Martin Buber, Kirche, Staat, Volk, Judentum. Aus dem Zwiegespräch mit Karl Ludwig Schmidt im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart (14. Januar 1933): „Das Leiden um Gottes willen, die verborgene Geschichte der Pfeile, die Gott nicht verschickt, die im Dunkel des Köchers sein Werk wirken – von da aus leben wir seither als Israel. Aller seitherige Widerstreit kann nur von da aus verstanden werden.“

Kirche, Staat, Volk, Judentum. Aus dem Zwiegespräch mit Karl Ludwig Schmidt im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart[1] (14. Januar 1933)

Von Martin Buber

Erste Antwort

Als Karl Ludwig Schmidt und ich miteinander Briefe zur Vorbereitung dieser Aussprache wech­selten, verständigten wir uns zunächst über die Formulierung des Themas. Er schlug vor: »Kir­che, Staat, Volkstum, Synagoge«. Dies lehnte ich ab, deshalb zunächst, weil ich mich nicht berufen fühle, für eine »Synagoge« zu sprechen, und auch, weil ich Synagoge für eine uneigentliche Bezeich­nung halte, nicht für eine, mit der der Jude so an­gesprochen wird, daß er antworten kann. Ich habe statt dessen die Bezeichnung Judentum angenom­men, obwohl ich auch diese nicht ganz für die rich­tige halte. Für die rechte Bezeichnung an dieser Stelle halte ich die, die Schmidt selbst gebraucht hat im nachdrücklichen Sinn, so daß wir schon durch dieses Wort, durch diesen Namen, eine ge-[148]meinsame Ebene gewonnen haben, durch den Na­men »Israel«.

»Israel«, das ist nicht etwas, worüber wir bloß ei­nen biblischen Bericht besitzen, womit wir Juden uns kraft dieses Berichts geschichtsbewußtseins­mäßig verknüpft fühlen, sondern Israel ist ein Sei­endes: ein Einmaliges, Einziges, in keine Gattung Einzureihendes, nicht begrifflich Unterzubringen­des; jede Schublade der Weltgeschichte wider­steht diesem Unterbringen­wol­len. Israel ist das, was sich auch heute noch inmitten mannigfacher Verzerrung, Entartung, Verwischung als ein Eige­nes in diesem Judentum birgt, als verborgene Wirklichkeit in ihm lebt. Von da aus allein können wir Juden zu den Christen sprechen, von da aus allein haben wir die existenzielle Möglichkeit der Antwort. Und je wahrhafter wir als Israel ange­rufen werden, um so rechtmäßiger ist das Ge­spräch.

Daß Israel etwas Einziges, nicht Einreihbares ist, ist ja von Karl Ludwig Schmidt hier aner­kannt worden. Für die Kirche in ihrem rechtmäßigen Dasein ist Israel da; und für uns in unse­rem recht­mäßigen Dasein ist Israel da. Wir beide, Kirche und Israel selbst, wissen um Israel, aber in grund­verschiedener Weise. Grundverschiedenheit ist et­was ganz anderes als zweierlei Ansicht, die man erörtern kann, um dann zu versuchen, sie mitein­ander in Einklang zu brin­gen. Das ist hier nicht möglich. Es ist ein grundverschiedenes Sehen oder Wissen. Denn auch die Kirche sagt, wie Israel, sie [149] wisse. Dieses Wissen der Kirche um Israel und das Selbstwissen Israels stehen einander gegenüber in einer Weise, die strenger ist in ihrer Gegen­sätzlich­keit als ein nur logischer Widerspruch. Die Kirche sieht Israel als ein von Gott verwor­fenes Wesen. Dieses Verworfensein ergibt sich notwendig aus dem Anspruch der Kirche, das wahre Israel zu sein: die von Israel haben danach ihren Anspruch eingebüßt, weil sie Jesus nicht als den Messias erkannten.

Die Christen glauben, dieses Israel-Sein, das Amt, die Würde Israels, seine Erwähltheit von Gott her empfangen zu haben; hier ist eine Glaubensgewißheit, die unantastbar ist. Wir haben keine Mög­lichkeit, gegen dieses Wissen der Kirche um Israel etwas zu setzen, was ja doch nur als Argument wirksam werden könnte. Aber wir Israel wissen um Israel von innen her, im Dunkel des von innen her Wissens, im Licht des von innen her Wissens. Wir wissen um Israel anders. Wir wissen (hier kann ich nicht einmal mehr »sehen« sagen, denn wir wissen es ja von innen her, und auch nicht mit dem »Auge des Geistes«, sondern lebensmäßig), daß wir, die wir gegen Gott tausendfach gesündigt haben, tausendfach von Gott abgefallen sind, die wir diese Jahrtausende hindurch diese Schickung Gottes über uns erfahren haben – die Strafe zu nennen zu leicht ist, es ist etwas Größeres als Strafe –, wir wissen, daß wir doch nicht verwor­fen sind. Wir wissen, daß das ein Geschehen nicht in der Bedingtheit der Welt, sondern in der Wirklich­keit des Raumes zwischen Gott und uns ist. Und [150] wir wissen, daß wir eben darin, in dieser Wirklich­keit von Gott nicht verworfen sind, daß uns in die­ser Zucht und Züchtigung Gottes Hand hält und nicht losläßt, in dieses Feuer hinein hält und nicht fallen läßt.

Das ist grundverschiedenes, unverträglich grund­verschiedenes Wissen. Ich würde nicht ein­mal wa­gen, das unsre einen »Anspruch« zu nennen. Das ist ein zu menschlich stolzes Wort für diese Situa­tion. Einen »Anspruch« haben wir gar nicht. Wir haben nur unser armes, aber uneinschränkbar fak­tisches Wissen um unser Dasein in der Hand Got­tes. Und vom Menschen aus, vom menschlichen Unternehmen, von der menschlichen Sprache aus, vom menschlichen noch so kameradschaftlichen Verständigungswillen her kann diese Grundver­schiedenheit nicht aufgehoben werden. Aber wenn wir »harren«, harren wir dessen, was nicht vom Men­schen herkommen kann, sondern nur von Gott, einer Einung, die nicht vom Menschen her­gestellt werden kann, ja die der gegenwärtige Mensch schlechthin nicht konkret zu denken ver­mag.

Es ist hier angeführt worden das Wort des Paulus über die Aufhebung der Unterschiede in der Welt des christlichen Ereignisses. Diese Aufhebung der Unterschiede vermögen wir nicht zu verspüren. Wir fühlen, finden uns in einer Welt, in der die Un­terschiede unaufgehoben sind und ihrem Wesen nach unaufhebbar erscheinen. Aber wir fühlen freilich noch etwas anderes. Wir fühlen, daß der [151] Geist (dies ist ein Glaubenswort, das wir mit den Christen gemein­sam haben, wiewohl sie ihn pneuma hagion, heiliger Geist, und wir ihn ruach ha-kodesch, Geist der Heiligung oder des Heil- tums, nennen), daß der Geist selber nicht in diese Schied­lichkeit eingebunden ist; daß über unseren unaufhebbaren Unterschieden er einig weht, daß er zwar keine Brücke schlägt, aber uns Bürg­schaft der Einheit, im gelebten Augenblick Bürg­schaft der Einheit für das Zusammenleben auch von Christen und Juden gibt.

So möchte ich jenes jüdische Wort verstehen, das ich Paulus[2] gegenüberstelle als ein wohl zurückhaltenderes, das aber eine – wie mir scheint – von je­dem Menschen erfahrbare Tat­sächlichkeit aus­strömt. Es ist das Wort jenes alten Buches von den Dingen, die in der »Schule des Elija« von dem nach seiner Entrückung über die Welt wandelnden Gottesboten gelehrt werden: »Ich nehme zu Zeu­gen den Himmel und die Erde: ob einer aus der Völkerwelt oder einer aus Israel, ob ein Mann oder ein Weib, Knecht oder Magd, allein nach dem Tun, das er tut, läßt sich der Geist der Heiligung auf ihn nieder.« Das ist keine Aufhebung der Unter­schie­de, sondern die Zuteilung des Geistes an die Menschheit, so wie sie ist, in die Zerklüftung, in der sie steht; so aber, daß sie gemeinsam – von hüben und drüben – hinschauen kann zu dem, der so sich niederläßt auf die Menschen, wie ver-[152]schieden auch deren Standort, ja deren Glaubensgewißheit ist.

Wir Israel stehen der Ablehnung unseres Wissens um uns selbst durch die Kirche gegenüber. Die Kirche kann etwa zu uns sagen: »Das was ihr da Selbstwissen nennt, wovon ihr sagt, daß ihr es er­fahrt, die ihr euch als von Gott getragen, als nicht losgelassen, als nicht weggeworfen, als noch im An­gesicht daseiend fühlt, das ist eine Illusion, die euch euer Selbsterhaltungstrieb eingibt.« Was dann, wenn so die Gewißheit der einen Seite durch die andere Seite, von einem Letzten her, als Letz­tes abgelehnt wird? Ich glaube, das ist einer der Punkte, an denen wir Menschen die eigentliche Lehre des Als-Menschen-Daseins, die harte und heilsame Lehre empfangen. Wir haben miteinan­der zu schaffen in der Verschiedenheit des Mensch­lichen, und wie tief diese Verschiedenheit gehen kann, bis in die letzten Glaubenswurzeln hinein, sehen wir hier. Was können wir da tun?

Wir können etwas sehr Schweres zu tun versuchen, etwas, das für den religiös gebundenen Menschen sehr schwer ist, das seiner Gebundenheit und Ver­bundenheit widerstrebt, vielmehr, zu widerstreben scheint, etwas das seiner Verbundenheit mit Gott zu widerstreben scheint – wir können das, was der andere gegen unsere Existenz, gegen unser Seinswissen als seine Glaubenswirklichkeit bekennt, als ein Geheimnis anerkennen. Dessen Sinn zu beurtei­len sind wir nicht imstande, weil wir es von innen her nicht kennen, so wie wir uns von innen her ken­nen. [153]

Karl Ludwig Schmidt hat mit Recht in die Mitte seiner Betrachtung die Frage nach dem Mes­sias, die christologische Frage gestellt.

Wenn wir die Scheidung zwischen Juden und Christen, zwischen Israel und der Kirche, auf eine Formel bringen wollen, können wir sagen: »Die Kirche steht auf dem Glauben an das Gekommen­sein Christi, als an die der Menschheit durch Gott zuteil gewordene Erlösung. Wir Israel vermögen das nicht zu glauben.«

Die Kirche sieht diese unsere Aussage entweder als ein Nicht-glauben-Wollen an, als eine Ver­stocktheit in einem sehr bedenklichen Sinn, oder als einen Bann, als eine fundamentale Einge­schränktheit des Erkennen-Könnens der Wirk­lichkeit gegenüber, als die Verblendung Israels, die es hindert, das Licht zu schauen.

Wir Israel wissen um unser Nicht-annehmen- Können jener Botschaft in anderer Weise. Wir verstehen die Christologie des Christentums durch­aus als wesentliche Begebenheit zwischen Oben und Unten. Wir sehen das Christentum als etwas, dessen Kommen über die Völkerwelt wir in seinem Geheimnis zu durchdringen nicht imstande sind. Wir wissen aber auch, wie wir wissen, daß Luft ist, die wir in unsere Lungen einatmen, daß Raum ist, in dem wir uns bewe­gen, tiefer, echter wissen wir, daß die Weltgeschichte nicht bis auf ihren Grund aufgebrochen, daß die Welt noch nicht erlöst ist. Wir spüren die Unerlöstheit der Welt.

Eben dieses unser Spüren kann oder muß die Kir-[154]che als das Bewußtsein unserer Uner­löstheit ver­stehen. Aber wir wissen es anders.

Erlösung der Welt ist uns unverbrüchlich eins mit der Vollendung der Schöpfung, mit der Aufrich­tung der durch nichts mehr behinderten, keinen Widerspruch mehr erleidenden, in all der Vielfäl­tigkeit der Welt verwirklichten Einheit, eins mit dem erfüllten Königtum Gottes. Eine Vorweg­nahme der vollzogenen Welterlösung zu irgendei­nem Teil, etwa ein Schonerlöst­sein der Seele, ver­mögen wir nicht zu fassen, wiewohl sich auch uns, in unsern sterblichen Stunden, Erlösen und Erlöstwerden kundtut.

Eine Zäsur nehmen wir in der Geschichte nicht wahr. Wir kennen ihr keine Mitte, sondern nur ein Ziel, das Ziel des Weges Gottes, der nicht inne­hält auf seinem Weg.

Wir vermögen nicht, Gott auf irgendeine Art seiner Offenbarung festzulegen. Jenes Wort aus dem brennenden Busch: »Ich werde dasein als der, als der ich dasein werde« (d. h. als der ich jeweils dasein werde[3]) macht es uns unmöglich, irgend etwas Einmaliges als die endgültige Offenbarung Gottes zu nehmen. Nicht als ob wir irgend etwas über das Sich-offenbaren- oder das Sich-nicht-offenbaren-Können Gottes aussagen könnten; ich rede eben davon, daß wir von allen Offenbarungen, um die wir wissen, nichts Absolutes auszusagen vermögen. Wir sagen nicht: So kann sich Gott nicht offenbaren. Wir sprechen nur keiner seiner [155] Offen­barungen die Unüberbietbarkeit zu, keiner den Charakter der Inkarnation. Über jeden, aber auch jeden Moment der geschehenen Zeit weist je­nes futurische Wort des Herrn in unbeding­ter Weise hinaus; Gott ist jeder seiner Manifestatio­nen schlechthin überlegen.

Ich sagte schon: Das Juden und Christen Verbin­dende bei alledem ist ihr gemeinsames Wis­sen um eine Einzigkeit, und von da aus können wir auch diesem im Tiefsten Trennenden ge­genübertreten; jedes echte Heiligtum kann das Geheimnis eines anderen echten Heiligtums anerkennen. Das Ge­heimnis des anderen ist innen in ihm und kann nicht von außen her wahr­genommen werden. Kein Mensch außerhalb von Israel weiß um das Geheim nis Israels. Und kein Mensch außerhalb der Chri­stenheit weiß um das Geheimnis der Christenheit. Aber nicht­wissend können sie einander im Ge­heimnis anerkennen. Wie es möglich ist, daß es die Ge­heimnisse nebeneinander gibt, das ist Gottes Geheimnis. Wie es möglich ist, daß es eine Welt gibt als Haus, in dem diese Geheimnisse mitsam­men wohnen, ist Gottes Sache, denn die Welt ist ein Haus Gottes. Nicht indem wir uns jeder um seine Glaubens Wirklichkeit drücken, nicht indem wir trotz der Verschiedenheit ein Miteinander er­schleichen wollen, wohl aber indem wir unter Anerkennung der Grundverschiedenheit in rück­haltlosem Vertrauen einander mittei­len, was wir wissen von der Einheit dieses Hauses, von dem wir hoffen, daß wir uns einst ohne Scheidewände um-[156]geben fühlen werden von seiner Einheit, dienen wir getrennt und doch miteinander, bis wir einst vereint werden in dem einen gemeinsamen Dienst, bis wir alle werden, wie es in dem jüdischen Ge­bet am Fest des Neuen Jahres heißt: »ein einziger Bund, um Seinen Willen zu tun«.

Ich wiederhole: Daß es Israel gibt, ist etwas Ein­ziges, Uneinreihbares. Dieser Name, dem Erz­vater von Gott, nicht von Vater und Mutter ver­liehen, kennzeichnet die Gemeinschaft als eine, die von den Kategorien der Völkerkunde und der So­ziologie nicht zu erfassen ist. Sooft wir eine sol­che Kategorie anwenden, tun wir Israel unrecht. In der Bibel ist ausgesprochen, was die Einzigkeit Israels begründet. Sie läßt die Entstehung dieser Gemeinschaft geschichtsiden­tisch, ereignisiden­tisch sein mit Glaubenserfahrung und Glaubens­handlung einer Menschen­schar in ihrer entschei­denden Stunde.

Diese Menschenschar erfährt da ein ihr Widerfah­rendes als glaubende Schar, als Glaubens­schar, nicht als glaubende Individuen sondern als glau­bende Gemeinschaft, als solche glau­bend ver­nimmt und antwortet sie. In diesem Angesprochenwerden und Erwidern wird sie in dieser Stun­de zu dem konstituiert, was wir Volk nennen, zu etwas, was nun dauert, in einem geschlossenen Kreis von Zeugungen und Geburten. Das hebt Israel für alle Zeit von den Na­tionen und von den Religionen ab.

Es ist hier eine Einheit von Glauben und Volkstum, [157] die einmalig ist, und deren Einma­ligkeit als bei­läufig anzusehen einen Unglauben der geschehenen Geschichte gegenüber be­deutet. Ihre Entstehung wird als ein Bund zwischen Gottheit und Mensch­heit bezeichnet.

Dieser Königsbund: daß Gott zu einem Volk sagt (2. Mose 19,6), er nehme es sich als seinen unmittelbaren Königsbereich[4], und daß ein Volk von Gott sagt (2. Mose 15,18), er bleibe sein König »in Weltzeit und Ewigkeit«, ist einzig. Aber es ist grundverkehrt, ihn als ein Privileg zu verstehen. Das Volkhafte an diesem Volk erliegt freilich immer wieder der Versuchung, das zu tun.

Dagegen steht die große Erscheinung der Prophe­tie, die das Volk immer wieder gemahnt, es sei nichts anderes, als gleichsam ein Versuch Gottes. Die Genesis erzählt, wie Gott es zuerst mit einer Menschheit versucht, die versagt. Erst dann ver­sucht er, sich ein Volk als den An­fang einer Menschheit, den Anfang der Verwirklichung seines Königtums aufzuziehen. Gott nennt es (Jer 2,3) den »Anfangsteil seiner Ernte«.

Dieses Israel, das zugleich Nation und Religion und keins von beiden ist und das allen Versu­chun­gen der Nationen und der Religionen ausgesetzt ist, möchte in sich ruhen, es möchte sich als zum Selbstzweck begnadet empfinden. Aber seine Führer verweisen ihm alle Sicherheit; es ist als Volk nur da, weil Volkheit die Voraussetzung der ganzen Menschenantwort an Gott ist. [158]

Volk muß da sein, damit sich die menschliche Antwort im ganzen Leben, zu dem das öffentli­che gehört, erfüllen könne. Nicht die einzelne Person, erst die Gemeinschaft in ihrer Vielheit und Ein­heit, im Zusammenwirken, Zusammenverwirklichen ihrer verschieden gearteten und verschie­den berufenen Glieder kann Gott die ganze Le­bensantwort des Menschen geben. Darum muß Volk sein, darum ist Israel. Die Gemeinschaft muß als die Voraussetzung der Er­füllung dauern, und sie muß, wenn sie anders sein will, zersprengt und erneuert werden.

Gegen die Ausartung des Wissens um Israel in den Aberglauben, daß Gott ein Machtlieferant sei, weisen die Propheten immer deutlicher auf das Geschichtsgeheimnis hin. Der Weg Gottes durch die Geschichte läßt sich nicht in einem Schema darstellen. Nicht durch Verleihung von Macht und Erfolg gibt Gott sich als der Herr der Geschichte zu erkennen. Es gibt einen Bund Gottes mit dem Leiden, dem Dunkel, der Verborgenheit. Im pro­phetischen Wort wird das sün­dige Volk Gott ge­genübergestellt als einem, mit dem es sich nicht in der Macht, sondern im Dunkel, im Leiden wie­der verbinden kann.

Seither glauben wir daran. Es ist eine immer wie­der aktuelle Frage, daß ein Volk sündigen kann, indem es sein Auf-sich-selbst-Hören ein Auf-Gott- Hören nennt. Erst im Exil lernt Isra­el sich dieser Sünde entwinden.

Mit dem babylonischen Exil reift die Vorstellung [159] vom »Knecht Gottes«; von der Men­schenart, die je und je auf Erden erscheint und wirkt, was sie zu wirken hat, im Leiden und im Dunkel, im Kö­cher Gottes (»er hat mich zu einem blanken Pfeil gemacht, in seinem Köcher hat er mich ver­steckt«).

Das Leiden um Gottes willen, die verborgene Ge­schichte der Pfeile, die Gott nicht verschickt, die im Dunkel des Köchers sein Werk wirken – von da aus leben wir seither als Israel. Aller seitherige Widerstreit kann nur von da aus verstanden werden.

Die Zerstörung Jerusalems ist nach unserer Über­lieferung geschehen, weil die Gemeinschaft nicht erfüllt worden ist, weil es in Israel einen Wider­streit gab, der hinderte, daß der »An­fangsteil« zur Ernte gedieh. Und von da aus kommen nicht bloß die Juden unter die Völker, es kommt auch Israel über die Völker, das heißt, es kommt über die Völker die in Israel erwach­sene Botschaft Jesu vom kommenden Weltalter als der siegreichen Offenbarung der verborge­nen Weltgeschichte.

Die verborgene Weltgeschichte will aus dem Kö­cher steigen und sich als die Geschichte, als der Weg Gottes kundtun. Jesus, der von einer vergeistlichten Spätform der Theokratie auf die ur­sprüngliche Gewißheit des Gotteskönigtums und seiner Erfüllung zurückweist, verkündigt sie, in­dem er die Knechtskonzeption erneuert und wan­delt. Seine Botschaft aber hat nicht in ihrer ech­ten Gestalt, sondern in einer Verzweiung, die der [160] Botschaft Jesu fremd ist, die Völker erreicht. Diese Verzweiung, die wir am stärksten durch Augustin kennen – bei dem der Bereich der Volks­gemeinschaft, des Staates, die Voraussetzung der ganzen Lebensantwort des Menschen, preisge­geben, vom Reich Gottes abgeschnitten ist –, führt bis in die Konse­quenz einer Trennung von »Religion« und »Politik«. Immer wieder versucht ein Reichsgedan­ke, diese Zweiheit zu überwinden, immer wieder vergeblich.

Die Völker haben ihre Reichsgedanken als christ­liche Völker aufgerichtet. Sie haben das Kö­nig­tum Gottes als die ihnen zugewiesene Aufgabe empfangen, aufgenommen und als Christen aus­gesprochen. Die großen Reichsgedanken der Völ­ker knüpfen alle an jenes Verwirkli­chungsamt Is­raels an, aber in der Weise, daß sie, von der Kirche ermächtigt, Israel als aus diesem seinem Amt ver­worfen erklären, als nicht mehr berufen, an der Gottesgemeinschaft des Menschengeschlechts zu bauen.

So stehen die Völker in ihren Reichsgedanken ge­gen das Judentum. Das Judentum aber steht den Völkern so gegenüber, daß es eben in seiner arm­seligen Weise, aber unsäglich und unaus­löschlich um das Ja diesem Nein gegenüber weiß, nicht um ein leichtes und eigensinniges, sondern um ein auf­erlegtes und furchtbar schwer zu tragendes Ja.

Mit dem Stand der Völkerwelt gegen Israel hängt es zusammen, daß sie das Judentum nicht wahr­haft aufgenommen hat. Im Mittelalter schon [161] war das in seiner Glaubenswirklich­keit von bäuerlicher Überlieferung bewegte Israel von der Urproduk­tion ausgeschlossen; an dem schaffenden Leben des Volkes, in dessen Mitte es lebte, teilzunehmen war ihm versagt. Was vom Verhältnis zu den Gastsassen gesagt ist (2. Mose 47,21f.): »Verteilt ihr euch dieses Land nach den Stämmen Israels, / solls geschehn: / ihr laßt darüber das Los zu Eigentum fal­len / euch und den Gastsassen die gasten in eu­rer Mitte, / die Söhne gezeugt haben in eurer Mit­te, / sie seien euch wie ein Sproß unter den Söhnen Israels, / bei euch falle ihnen Los inmitten der Stämme Israels«, das haben die Völker nicht als auch zu ihnen gesprochen, als ihnen für ihr Ver­hältnis zu dem Gastsassen Israel geboten verstan­den. So haben sie es Israel unmöglich gemacht, jenen Satz des Jeremja für das Leben im Exil zu verwirklichen: »Baut Häuser und siedelt, / pflanzt Gärten und eßt ihre Frucht!«

Die Teilnahme an dem schaffenden Leben haben die abendländischen Völker Israel von je versagt. Aber auch als sie es endlich »emanzipierten«, ha­ben sie es nicht als Israel aufge­nommen, sondern als eine Vielheit jüdischer Individuen. Die einmalige Einheit ist von den Völkern nicht anerkannt wor­den. Israel ist von den Christen nicht als Israel rezipiert.

Manche sagen, daß dies unmöglich sei. Ein gläu­biger Mensch darf nicht so sprechen. Er darf die Tatsache nicht umgehen, daß es dieses Israel in der Mitte der Völker gibt, daß es in die Mitte der Völ-[162]ker geschickt ist. Dieses Nichtdürfen gilt für Is­rael wie für die andern. Der Einzigkeit Israels ent­spricht die Einzigkeit seiner Situation. Gehört zu ihr aber sinngemäß auch dies, daß jenes Gebot an alle Völker, die Gastsassen in ihrer Mitte haben, noch immer der Erfüllung, und jenes Wort des Jeremja an Israel noch immer seiner Erfüllbar­keit harrt?

Karl Ludwig Schmidt hat mich nach dem Zionis­mus gefragt. Gewiß ist in diesem der Begriff des Volkstums betont und überbetont worden; weil nämlich innerhalb eines unlöslichen Inein­ander von Volkstum und Glauben das Volkstum in der Zeit nach der Emanzipation vielfach vernachläs­sigt worden war. Man hatte versucht, Israel unter die Religionen einzureihen. Dem gegenüber muß­te mahnend gesagt werden, daß Israel ohne sein Volkstum keine Wirklichkeit hat. Aber heute ist es an der Zeit, wieder an die Stelle nationaler und religiöser Begriffe das namenhafte Israel zu set­zen, – die Einheit und Einzigkeit Israels. Für die­ses ist Zion zu bauen. Und Zion kann nicht terri­torial allein erfaßt werden, ebenso wie Israel nicht national allein erfaßt werden kann.

Ist eine echte Rezeption Israels möglich?

Diese Frage scheint mir wesensverbunden zu sein mit jener andern: Ist ein Handeln der christ­lichen Völker von der Bibel her möglich?

Ich weiß nicht, wie es sich damit verhält. Aber da­von, wie es sich damit verhält, scheint mir auch abzuhängen, ob es zwischen der Kirche, die um [163] kein Amt Israels weiß, und Israel, das um sein Amt weiß, einen echten Dialog geben kann, in dem man sich wohl nicht mitein­ander verständigt, aber ein­ander versteht, um des einen Seins willen, das die Glaubenswirk­lichkeiten meinen.

Für diese Möglichkeit spricht, daß heute abend mein christlicher Gesprächspartner das Wort vom Knecht Gottes auf Israels Selbstverständnis an­gewandt hat. Damit ist die Tiefe des Selbstwissens Israels um sein Amt angerührt. So ist uns die Hoff­nung gestattet, daß es zu einer echten Rezeption Israels die Möglichkeit in einem schweren, aber ge­segneten gemein­samen Ringen gibt.

Zuletzt noch die Frage nach dem Verhältnis Is­raels zum Staat. Das ist bestimmt von dem mes­sianischen Glauben Israels. Da dieser der Glaube an eine Menschengemeinschaft als Königs­bereich Gottes ist, kann Israel nie und nirgends der Frage nach der gesellschaftlichen und staatlichen Ord­nung des Bauens an der menschlichen Gemein­schaft gleichgültig begegnen. Es ist eine innerste Sache Israels, es ist seines Amtes je und je, an der Intention aller Staatlichkeit auf das Reich hin teilzunehmen.

Vom messianischen Glauben her ist für Israel jedes Staatswesen, wie immer es geartet ist, eine Vorwegnahme, ein problematisches Modell des Gottesrei­ches, das aber auf seine wahre Gestalt hinweist.

Zugleich aber spürt Israel, da es eben in seinem messianischen Glauben um die Fragwürdig­keit der Realisierungen weiß, je und je die andere Seite [164] des Staates, spürt, daß, was wir Staat nennen, je und je ein Pegel ist, der anzeigt, wieviel Freiwillig­keit zur Gemeinschaft vorhan­den, wieviel Zwang hinwieder erforderlich ist, um jetzt und hier ein Mindestmaß an rechtschaffnem Zusammenleben der Menschen zu erhalten.

Diese doppelte Schau Israels ergibt sein doppeltes Verhältnis zum Staat. Israel kann sich nie vom Staat abwenden, es kann ihn nie verleugnen, es muß ihn annehmen, und es muß Sehn­sucht nach der Erfüllung des Staates haben, die von seiner jewei­ligen Erscheinung so unzu­länglich angezeigt wird. Die konservative und die revolutionäre jüdische Haltung gründen in der gleichen Urgesinnung.

Zweite Antwort

Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bin­det; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkomme­nen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der be­steht aus schiefen, zer­spellten, formlosen, rich­tungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Fried­hofgewirr zu der herrlichen Har­monie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quent-[165]chen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. Man hat die Leiblichkeit der Menschen, die dazu geworden sind. Man hat sie. Ich habe sie. Ich habe sie nicht als Leiblichkeit im Raum dieses Planeten, aber als Leiblichkeit meiner eigenen Erinnerung bis in die Tiefe der Geschichte, bis an den Sinai hin.

Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die al­len Juden gegeben ist. Davon kann mich die Voll­kommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen, nichts kann mich abbrin­gen von der Gotteszeit Israels.

Ich habe da gestanden und habe alles selber er­fahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jam­mer ist mein; aber der Bund ist mir nicht auf­ge­kündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber aufgekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber aufgekündigt ist uns nicht worden. Wenn die Kirche christlicher wäre, wenn die Chri­sten mehr erfüllten, wenn sie nicht mit sich selbst rechten müßten, dann würde, meint Karl Ludwig Schmidt, eine schärfere Aus­einandersetzung zwi­schen ihnen und uns kommen.

Wenn das Judentum wieder Israel würde, wenn aus der Larve das heilige Antlitz hervorträte, dann gäbe es, erwidere ich, wohl die Scheidung unab-[166]geschwächt, aber keine schärfere Aus­einander­setzung zwischen uns und der Kirche, vielmehr etwas ganz anderes, das heute noch unaussprech­bar ist.

Ich bitte Sie, zum Schluß auf zwei Worte hinzu­hören, die einander zu widersprechen schei­nen, aber einander nicht widersprechen.

Im Talmud (Jewamot 47 a) wird gelehrt: Der Pro­selyt, der in diesem Zeitalter kommt, um ins Ju­dentum aufgenommen zu werden, zu dem spricht man: »Was hast du bei uns ersehen, daß du dazu übertreten willst? Weißt du denn nicht, daß die von Israel in dieser Zeit gepeinigt, ge­stoßen, hin­geschleudert, umgetrieben werden, daß die Lei­den über sie gekommen sind?« Wenn er spricht: »Ich weiß, und ich bin nicht würdig«, dann nimmt man ihn sogleich auf.

Es möchte scheinen, das sei jüdischer Hochmut. Es ist keiner. Es ist nichts anderes als die Kund­gebung, deren man sich nicht entschlagen kann. Die Not ist eine wirkliche Not und die Schande ist eine wirkliche Schande. Aber es ist ein Gottessinn dar­in, der uns zuspricht, daß uns Gott, wie er uns ver­heißen hatte (Jes 54,10), aus seiner Hand nicht hat fallen lassen.

Und im Midrasch (Schemot Rabba XIX, Sifra zu 3. Mose 18,5) heißt es: »Der Heilige, geseg­net sei er, erklärt kein Geschöpf ungültig, sondern alle nimmt er auf. Die Tore sind geöffnet zu jeder Stunde, und wer hinein zu gelangen sucht, gelangt hinein. Und so spricht Er (Jes 26,2): ‚Öffnet die Tore, / daß [167] komme ein bewährter Stamm (goj zaddik), / der Treue hält.‘ Es ist hier nicht gesagt: Daß Priester kommen, daß Leviten kommen, daß Israeliten kommen; sondern es ist gesagt: Daß komme ein goj zaddik.«

Das erste Wort handelte von den Proselyten, die­ses nicht, es handelt vom Menschenvolk. Die Gottestore sind offen für alle. Der Christ braucht nicht durchs Judentum, der Jude nicht durchs Chri­stentum zu gehen, um zu Gott zu kommen.

Quelle: Martin Buber, Die Stunde und die Erkenntnis. Reden und Aufsätze 1933-1935, Berlin: Schocken Verlag, 1936, S. 147-167.


[1] Dieses öffentliche Gespräch mit dem damaligen Bonner, jetzigen Basler Ordinarius für neutestamentliche Theologie knüpfte an einen früheren Zyklus ähnlicher Veranstaltungen an. Der vollständige Wortlaut ist nach dem Stenogramm in den Theologischen Blättern vom September 1933 veröffentlicht worden. Ich habe hier ein paar kleine Ergänzungen nach meinen Notizen vorgenommen. Zur Ergänzung meiner Darlegungen sei auf die Rede »Die Brennpunkte der jüdischen Seele« in meinem Buch »Kampf um Israel« (Berlin 1933) S. 50-67 hingewiesen.

[2] Dem von Schmidt angeführten Wort »Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib« (Galaterbrief 3,28).

[3] Vgl. mein »Königtum Gottes« S. 84, und mein »Kampf um Israel« S. 43, 53.

[4] Vgl. »Königtum Gottes« S. 125 und 238f.


Hier Bubers Text als pdf.

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