Über das moralische Urteilen und dessen Selbstgerechtigkeit
Wenn es in der Ethik um Urteile geht, werden vorrangig die Urteilsbildung bzw. die Urteilsfähigkeit in den Blick genommen: Wie kommt man zu einem begründeten ethischen bzw. moralischen Urteil über einen bestimmten Sachverhalt bzw. was besagt das jeweilige Urteil über die Vernünftigkeit des moralischen Subjekts. Was dabei außer Acht gelassen wird, ist der Vorgang des Urteilens bzw. Beurteilens oder Verurteilens im Hinblick auf den Urteilenden, wozu Friedrich Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft geschrieben hatte: «Dein Urtheil „so ist es recht“ hat eine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen; „wie ist es da entstanden?“ musst du fragen, und hinterher noch: „was treibt mich eigentlich, ihm Gehör zu schenken?“» (KSA 3, § 335, S. 561).
Wird ein eigenes Urteil getroffen und kommuniziert, ist dies für den Urteilenden eine distanzierende Selbstbestätigung. Im moralischen Urteil erfahre ich mich selbst auf der (vermeintlich) richtigen Seite. Das eigene Urteil kommt mir also selbst zu Gute. Je mehr und je schärfer ich urteile, umso weniger Ambivalenzen muss ich aushalten. Dies führt mitunter dazu, dass ich – wider besseren Wissens – an eigenen Urteilen festhalte, um einer Selbstverunsicherung zu entgehen.
Von einer urteilenden Selbstbestätigung über eine Selbstgewissheit hin zu einer Selbstgerechtigkeit sind es nur wenige Schritte. „Worin du über einen andern urteilst, darin verurteilst du dich selbst“ schreibt dazu der Apostel Paulus (Römer 2,1). Daher die Frage, die man sich als Urteilenden immer wieder neu zu stellen hat: Wie finde ich mich in meinem eigenen Urteilen wieder? Ein entschiedenes Urteil – das ja durchaus angebracht sein kann – müsste mich selbst anfechten und in Frage stellen, um der eigenen Selbstgerechtigkeit zu entgehen. Im eigenen Urteilen kann und darf ich für mich nicht Recht behalten, sondern bleibe als Sünder in Gemeinschaft der Urteilenden und Beurteilten auf die Rechtfertigung im Glauben an das Evangelium Jesu Christi angewiesen.