Dramatische Interpretation zum Gottesknechtslied Jesaja 53: „Als würde alle negative Energie von mir als Zuschauer entweichen, in den da unten einströmen und sich in ihm tödlich auswirken. So löst sich im Ansehen seines unansehnlichen Leidens die Verneinung meines Lebens.“

Francisco de Zurbarán: Agnus Dei (um 1635/40); Madrid, Museo del Prado

Dramatische Interpretation zum Gottesknechtslied Jesaja 53

Die Geschichte vom leidenden Gottesknecht trägt verschiedene Stimmen. Eingerahmt ist sie von der Gottes Stimme, der vom Ergehen seines Knechts redet (52,13-15 und 53,11b-12).

Das „Wir“ sind Zuschauer, die jedoch davon mitbetroffen sind, zunächst als Israel (Prophetie im Alten Testament), dann als Gläubige. Sie sehen eine unansehnliche Person, der Böses und Schmerzvolles, ja die eigene Tötung widerfährt. Im Bild des Theaters säßen wir in den Zu­schauerrängen und sähen, wie diese Person unten auf der Bühne präsentiert wird. Zunächst erwächst in den Zuschauern Widerstand gegen das zur Schau gestellte: Das will ich mir nicht ansehen, da muss ich wegblicken. Und doch kommt eine erste Deutung des Geschehens zur Sprache: Der da unten wird wegen eigenen Verfehlens von Gott gestraft, also wegen seiner Schuld nun hingerichtet. So kann ja der Tod für andere Sinn machen, wenn er als Bestrafung eines Missetäters bzw. als Konsequenz eigenen Fehlverhaltens angesehen und damit mehr als unergründliches Schicksal ist.

Aber warum soll sich diese Person freiwillig vor allen Augen auf die Bühne zur eigenen Hin­richtung begeben; warum tut sich diese Person diese Bloßstellung an? Die Zuschauer rätseln. Und dann, während sie zuschauen, sich also nicht abwenden, spüren sie, dass in dem Gesche­hen auf der Bühne sie selbst betroffen sind. Der da unten erleidet das, was den Zu­schauern selbst zu schaffen macht: Krankheit, Leid, und vor allem Sünde. Als würde alle negative Energie von mir als Zuschauer entweichen, in den da unten einströmen und sich in ihm tödlich auswirken. So löst sich im Ansehen seines unansehnlichen Leidens die Verneinung meines Lebens. Das Geschehen an der Person da unten wird mir zur Erlösung. Und dann stimme ich in den Chor der Erlösten ein: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen …“ (Jesaja 53,4ff)

Die ihm zugefügte Tötung ist sein eigenes Opfer – Lebenshingabe für die vielen, also auch für mich. Aber sein Opfertod endet nicht in dessen endgültigen Vernichtung. Der Gott behält im Unheilgeschehen seinen Knecht im Blick, errettet ihn aus dem Tod, erhöht ihn, setzt ihn zum König über alle ein. Die Auferstehung von den Toten macht nicht das Opfer zunichte, sondern vernichtet den Opfertod. Und so tritt der Unansehnliche mit einer Lebens- und Herrscher­macht mir gegenüber, die mich in seiner Gegenwart gnädig leben lässt.

Das Erstaunliche dieser Geschichte ist die göttliche Lebensmacht in dem menschlichen To­desopfer. Tödliche Hingabe und lebenrettende Auferweckung sind untrennbar miteinander verbunden. Nur in die Auferstehung von den Toten ist die stellvertretende Hingabe nicht Ver­gangenheit, sondern auch in der Gegen­wart gültig.

Hier mein Text als pdf.

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