„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ heißt das biblische Gebot (Levitikus 19,18b). In seinen Auslegungen zu den Zehn Gebote im Kleinen Katechismus hat Martin Luther bei den Geboten der zweiten Tafel jedoch nicht auf die Nächstenliebe, sondern auf die Gottesliebe abgezielt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass …“. Und doch kommt bei Luther der bzw. die Nächste vorrangig in den Blick. An Stelle einer gebotenen Nächstenliebe, die ja im Deutschen mangels begrifflicher Differenzierung – wie im Griechischen und Lateinischen – von Emotionalität schwerlich zu trennen ist, zielen Luthers Erklärungen jeweils darauf, der Nächsten mit den eigenen Handlungen und Unterlassungen gerecht zu werden. Man könnte also an Stelle einer Nächstenliebe von einer gebotenen Nächstengerechtigkeit sprechen. Der Status eines Nächsten ergibt sich in der Begegnung mit dem anderen jeweils aus dem eigenen Handlungsvermögen heraus. In seiner Auslegung zum fünften Gebot schreibt Martin Luther im Großen Katechismus dementsprechend:
„Zweitens verschuldet sich gleichfalls diesem Gebot gegenüber nicht bloß, wer Böses tut, sondern auch, wer seinem Nächsten Gutes tun, ihm zuvorkommen, Schädliches abwehren, ihn schützen und retten kann, dass ihm kein Leid noch Schaden am Leib widerfahre – und tut es nicht. Wenn du also einen Nackten gehen lässt und könntest ihn kleiden, so hast du ihn erfrieren lassen; siehst du jemanden Hunger leiden und speisest ihn nicht, so lässt du ihn Hungers sterben. Ebenso: siehst du jemanden zum Tode verurteilt oder in gleicher Not und rettest ihn nicht, wenn du Mittel und Wege dazu wüsstest, so hast du ihn getötet; und es wird dir nichts helfen, dass du vorwendest, du habest zu seiner Lage nicht mitgeholfen und durch Rat oder Tat dazu beigetragen. Denn du hast ihm die Liebe entzogen und ihn der Wohltat beraubt, durch die er am Leben geblieben wäre. […] Darum ist die eigentliche Meinung Gottes von diesem Gebot die, dass wir keinem Menschen Leid widerfahren lassen, sondern alles Gute und Liebe beweisen: und zwar ist das, wie schon gesagt, besonders auf die gemünzt, die unsere Feinde sind. Denn dass wir Freunden Gutes tun, ist nur eine gewöhnliche heidnische Tugend, wie Christus Matthäus 5,46f. sagt.“