Von Trutz Rendtorff
Ethik ist die Theorie der menschlichen Lebensführung. Als ausdrückliche Rechenschaft über die Lebensführung des Menschen nimmt Ethik ihren Ausgangspunkt bei einer unausweichlichen Erfahrung: daß der Mensch von der Wirklichkeit seines Lebens her zu einer Stellungnahme aufgefordert ist. Der Mensch muß Stellung nehmen zu der Wirklichkeit des Lebens, die ihn trägt und bestimmt; und er muß sich zugleich darüber Rechenschaft ablegen, daß er mit seiner Stellungnahme die Wirklichkeit des Lebens selbst prägt und gestaltet. Diese Stellungnahme wird vom Menschen primär mit seiner Lebensführung vollzogen; das gilt sowohl für den einzelnen Menschen wie für den Menschen in der Sozialität seiner Welt. Ethik ist insofern im Ansatz die Theorie dieser in der Lebensführung des Menschen enthaltenen und geforderten Stellungnahme hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, ihrer Struktur und ihrer Praxis.
Einer verbreiteten Terminologie in der ethischen Diskussion folgend, wird die in der Lebensführung vollzogene Stellungnahme als Ethos bezeichnet, sofern damit auf die individuellen oder überindividuellen Verhaltensweisen, die personalen und institutionellen Lebensformen verwiesen wird; sie wird als Moral bezeichnet, sofern damit auf die subjektiven Motive und Einstellungen, Haltungen und Handlungsweisen verwiesen werden soll. Doch ist die Terminologie nicht durchgehend eindeutig, weil das Reden über Ethik selbst ein Bestandteil des Vollzugs ist, der ethische Diskurs in allen seinen Formen ein Lebenselement des Ethischen darstellt. Die Reflexion auf die ethischen Redeweisen im engeren und weiteren Sinne ist Thema der Metaethik.
1.1. Ethik, als Titel einer eigenen Disziplin, geht auf Aristoteles (384-322) zurück. Deswegen ist die Geschichte der Ethik auch zu einem wichtigen Teil eine Geschichte der Rezeption und der Renaissancen der aristotelischen praktischen Philosophie. Für Aristoteles war Ethik die Explikation des ›Ethischen‹ als das zum Ethos Gehörige. Ethos ist dabei, im ursprünglichen griechischen Wortsinn, der Ort des Wohnens, sodann die dem Ort je eigentümliche Gewohnheit. Das Ethische bezeichnet und reflektiert dabei also die Sitte, den Brauch, das Herkommen. Es faßt damit alle Weisen des rechten und geziemenden Verhaltens zusammen, die von Menschen in einer gegebenen sozialen Welt gefordert sind. Das Ethische verweist dann aber auch auf die dieses Verhalten der Menschen tragenden und bestimmenden Institutionen, das Haus (Oikos), die Gemeinschaft der Stadt (Polis), den Kult der Götter, kurz: die gesamte institutionelle Lebenswelt. In diesem Sinne ist die Ethik die Grundlehre der Politik und, darüber hinaus, die Summe konkreter sozialer Verbindlichkeiten für den Menschen.
Wichtigstes Merkmal dieses von Aristoteles geprägten Verständnisses von Ethik ist, daß »Ethik« hier alle Verhaltensweisen und Lebensformen umfaßt, d.h. auch die erst im 19. Jahrhundert unterschiedene Individualethik und Sozialethik. Diese Unterscheidung ist sowohl im Blick auf die Tradition der Ethik wie im Blick auf die Sachfragen der Ethik immer von der Verlegenheit bestimmt, zwei Aspekte des Ethischen wie scheinbar verschiedene Bereiche zu unterscheiden. Die für das Ethische konstitutive Sozialität der menschlichen Lebenserfahrung wie die vom Menschen geforderte Stellungnahme zu seiner Welt sind aber nicht wie verschiedene Lebensbereiche voneinander zu trennen.
1.2. In der heutigen Ethiktheorie folgt vor allem die wiederbelebte sog. Praktische Philosophie diesem Grundsinn von Ethik, wie er zuerst bei Aristoteles auftritt, in dem Bemühen, das Ethische menschlicher Handlungen und Lebensführungspraxis in den kommunikativen Strukturen der Lebenswelt ( Alltag) selbst zu bestimmen, sei es in einer Aufdeckung der kommunikativen Struktur der ethischen Vernunft selbst, ausgehend von der Analyse der ethischen Sprache und der Struktur des ethischen Argumentierens, sei es in der Aufdeckung der elementaren Verbindlichkeiten in den kommunikativen sozialen Prozessen im Sinne einer fundamentalethischen Bestimmung des Politischen. In die Genealogie der Praktischen Philosophie gehört vor allem die von Hegel (1770-1831) ausgehende und in seiner Rechtsphilosophie entwickelte Ethikphilosophie, die das Ethische als die vom Menschen verlangte Stellungnahme zu den überindividuellen Verbindlichkeiten des gemeinsamen Lebens als Sittlichkeit zu präzisieren und zu konkretisieren unternahm. Das »gute« Leben erhält seine Güte nicht aus der Qualität des guten Menschen, im Sinne des individuellen Einzelsubjekts, seiner Gesinnung oder Moralität, so daß die Lebensformen oder die Institutionen nur insofern als »gut« bezeichnet werden könnten, als sie von den Subjekten her gut gemacht, gelebt, gehandhabt werden. Vielmehr ist gerade der umgekehrte Weg einzuschlagen; der Mensch ist darauf verwiesen, eine »gute« Lebensführung im Eingehen auf das gemeinsame Leben, seine Institutionen und seine Verfassung zu realisieren. Damit rücken der Begriff des »Guten« und der Begriff des »Gemeinsamen« inhaltlich zusammen, der ethische Sinn des Guten ist fundamental objektiver bzw. intersubjektiver Natur.
1.3. In der theologischen Ethik ist die aristotelische Bestimmung des Ethischen heute, auf dem Hintergrunde einer steten, wenn auch wechselvollen Geschichte seiner Rezeption, in der Auffassung eines vernünftigen und autonomen Naturrechts präsent. In der jüngsten Grundlagendiskussion der katholischen Moraltheologie wird ein Begriff von ethischer Autonomie vertreten, der vor allem auf einer prinzipiellen Selbständigkeit des Ethischen gegenüber der positiv-rechtlichen Instanz des kirchlichen Lehramtes abzielt. Die sog. autonome Moral ist dabei vorwiegend an der Aufnahme der aristotelischen Philosophie durch Thomas von Aquin (1225/26-1274) orientiert, die sich mit einer an Kant (1724-1804) gebildeten Allgemeinheit der Vernünftigkeit der ethischen Subjektivität zu verbinden sucht. Ihr praktisches Interesse ist es, ethische Verbindlichkeit nicht aus der kirchlichen Autorität abzuleiten, sondern an die vom Menschen zu verantwortende ethische Stellungnahme zu binden. Unter anderen Voraussetzungen ist die Grundintention der aristotelischen Ethik in der evangelischen Theologie präsent in einem ethischen Verständnis der Ordnungen des Lebens, als Ehe und Familie, Recht und Staat, sofern es darum geht, daß diese Grundverbindlichkeiten der Sozialität in ihrer weltlichen Form als solche einen theologisch relevanten Anspruch an die Lebensführung des Menschen darstellen. Im Anschluß an die Reformation hatte die evangelische Theologie Ethik immer wieder als die Lehre von den Ordnungen und Ständen konzipiert, in denen der Mensch den ihm von Gott her fordernden Beruf findet.
1.4. Für die heutige Wahrnehmung dieses Grundsinnes der Ethik sind zwei Grundfragen vor allem in den Vordergrund der Diskussion getreten.
a) Die durch Geschichte, Herkommen, Sitte zustande gekommenen ethischen Verbindlichkeiten können nicht unmittelbar als solche mit einem unbedingten ethischen Anspruch an den Menschen ausgestattet werden. Die das Verhalten bestimmende und prägende institutionelle Lebenswelt unterliegt einem offenkundigen geschichtlichen Wandel, den als Verfall der Ethik zu begreifen, die ethische Urteilsbildung alsbald auf Abwege führen muß und führt. Die Ethik muß demgegenüber nach der Struktur ethischer Verbindlichkeit fragen, die den geschichtlich gewordenen Lebensformen zugrunde liegt, aber nicht mit deren jeweiliger historischer Ausbildung einfach identisch ist.
b) Die vom Menschen geforderte Stellungnahme hat ihre eigene ethische Qualität darin, daß sie nicht im Nachvollzug von ihr vorgegebenen Gestalten des gemeinsamen Lebens aufgeht, sondern diese auch zu überschreiten und zu erneuern gefordert ist. Die Ethik muß deshalb nach der Subjektivität der ethisch zu bestimmenden Lebensführungspraxis fragen. Die Übernahme des Ethos im Sinne der institutionellen Lebenswelt bzw. der Ordnungen in die Selbständigkeit der ethischen Subjektivität läßt darum den Begriff der ethischen Verantwortung in den Vordergrund treten. Die im Lichte dieser Grundfragen geführte Diskussion verdankt sich ihrerseits bereits der Auseinandersetzung mit einem spezifisch neuzeitlichen Verständnis der Ethik, das seinen Ausgangspunkt beim ethischen Subjekt nimmt.
2.1. Ethik gilt dem neuzeitlichen Bewußtsein vorrangig als eine Bestimmung des Menschen als des ethischen Subjekts. In dieser Hinsicht geht das moderne Verständnis von Ethik auf Kant zurück, der den spezifischen Sinn der praktischen Vernunft in einem Begriff der ethischen Autonomie festgehalten hat. Im Rahmen seiner Vernunftkritik unterscheidet Kant die praktische ethische Vernunft von der theoretischen Vernunft an dem entscheidenden Punkte, an dem es um die Gewißheit des Erkennens geht. Hinsichtlich Ethik und Religion steht dem Menschen keine der Welterkenntnis direkt vergleichbare theoretische Gewißheit zur Disposition. D.h. daß der Mensch Gewißheit über das gute Leben bei sich selbst nicht auf einem empirischen Wege erlangen kann, also im Blick auf den tatsächlichen Erfolg seines Handelns, auf die unmittelbare und unzweideutige Erfahrung von Glück und gelingendem Leben. Als ethisches Subjekt kann er vielmehr Gewißheit über die Güte bzw. das Gute des Lebens allein dadurch erlangen, daß er sich in seiner ethischen Selbstbestimmung, in der Bestimmung seines Willens als des Guten würdig erweist. Kant löst also an diesem entscheidenden Punkte den Zusammenhang des Ethischen mit dem empirischen Erfahrungszusammenhang der Lebensführung auf mit der Folge, daß das Ganze der Lebensführungspraxis unter die Bestimmung des ethisch guten Willens tritt. Damit wird bei Kant die Ethik mit einem Begriff der Freiheit verbunden, die primär die Freiheit des Subjektes ist, nicht die institutionell vermittelten Freiheiten der sozialen und politischen, sittlichen Lebenswelt. Das, wozu sich der Mensch in jedem Falle verpflichtet sehen soll und kann, ist die ihm gebotene moralische Lebensführung, sofern sie von ihm selbst bestimmt wird, d.h. von seinem ethischen Willen. Diese Freiheit gilt unabhängig von den Außenbedingungen ihrer Realisierung. Nur so kann er gewiß sein, daß er sich allein vom Guten bestimmen läßt, wenn der Begriff des Guten selbst autonom, d.h. frei von jeder Fremdbestimmung durch andere bzw. durch äußere Verhältnisse konzipiert wird. Nur so kann auch ein allgemeiner und zugleich vernünftiger Begriff des Guten gebildet werden, der in jedem Falle Geltung beansprucht, also nicht nur unter bestimmten Bedingungen. Es ist falsch, diese Konzentration auf die ethische Subjektivität mit einem abwertenden Verständnis von Individualismus zu verbinden, weil Kant gerade an der unabweislichen ethischen Forderung in ihrer denkbar universalsten Form gelegen ist, die dem Begriff des Menschen korrespondiert; sie ist unlösbar mit der Forderung verbunden, sich an der Errichtung einer Welt zu beteiligen, die der Verwirklichung des Guten entspricht. Gerade die Unabhängigkeit im Wesentlichen ist darum eine radikale Verstärkung der ethischen Forderung in ihrer Abzweckung auf eine ethische Verfassung des gemeinsamen Lebens.
2.2. Diese Bindung an das ethische Subjekt kann als die philosophische Explikation eines spezifisch christlichen Grundgedankens gelten. Die Bestimmung des Ethischen wird aus den geschichtlich-sozialen Gestalten der Lebenswelt, ihrer Gebote und Gesetze zurückgenommen auf den spezifisch ethischen Sinn, der ihnen vorausliegt. Diese Art der »Weltunabhängigkeit« im Verständnis des Ethischen aber kann nur für einen Menschen gelten, der sich über das Ethische primär nicht vor der Welt, sondern vor Gott, d.h. vor einer selbst unabhängigen Instanz Rechenschaft ablegt. Der Rückgang auf den spezifisch ethischen Sinn bestimmter Gebote und Gesetze ist das eigentümliche Kennzeichen der Auslegung des Gesetzes in der Verkündigung Jesu gewesen. Dafür stehen die sog. Antithesen in der Bergpredigt (Mt 5-7); sie appellieren daran, daß der Mensch mit seiner Lebensführung nicht nur zu einer äußeren Gesetzesbefolgung verpflichtet sei, sondern dem Sinn des Gesetzes als Träger des Willens Gottes. Indem Jesus den Willen Gottes auslegt, ruft er zu einer selbständigen Auslegung des Gesetzes auf, in der das ethische Subjekt die Intention des Gesetzes als des Willens Gottes auf eigene Weise übernimmt. Damit aber rückt die Unmittelbarkeit der Beziehung zu Gott vor die Vermittlung durch das Gesetz. Es ist insofern durchaus sachgemäß, wenn Hegel feststellt, mit dem Christentum sei das Prinzip der Subjektivität in die Welt gekommen.
2.3. Die von Paulus gezogene Konsequenz, in Christus sei das Gesetz erfüllt (Röm 3), beruft sich auf den ursprünglich sozialen Sinn des Gesetzes, nämlich Gemeinschaft mit Gott als Grund aller Sozialität zu vermitteln; sofern diese Gemeinschaft im Glauben an Jesus Christus nunmehr den Weg ihrer Erfüllung findet, übernimmt sie auch den geistlichen Sinn des Gesetzes einschließlich seiner ethischen Implikationen. Der Glaube wird damit zur Auslegungsinstanz für die Ethik, die im Gesetz enthalten ist. Die Freiheit vom Gesetz ist in die Freiheit gegenüber den Gesetzesbestimmungen zu überführen. Das ist der historische Schritt von der jüdisch-christlichen Sekte zur Universalität des Christentums. Der Glaube aber ist die Bestimmung für die Subjektstellung des Menschen im Verhältnis zu Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit des Lebens. Die Aktualisierung dieser paulinischen Auffassung der Ethik in der Theologie Martin Luthers (1483-1546) findet sich exemplarisch in seiner Auslegung des 1. Gebotes im Großen Katechismus, in dem das Vertrauen auf Gott als das eine Grundgebot erscheint, von dem her alle anderen Gebote ihren Sinn empfangen. So wurde dem neuzeitlichen Verständnis der Weg bereitet, das die Verbindlichkeit des Ethischen primär an die Qualifikation des ethischen Subjekts gewiesen sieht, seiner verantwortlichen Stellungnahme zu der Grundsituation des Menschen vor Gott und darin zu sich selbst.
2.4. Für die heutige Ausarbeitung dieses spezifisch christlichen Zugangs sind vor allem zwei Grundfragen zu erörtern:
a) Enthält der Gedanke des in Christus befreiten Menschen die Annahme, der glaubende Mensch sei insofern unmittelbar als solcher auch der ›gute‹ Mensch? In der Theologie wird dieses Problem im Anschluß an Paulus häufig erörtert in der Frage nach dem Verhältnis des ›Indikativs‹ des Glaubens zum ›Imperativ‹ der christlichen Lebensführung. Dabei geht es um die Frage, wieso es für den Glaubenden überhaupt noch die Notwendigkeit eines ethischen Imperativs geben könne. Sofern diese Frage durch die Erwartung des zeitlichen Endes der Welt bzw. den Fortbestand der alten Welt provoziert war, ist sie unmittelbar nicht mehr aktuell. Die Annahme, der ›Christ‹ sei als solcher der ›gute‹ Mensch, widerspricht aber darüber hinaus der Subjektstellung des Menschen, sofern sie vom Glauben qualifiziert wird: Die im christlichen Bewußtsein geschärfte und radikalisierte Wahrnehmung der vom Menschen geforderten Stellungnahme zum ethischen Sinn des Gesetzes weist in eine andere Richtung: Nicht die Beendigung der ethischen Reflexivität zugunsten einer religiösen Selbstgerechtigkeit – sie führt zu einer Unterscheidung in ›gute‹ und ›böse‹ Menschen –, sondern die Steigerung der ethischen Reflexivität ist die Konsequenz des Glaubens. Darum muß nunmehr eine bestimmte Konsequenz in den Vordergrund treten: Die erhöhte Sensibilität für das schuldhafte Versagen des Menschen ist in das christliche Verständnis der ethischen Forderung gerade eingeschlossen; dazu gehört korrespondierend ein klares Bewußtsein für die alle Menschen umfassende Solidarität der Liebe Gottes als des Grundsinnes des Gesetzes, nämlich Gemeinschaft mit Gott zu ermöglichen, wie er von Christus eingelöst worden ist. Die erhöhte Sensibilität für Schuld und Sünde erlaubt es, dem Phänomen des ethischen Widerspruchs offen standzuhalten, die Freiheit der ethischen Verantwortung also nicht an ein Bild des starken guten Menschen zu binden. Damit kann die ethische Aufgabe auch über ihr jeweiliges Gelingen oder Mißlingen hinaus unbedingt anerkannt werden. Die Solidarität der Liebe erlaubt es, die Bejahung der menschlichen Gemeinschaft als Weitergabe der Anerkennung des Menschen durch Gott, wie sie im Glauben vom Subjekt für sich selbst ergriffen wird, in der Weise allgemeiner und gegenseitiger Anerkennung zu konzipieren. Auf diesem Wege ist die christliche Ethik auf eine Universalisierung hin angelegt, die die Grenzen und Abgrenzungen einer Ethik religiös Privilegierter hinter sich läßt.
b) Fordert die an die Haltung des Glaubens gewiesene Grundstellung zu Gott eine »alternative« Ethik, also ein neues, christliches Gesetz, das das alte ablöst und verdrängt? Diese Frage hat eine große Tradition und wird immer wieder als die Suche nach einem solchen Proprium der christlichen Ethik aufgeworfen, das sich in einem deutlichen Sonderethos formiert. Jede durchgeführte theologische Ethik sieht sich dazu aufgefordert, ein Verständnis des Menschen und der Welt seiner Lebensführung zu entwerfen, das Anspruch auf Allgemeinheit erhebt. Anders kann eine Ethik nicht konzipiert werden. Die Unterschiede treten dann dort auf, ob ein Verständnis von Ethik sich über diese Logik der Ethik Rechenschaft ablegt oder nicht, d.h. die unabweisliche Tendenz auf das Universalisierungsgebot auch für sich selbst verantwortlich übernimmt oder in der Konsequenz in einer bloßen Appellhaltung verharrt.
Es ist die spezifisch innerchristliche Diskussion um die Konzeption der Ethik auch in der Gegenwart. An ihr unterscheiden sich deutlich konfessionelle Traditionen im Katholizismus, Calvinismus und Luthertum, aber auch die Unterschiede von theologischen Schulen.
In diesen Zusammenhang gehört die kontroverse Bestimmung des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik, ihrer Zu-, Vor- oder Unterordnung, das Verhältnis der theologischen zur philosophischen Ethik, das Verhältnis der Ethik zu den deskriptiven Humanwissenschaften. Es ist eine fundamentalethische Frage, die zugleich fundamentaltheologischer Natur ist, d.h. auf das strittige Verständnis von Theologie überhaupt hinführt. Das durchgehende Merkmal dieser Diskussion ist einmal, daß heute die Ortsbestimmung der Ethik in der Theologie zur zentralen Frage der Theologie überhaupt geworden ist, weswegen es auch sinnvoll erscheint, die Theologie insgesamt als ethische Theologie zu begreifen, weil letztlich alle relevanten Fragen der Theologie darin ihren aktuellen Bezug haben.
3. Das Christentum ist in sein ethisches Zeitalter eingetreten. Das Verhältnis der beiden Grundgestalten ethischen Denkens ist insofern auch und gerade zu einer zentralen Frage der christlichen Ethik geworden. Insofern ist es naheliegend, daß sich gegenwärtig das wissenschaftliche Interesse stärker auf die methodischen Fragen der ethischen Theoriebildung richtet, und dabei den Weg methodologischer Präzisierungen einschlägt. Gleichzeitig ist der Bedarf an unmittelbarer praktischer ethischer Orientierung gestiegen. Wo aber die ethische Frage den Charakter einer generellen religiösen Frage annimmt, wächst auch die Notwendigkeit erneuter und klarer ethisch theologischer Rationalität. Wenn Ethik die Theorie der menschlichen Lebensführung ist, dann ist für die Aufgabe der Theorie im Verhältnis zur Lebensführungspraxis heute ein neues Kapitel aufgeschlagen.
Lit.: Zur Diskussionslage der christlichen Ethik ist zu verweisen auf das ökumenisch konzipierte Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1 u. Bd. 2, 1978; Bd. 3, 1982, hg. von A. Hertz/ W. Korff/T. Rendtorff/H. Ringeling. In diesem Handbuch findet sich sowohl die Grundlagendiskussion wie eine Ausarbeitung der konkreten Themenfelder der Ethik. – Zur Geschichte der philosophischen Ethik ist zu verweisen auf den Art. Ethik im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter, Bd. 2, 1972, sowie auf den Art. Ethik in der Theol. Realenzyklopädie, Bd. 10, 1982. – Weitere Literatur: Auer, A.: Autonome Moral, 1972. – Böckle, F.: Fundamentalmoral, Kösel 19782. – Bonhoeffer, D.: Ethik, Kaiser 19819. – Ginters, R.: Werte und Normen. Einführung in die philosophische und theologische Ethik, Vandenhoeck 1982. – Korff, W.: Theologische Ethik, Herder 19792. – Patzig, G.: Ethik ohne Metaphysik, Vandenhoeck 1971. – Rendtorff, T.: Ethik, 2 Bde., Kohlhammer 1980/81. – Wolf, E.: Sozialethik. Theologische Grundfragen, Vandenhoeck 19822.
TRT4 (1983), Bd. 2, S. 48-54.