf gewissenhafte Weise nur noch gewis­senlos handeln kann. Wohl dem, dem das er­spart bleibt. Doch im Blick auf die Betroffenen werden wir gut tun. uns klarzumachen, daß es Situationen gibt, in denen man gar nicht anders kann, als in praxi auf gewissenhafte Weise ge­wissenlos zu sein. Aber eben: in praxi! Ich halte es deshalb für eine entsetzliche Heuchelei, wenn die Christengemeinde etwa zu Tübingen politische Widerstandsgruppen in anderen Tei­len der Welt darüber belehren wollte, ob sie einen «»gerechten Aufstand« vollziehen oder aber nicht. Gerecht kann er ohnehin nicht sein, so wenig wie ein Krieg jemals gerecht war, ist und sein wird. Aber notwendig könnte er sein. Und darüber zu befinden, steht nur denen zu, die sich eben in derjenigen Not befinden, die zu wenden sie sich entschlossen haben.

Die Christengemeinde hat in solchen Fällen nur die Autorität der Bitte, mit der sie zwischen die Fronten treten kann, um für Versöhnung einzu­treten. Aber sie hat nicht die Autorität zu de­klarieren, was sein kann und was nicht sein darf. Solange wir rückblickend Aufstände wie die gegen Hitler zu feiern der Bürgergemeinde zugestehen – und wir tun gut daran! sollten wir uns hüten, andere Aufstandsbewegungen in anderen Weltgegenden im vorhinein so oder so zu qualifizieren. Ich könnte mir denken, daß ich mich sehr wohl an einer Rebellion beteiligen würde, wenn ich sie – sicherlich nicht als »ge­recht«, wohl aber am eigenen Leibe und mit eigenem Verstand – für notwendig erachte. Doch lassen wir alles »würde« und »könnte«. Dergleichen kann, wie gesagt, ehrlich nur in praxi entschieden werden.

Doch wer sich in solcher Situation als Christ zu entscheiden hat, der wird es auf jeden Fall mit dem Eingeständnis der Schuld tun, daß man nicht rechtzeitig den Staat gegen den entarteten Staat verteidigt und politischen Mut gegen poli­tischen Übermut aufgeboten hat. Rechtzeitiger politischer Widerstand – das ist es, was wir, wenn es an der Zeit ist, dem Staat um des Staates willen schuldig sind. Er fordert keine Toten, sondern fördert das Leben beizeiten. Das sollten wir auf jeden Fall aus dem schiefen Streit um gerechte Kriege, Rebellionen und Re­volutionen lernen: daß der politische Wider­stand sehr viel früher anfangen muß, wenn er friedlich ausgetragen werden soll. Und dabei hat die Christengemeinde der Bürgergemeinde nun allerdings sehr Spezifisches zu sagen.

IV. Rechtzeitiger politischer Widerstand

Ich möchte im letzten Teil wenigstens an eini­gen ausgewählten Punkten deutlich machen, wie sich dieser rechtzeitige politische Wider­sund, der immer ein Kampf für eine bessere Ordnung zu sein hat, von der Christengemein­de her darstellt. Ich habe die mir theologisch wichtigsten und politisch aktuellsten Punkte ausgewählt.

1. Politischer Widerstand gegen eine Dämoni­sierung der politischen Gewalt beginnt zu­nächst damit, daß das, was gut ist in der Bürger­gemeinde, auch ausdrücklich gutgeheißen wird. Kein Staat kann gedeihen, er muß vielmehr notwendig neurotisch reagieren und also auf Abwege geraten, wenn seine guten Werke schlecht gemacht werden und auch sonst kein gutes Haar an ihm gelassen wird. Es gibt Men­schen, die können für das Bessere nur tätig sein, indem sie das Gute – schlecht machen. Ihre Steigerungsskala heißt: schlecht, besser, und dennoch nicht gut. Sie leben vom Tadel des Bestehenden und loben nur das, was nicht ist. Demgegenüber wird die Christengemeinde das Bessere als die Steigerung des Guten erstreben. Sie weiß, daß man mit Worten das Gute tatsäch­lich schlecht machen kann. Und eben dagegen leistet sie Widerstand, indem sie Gott als den Geber aller guten und vollkommenen Gabe lobt und im Gottesdienst öffentlich dankt für das, was gut ist an der Bürgergemeinde und was durch sie an Gutem geschieht.

2. Damit ist bereits ausgesprochen, daß der rechtzeitige politische Widerstand gegen die Dämonisierung der politischen Gewalt für die Christengemeinde seinen Urakt im öffentlichen Gottesdienst hat. Das gilt zunächst schon durch seinen rechten Vollzug, also dadurch, daß recht gepredigt, gebetet, gefeiert wird. Denn wo dies recht geschieht, bildet sich eine Atmosphäre der Freiheit, die gegen jede Form von Unfreiheit im politischen – und selbstverständlich erst recht im kirchlichen – Leben allergisch macht. »Wer Erfahrungen mit totalitären politischen Syste­men hat, weiß, daß der christliche Gottesdienst als solcher, auch wenn kein unmittelbares poli­tisches Won dann laut wird, ein Politikum ersten Ranges ist, wenn … darin wirklich das Evangelium als der Ruf zur Freiheit laut wird. Hat man einmal Gelegenheit, unmittelbar aus einer politischen Kultversammlung in einen schlichten christlichen Gottesdienst zu ge­hen …, so kann einem etwas davon aufgehen, was es heißt, in eine Atmosphäre der Freiheit versetzt zu sein.«[5]

3. Im Zentrum des Gottesdienstes steht als das politische Urfaktum schlechthin die Verkündi­gung der Rechtfertigung des Sünders. Sie be­sagt, daß kein Mensch mit der Summe seiner Taten oder Untaten identifiziert werden darf, sondern daß jeder Mensch als eine von seinen Taten noch einmal zu unterscheidende Person anzusprechen ist.

a) Das gilt im Blick auf die gelungenen Leistun­gen. auf die wir mit Recht stolz sind. Es geht in Ordnung, daß die Bürgergemeinde Personen ehrt, die sich durch ihre Leistungen verdient gemacht haben. Aber auch große Verdienste um Land und Leute machen die Person nicht zur Summe ihrer Taten. Es kann und darf sich niemand hinter seinen Leistungen verstecken, um als Person unansprechbar zu sein.

b) Aber dasselbe gilt auch und erst recht im Blick auf die Untaten, die wir tun. Die Bürger­gemeinde hat nur zu leicht eine Tendenz, ihre moralische Aufrüstung so weit zu treiben, daß sie die mißlungene oder gar unmenschliche Tat und den Täter definitiv identifiziert und dann von der unmenschlichen Tat schließt auf die »unmenschliche Person«. Das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders leistet dagegen politischen Widerstand. Es erklärt die Katego­rie des Unmenschen ihrerseits zu einer un­menschlichen Kategorie und verwehrt die Iden­tifikation der Person mit ihren Taten. Sie tut das auch dann, wenn die Person selber in ihrem Tun ganz und gar aufzugehen wünscht und sich so selber als Person unansprechbar macht – was ja bekanntlich bei allen Formen der Selbstge­rechtigkeit, aber auch bei nicht wenigen Ver­brechern der Fall ist. Rechtzeitiger politischer Widerstand bedeutet in dieser Hinsicht, aller moralischen Aufrüstung diejenige moralische Abrüstung entgegenzusetzen, die die menschliche Person ihren Taten und Leistungen gegen­über zu einem unbedingten Selbstwert macht.

c) Wie akut dieser Widerstand ist, kann man sich an der Stellung der Kinder und der Alten in unserer Leistungsgesellschaft klarmachen, die ja, weil sie für ihr Dasein noch nichts oder nichts mehr tun können, den unbedingten Vor­rang der Person vor ihren Leistungen repräsen­tieren. Eine Bürgergemeinde, in der Kinder und Alte zu Randgruppen erklärt und gemacht wer­den, zerstört ihre eigene Würde. Ihr muß Wi­derstand entgegengesetzt werden. Wir tun aber gut daran, hier auch an die Strafgefangenen und an ihre Resozialisierung zu denken. Es gehört zu den schlimmsten Folgen der Terroristenakti­vitäten, daß in der Bürgergemeinde der gute Wille zur Strafvollzugsreform seitdem im Schwinden ist. Wir sollten den Terroristen die­sen traurigen Erfolg nicht zugestehen und auch gegenüber den Insassen unserer Haftanstalten daran festhalten, daß die menschliche Person ein unbedingter Selbstwert ist.

4. Der christliche Gottesdienst ist als Ruf in die Freiheit zugleich Ermutigung zu einer Sprache der Freiheit, die wiederum nur da möglich ist, wo eine ehrliche Sprache gesprochen wird. Die Existenz der Christengemeinde inmitten der Bürgergemeinde ist immer auch eine Erinne­rung an die intime Verbindung zwischen dem »Dienst am Wort« und der Freiheit. Das eine ist auch in der Dimension politischer Existenz ohne das andere nicht zu haben.

a) Wir erinnern uns: Jesus hat dem Kaiser auch dadurch gegeben, was des Kaisers ist, daß er seinen Landesherrn gelegentlich in aller Ruhe einen Fuchs nannte. Das war ein freies Wort. In der Nachfolge Jesu ist es die Christengemeinde der Bürgergemeinde schuldig, diese zu einer Sprache der Freiheit zu ermutigen. Es ist im höchsten Maße alarmierend, daß heute ausge­rechnet junge Menschen davor Angst haben. Dazu ist zweierlei zu sagen. Zunächst: Ich halte nichts davon, die Ursachen eines solchen Versa­gens immer nur bei anderen, in diesem Fall beim Staat zu suchen. Duckmäusertum muß auf jeden Fall auch bei den Duckmäusern be­kämpft werden. Man tut ihnen keinen Gefallen, wenn man ihr Verhalten mit den – sei es berechtigten, sei es unberechtigten – Gründen entschuldigt, die die Sprache der Freiheit erschweren. Der­gleichen würde nur dazu führen, daß dann, wenn es wirklich generell gefährlich wäre, ein freies Wort zu wagen, die Sprache der Freiheit erstürbe. Wir werden uns also zunächst an die jungen Menschen selber mit der Zumutung wenden, auch und gerade dann, wenn sie dafür Folgen befürchten, nur ja nicht ihre Freiheit zu verleugnen. Erst dann zeigt sich, daß die Spra­che der Freiheit keine billige Selbstverständlich­keit ist. Hier gilt: Selbst ist der Mann! Selbst ist die Frau! Wohl dem, der für die Sprache der Freiheit etwas und mehr als etwas zu riskieren wagt. Solche Männer und solche Frauen braucht die Burgergemeinde. Das ist das erste, was dazu zu sagen ist.

Wir werden nun aber mit derselben Deutlich­keit rechtzeitigen politischen Widerstand gegen alle – sei es bewußten, sei es unbewußten – Ver­suche leisten, die Jugend zu einer Sprache zu erziehen, die vor der Freiheit zurückschreckt. Es ist ein Skandal, wenn der – sicherlich not­wendige – Verfassungsschutz bereits in den Schulen tätig wird. Wo dies geschieht, muß der Staat mit aller Entschiedenheit gegen den Staat verteidigt werden. Man irre sich nicht: die Schule ist wie im guten so auch im bösen Sinne die Schule der Nation! Der freiheitliche Staat zerstört sich selbst, wenn er da, wo Vertrauen zu ihm entstehen soll, Mißtrauen sät. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, auf der Schule »für das Leben zu lernen«, wenn dort außer dem Lehrer noch anderer Instanzen ihren Unterricht geben. Eine Schule, in der neben dem Lehrer zugleich der Verfassungsschutz Lehrmeister ist, erzieht den jungen Menschen fast zwangsläufig zum Charakterkrüppel. Weh­ret den Anfängen!

b) Freie Sprache ist nur möglich als ehrliche Sprache. Die Wahrheit ward uns frei machen. Die Grundbedingung eines gesunden Verhält­nisses zur Staatsgewalt ist eine ehrliche Sprache. Das politische Gemeinwesen fängt an zu ver­kümmern, wenn seine Sprache verkommt. Das beginnt in der Regel mit dem scheinbar harmlo­sen Mangel an sprachlicher Präzision. Doch am Ende stehen mit Sicherheit Fratzen, die dann ihrerseits fortzeugend fratzenhaftes und ge­spenstisches, nämlich an der Wirklichkeit der Geschichte vorbeilebendes Verhalten erzeugen. Wer nicht ehrlich und präzis sagt, was der Fall ist, verschweigt im Horizont politischer Wirk­lichkeit zugleich immer auch, was an der Zeit ist.

In politischen Diktaturen werden auf diese Weise ganze Völker dazu gezwungen, an ihrer Zeit vorbeizuleben. Wer die regulierte Sprache ihrer Zeitungen kennt, weiß, daß ihr das Zeitbe­wußtsein einnebelnder Informationsstil poli­tisch impotent machen soll – und in der Tat nur zu oft wie ein das Nervenzentrum des Bürgers lähmendes Gift wirkt, dem man sich nur durch radikale Entziehungskuren zu widersetzen ver­mag. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland das gar nicht hoch genug zu schätzende Gut einer freien Presse. Rechtzeitiger politischer Widerstand besteht nicht zuletzt darin, darauf zu bestehen, daß unsere Medien eine ehrliche und präzise Sprache sprechen. Nur so können sie ihrer Aufgabe genügen und die politische Urteilsbildung der Bürger för­dern. Es hängt in hohem Maße auch von unse­ren Medien ab, ob wir wirklich politisch urteils­fähige Bürger sind, bleiben und werden – oder aber, ob es unserer Gesellschaft schließlich so ergehen wird wie dem fiktiven Lord Chandos, der von sich berichtet: »Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedie­nen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie morsche Pilze.« Unsere Medien sollen uns nicht düm­mer, sondern einsichtiger, nicht stumpfer, son­dern sensibler machen. Und sie sollen in einer parteipolitisch immer stärker fixierten Situation dazu verhelfen, daß wir zwar keineswegs un­parteiisch, wohl aber auf verantwortliche Weise und nicht etwa durch Erweckung eines mehr oder weniger sublimierten Hasses parteiisch werden. »Der Haß«, schreibt Goethe, »ist par­teiisch, aber die Liebe ist es noch mehr.« Gerade die Konfliktfälle des politischen Lebens sollten durch eine der Wahrheit verpflichtete Sprache so verarbeitet werden, daß Parteilich­keit und Ehrlichkeit einander nicht ausschließen. Dazu gehört gegebenen­falls auch, daß man Herodes einen Fuchs nennt und eine auf Abwe­ge geratene Staatsgewalt auf ihren verkehrten Weg mit Nachdruck hinweist. Doch ebensosehr gehört dazu, daß man sich nicht scheut, all das, was beim politischen Konkurrenten gut ist, auch gut sein zu lassen. Es besser machen sollte auch hier nicht bedeuten, das Gute schlecht zu machen. Konkret: Man kann in Ehren konser­vativ sein, genauso, wie man in Ehren Sozialist sein kann. Es ist infam, wenn aus parteipoliti­schen Gründen konservatives Denken heutzu­tage in Deutschland so apostrophiert wird, daß man dabei die Schande der nationalsozialisti­schen Vergangenheit assoziieren muß. Und es ist ebenso infam, wenn aus parteipolitischen Gründen Sozialismus als Alternative zur Frei­heit suspekt gemacht wird. Das ist durch und durch unehrliche Sprache. Noch einmal: man kann in Ehren konservativ sein, genauso, wie man in Ehren Sozialist sein kann. Aber man kann beides nur dann in Ehren sein, wenn man es ohne Verachtung des anderen ist. Daß darauf heute eigens wieder hingewiesen werden muß, zeigt, wie sehr die veröffentlichte Meinung be­reits Fratzen zeichnet und wieviel Fratzenhaftes bereits durch unsere Sprache geistert. »Es soll nicht, liebe Brüder, also sein.«

Die im Zusammenhang mit dem Verhalten des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Filbin­ger unabweisbar gewordene politische Ausein­andersetzung sowohl mit der deutschen Ver­gangenheit wie mit unserem demokratischen Selbstverständnis ist auch für die Presse eine einzigartige Chance, sowohl zur Ehrlichkeit der Sprache wie durch eine ehrliche Sprache zu einer Parteilichkeit zu erziehen, deren Motiv jedenfalls nicht sublimierter Haß ist. Wohl dem Land und wohl der Stadt, die eine solche Zei­tung hat!

Wir haben uns nachdenkend dem hohen An­spruch ausgesetzt, den Jesus den Seinen zugemutet hat: nämlich das Salz der Erde zu sein. Eine Christengemeinde, die sich um diesen An­spruch nicht herummogelt, sondern mit ihm in der Bürgergemeinde lebt und dieser also derart anspruchsvoll gegenübertritt, wird jedoch gera­de deshalb gut daran tun, sich nicht nur neben­her, sondern bei allem was sie selber denkt, sagt und tut, des schroffen Abgrundes zu erinnern, der zu einem so hohen Anspruch gehört. Ich schließe deshalb, indem ich noch einmal den ganzen Text zitiere, der diese Überlegungen geleitet hat: »Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz seine Eigenart und Wirkung ver­liert, womit soll man es selber salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als daß man es weg wirft und von den Menschen zertreten läßt.«

Quelle: Eberhard Jüngel, Reden für die Stadt. Zum Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde, Kaiser Traktate 38, München: Chr. Kaiser, 1979, S. 13-47.


[1] Karl Barth, Rechtfertigung und Recht. ThSt 104, 40.

[2] Ebd.

[3] Barth, aaO. 30.

[4] Barth, aaO. 31.

[5] Gerhard Ebeling, Die Notwendigkeit des christlichen Gottesdienstes, Wort und Glaube III, 1975, 551f.

Hier der Text als pdf.

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