Paul Schempps Predigt über Prediger/Kohelet 3: „Die ganze Weltgeschichte ist nun doch die Geschichte seiner Herrschaft, auch die Gottlosen, auch die Judasse sind da mit dabei und müssen erfüllen, was Gottes Rat und geheimer Weg ist. Die Juden und die Heiden, die Gerechten und die Gottlosen stehen gleich da vor ihm und haben keinen Grund, so zu tun, als ob sie nicht in der gleichen Wirklichkeit stünden, wo ein jegliches seine Zeit hat. „

1952 hielt Paul Schempp in der reformierten Gemeinde in Stuttgart eine Predigtreihe über die ersten vier Kapitel des Buches Prediger (bzw. Kohelet). Hier seine dritte Predigt über das dritte Kapitel:

Predigt über Prediger 3: Schicksal und Recht

Von Paul Schempp

1Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. 2Ge­boren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist, 3würgen und heilen, brechen und bauen, 4weinen und lachen, klagen und tanzen, 5Stein zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, 6suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, 7zerreißen und zunähen, schweigen und reden, 8lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit. 9Man arbeite, wie man will, so hat man doch keinen Gewinn davon. 10Ich sah die Mühe, die Gott den Menschen gegeben hat, daß sie darin geplagt werden. 11Er aber tut alles fein zu seiner Zeit und läßt ihr Herz sich ängsten, wie es gehen solle in der Welt; denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. 12Darum merkte ich, daß nichts Besseres darin ist denn fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. 13Denn ein jeglicher Mensch, der da ißt und trinkt und hat guten Mut in aller seiner Arbeit, das ist eine Gabe Gottes. 14Ich merkte, daß alles, was Gott tut, das besteht immer: man kann nichts dazutun noch abtun; und solches tut Gott, daß man sich vor ihm fürchten soll. 15Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch zuvor geschehen; und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist. 16Weiter sah ich unter der Sonne Stätten des Gerichts, da war ein gottlos Wesen, und Stätten der Gerechtigkeit, da waren Gottlose. 17Da dachte ich in meinem Herzen: Gott muß richten den Gerechten und den Gottlosen; denn es hat alles Vornehmen seine Zeit und alle Werke. 18Ich sprach in meinem Herzen: Es geschieht wegen der Menschenkinder, auf daß Gott sie prüfe und sie sehen, daß sie an sich selbst sind wie das Vieh. 19Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh; denn es ist alles eitel. 20Es fährt alles an einen Ort; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub. 21Wer weiß, ob der Odem der Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehes abwärts unter die Erde fahre? 22So sah ich denn, daß nichts Besseres ist, als daß ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dahin bringen, daß er sehe, was nach ihm geschehen wird?
Prediger 3,1-22 – Luther-Bibel 1912)

Nachdem der Prediger mit solch erschütternder oder auch ärgerlicher Hart­näckigkeit die Ver­geblichkeit des menschlichen Daseins in Natur, Geschichte und Kultur gelehrt hat, führt er uns jetzt in die Wirklichkeit des Alltags und zeigt uns da den Sinn all dieser Vergeblichkeit.

Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.“ (Pred 3,1) Wenn wir das so hören, so mag’s uns als eine glatte Selbst­verständlichkeit erscheinen. Es hat alles einen Anfang, aber es hat auch alles ein Ende. Und der Weg vom Anfang bis zum Ende hat seine bestimmte Länge. Aber gerade diese alltäglich erfahrbare, unleugbare Tatsache ist tief rätselhaft. Diese Tatsache, daß alles seine Zeit hat, kann man ja nicht einfach gelten lassen und anerkennen mit Bedauern oder auch mit Freude: Leider hat alles seine Zeit oder gottlob hat alles seine Zeit. Darum handelt es sich nicht, ob uns das angenehm oder peinlich ist, sondern darum, ob wir über diese Zeit verfügen, weil wir sie haben — denn alles hat ja seine Zeit — oder ob die Zeit über uns verfügt, weil sie uns hat, denn alles hat seine Zeit. Zeit haben kann heißen: Ich habe Zeit, ich kann anfangen, wann ich will, ich kann die Dauer be­stimmen, wie ich will, ich kann die Zeit ausfüllen, womit ich will, ich kann aufhören, wann ich will. Von unserem „Vornehmen“ ist ja die Rede. Zeit haben kann aber auch heißen: Ich habe die Zeit, die für mich bestimmt ist, die mich ausfüllt, die mich mit sich nimmt, die allem meinem Vornehmen die Stunde, also Anfang und Ende und Inhalt zuweist, in die ich mich schicken muß. Entweder ist die Zeit eine leere Tafel, die ich beschreibe oder eine be­schriebe­ne Tafel, die ich bloß ablesen kann. Wir leben ja mit der Uhr, und sie zeigt die Stunde an, aber lauter Stunden, die entweder belegt oder frei sind. Und welche Zeit meint nun der Prediger? Die freie Zeit, die Zeit unseres Vor­nehmens, oder die belegte Zeit, die Zeit unseres Müssens, die Zeit als Ge­legenheit oder die Zeit als Schicksal? Offenbar beides. Mit dem Geboren­wer­den und Sterben beginnt er die Reihe seiner Beispiele, die im Urtext immer [19] eingeleitet sind mit dem gleichmäßig hämmernden „Zeit ist’s für“, „Zeit ist’s für“, „Zeit ist’s für“. Hinter uns liegt die Geburt, an jenem Tag, an jenem Ort, in jener Zeit, und ungefragt ist uns gegeben Vater und Mutter, Veranlagung und Begabung, Erziehung und Umgebung, Name und Ge­schlecht und von da­her und dadurch bis heute alles geheimnisvoll bestimmte Zeit, Schicksals­zeit. Und vor uns das Sterben: unbestimmte Zeit und doch schon eingeleitet mit unserem Al­ter, mit dem Grad unserer Gesundheit, mit dem Engpaß unserer Möglichkeiten, mit allem, was wir erlebt und erlitten haben — dort ist der Graben, dort ist die Wand, auf die wir zuge­hen mit Angst oder Hoffnung, und so auch vor uns geheimnisvoll bestimmte Zeit, Schicksals­zeit. Und doch redet der Prediger nicht bloß von der unausweichlichen Zeit, von dem, was uns bestimmt und unser Leben ausfüllt mit lauter Notwendigkeiten, nein, er redet gerade so auch von der Zeit unserer Gelegenheiten, unseres Vornehmens, unserer Selbstbestimmung und Freiheit, wo wir pflanzen und bauen, wo wir suchen und behalten, wegwerfen oder zerreißen oder nähen oder tanzen, und er macht keinen Unterschied zwischen dem, was wir gern oder ungern, frei­willig oder unfreiwillig tun. Er redet ja von der ganzen Wirklichkeit unseres Da­seins, von der Alltäglichkeit, in der das Müssen und Wollen so nah bei­einander, so unent­wirr­bar ineinander ist. Weinen und Lachen, Sichküssen und Sichscheiden, Lieben und Has­sen, Krieg führen und Frieden halten, ja Schwei­gen und Reden, wo ist und war es ein Müs­sen? Wo ist und war es ein Wollen? Mag alles noch so sehr in gewohntem Gleise gehen oder mag alles noch so sehr in Aufregung und Zufälligkeiten verlaufen: jeder Tag ist gefüllt mit zahl­losen: ich muß, ich muß, ich muß und mit zahllosen: ich will, ich will, ich will, und dann kommt das „ich sollte“ und „ich möchte“ dazu und das Ergebnis ist dann ein unentwirrbarer Knäuel von Freiheit und Zwang, von Schicksal, das uns anklagt: ach, ich hätte damals anders reden, an­ders handeln, anders ent­scheiden sollen, von Schicksal, mit dem wir uns entschuldigen: ach, ich konnte ja nicht anders, von Leistung und Verdienst und von bloß erlittenem Leben. Schau­en wir auf unsere Vergangenheit? Ist’s ein Strom, auf dem wir hilflos trieben? Ist’s ein Schiff, das wir entschlossen steuerten? Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen hat seine Stunde. Der Prediger sagt nicht Schicksal und er sagt nicht Freiheit, er sagt nicht Bestimmung und er sagt nicht Auf­gabe, sondern er sagt Mühe, Plage, Verlegenheit, Angst, nutzlose An­strengung. Er sieht den Menschen, der nach Wegzeigern sucht, wo keine sind, der auf seinen Weg sieht und doch in der Irre geht, der gerade das, was ihm das Aller­bekannteste zu sein schien, sein eigenes Leben, seine alltägliche Wirklichkeit, nicht kennt, den hilflosen, blinden Menschen, der eben nicht weiß und nicht wahrhaben will, daß er hilflos und blind ist. Aber vergessen wir ja nicht: [20] er predigt, er lehrt, er verkündigt, obwohl diese unsere Wirklich­keit auch die seine ist, obwohl er ebenso auch seine eigene Hilflosigkeit und Blindheit be­kennt. „Ich sah die Mühe, die Gott den Menschen gegeben hat!“ (Pred 3,10) Gott, Gott hat uns dieses mühselige Leben gegeben. Gott legt uns die Last auf, Gott läßt jeden Tag seine Plage haben, Gott tut alles fein zu seiner Zeit! Das hat der Prediger gemerkt. Das sagt uns unser Leben nicht, das zeigt uns keine Zeit und keine Stunde. Dazu müssen uns erst die Au­gen aufgehen. Das ist uns gesagt, daß Gott alles so herrlich regiert, daß Gott das Werk, das uns be­kümmert, mit wunderbarem Rat hinausführt. „Gott hat uns die Ewigkeit ins Herz gegeben“, heißt es in Vers 11 unseres Textes im Wortlaut, „doch ohne daß der Mensch durch­schauen könnte das Tun, das Gott vom Anfang bis zum Ende tut.“ (vgl. Pred 3,11) Die Ewig­keit in unseren Herzen? Ja, aber eben nur im Herzen, nur in unserer Sehnsucht oder Angst, nur als ein Rätsel, das wir nicht lösen, weil unser Leben eben nicht der Ewigkeit entspricht, weil da alles seine Zeit hat, zeitlich ist, auch unsere tiefsten Erlebnisse, auch die gewaltigsten Unterneh­mungen. Was Gott tut, das besteht immer — was wir tun, das vergeht immer. Be­trachten wir nur unse­ren Tageslauf, sehen wir die Leute an, mit denen wir zu tun haben, lesen wir die Zeitung, ja hören wir gar Predigten: wo ist da die Ewigkeit? Was hat das alles mit der Ewigkeit zu tun? Der Prediger läßt nicht locker. Er will, daß wir ehrlich sind, daß wir uns nichts vormachen und einbilden. Hier diese Erde und Zeit nimmt uns in Anspruch, sie füllt uns aus und wir füllen sie mit Lachen und Weinen, mit Bauen und Einreißen, mit Krieg und Frieden. „Aus dieser Erde quellen meine Freuden, und diese Sonne scheinet meinen Leiden.“ Gott macht alles fein zu seiner Zeit — alles gut und recht und vollkommen und schön — und wir tun alles zu unserer Zeit — so unvollkommen, so kümmerlich, so mangelhaft und auch so gut, als wir’s eben verstehen und können — aber wo ist nun sein Werk und wo das unsere, wo ist seine Zeit und wo die unsrige? Wir sagen wohl gern: Gott hat uns bewahrt, Gott hat uns gute und böse Tage gegeben. Gott hat uns die Lieben genommen, Gott hat uns geschlagen und getröstet und wir möchten es gern glauben. Gott wird uns weiterhelfen und führen, aber wo war und ist denn nun Gottes Werk und Regierung in unserem Alltag? Gibt es in unserer Le­bensgeschichte auch noch eine Gottesgeschichte? Gibt es in der Weltgeschichte auch noch eine Reich-Gottes-Geschichte? Fallen sie zusammen? Können wir sie unterscheiden? Nein, wir schauen nicht durch. Wir treffen nicht das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Unbegreiflich sind seine Wege und unerforschlich seine Gerichte. Wie kämen wir dazu, zu sagen: dieses unselige Jahrzehnt sei Gottes Werk? Wie dürfen wir sagen: unser Leben sei Tag für Tag Gottes Werk gewesen und werde es auch künftig sein? Wie dürften wir den heutigen [20] Tag für uns und demnach für alle Menschen einen Tag Gottes, den Tag des Herrn, also einen guten, einen fröhlichen, einen glücklichen Tag heißen?

Aber seht, der Prediger predigt mit so rücksichtsloser Entschlossenheit die Verborgenheit Gottes, daß jeder fromme Leser nur immer wieder erschrecken kann, er weist uns unerbittlich an unsere eigene Wirklichkeit. Da zeig mir, wo ist dein Gott? wo ist da ein Werk, das bleibt, wo ist da dein Beweis für die rechte Zeit deines Weinens und deines Lachens, deines Redens und deines Schweigens, für die rechte Zeit deines Lebens und deines Sterbens? Beweis mir doch, daß du zerreißt, was Gott zerrissen haben will, daß du liebst, wen und wann Gott geliebt haben will, daß du Gottes Werk tust, daß Gottes Wille und Zeit in deinem Willen und in dei­ner Zeit ist! Schau doch: alle mühen sich alle plagen sich, alle suchen nach ihrer Zeit, nach der rechten Stunde, nach der rechten Aufgabe, nach der rechten Erfüllung, nach dem rechten Ge­winn ihrer Zeit, und allen zerrinnt es unter den Händen, alle schieben und werden ge­scho­ben, alle sorgen und sehen doch nicht, was die Zukunft bringt. Und du willst die Ausnahme sein? Du willst triumphieren und sagen: Ich hab’s! Das ist mein Weg und meine Stunde, so und nicht anders war’s und ist’s recht und nach Gottes Willen und Ratschluß. Und wie steht’s mit dem Recht auf der Welt? Wo sind die rechten Richter? „Ich sah Stätten des Gerichts, und da war gottlos Wesen. Ich sah Stätten der Gerechtigkeit, und da waren Gottlose.“ (vgl. Pred 3,16) Wohl gibt es Gerechte und Gottlose, aber wer kann sie unterscheiden? Kommt die Ge­rechtigkeit zum Sieg und Ziel? Wird der Gottlose erkannt und recht gerichtet? — Können wir da etwa heute sagen: Es steht gut um die Gerechtig­keit. Es wird jedem das Seine. Wo sind die Schuldigen und wo die Un­schuldigen? Ist’s jetzt Zeit zum Protest oder protestieren nicht schon genug? Ist’s jetzt Zeit zur Ergebung oder ergeben sich nicht schon genug? Und die, die sagen: Es wird schon alles recht werden, wir vertrauen auf Gott, dürfen die sich zurückziehen und zuschauen, wie’s eben nicht recht wird, oder müßten sie nicht wie Lichter im Dunkel die rechten Wege weisen? „Ich dachte in mei­nem Herzen: Gott muß richten den Gerechten und den Gottlosen.“ (Pred 3,17) Also beide müssen vor Gottes Gericht. Wie fragwürdig ist also auch die Gerechtig­keit der Gerechten und wie verborgen bleibt also Gottes Recht und Gericht! Also so hoffnungslos steht’s mit der Welt, so aussichtslos ist es, Gottes Recht zu tref­fen und zu tun? Und das sagt der Prediger, der sich Sohn Davids nennt, dessen Weisheit als Richter berühmt war weit über die Grenzen seines Reiches? Weiß er nichts von Israel, vom Recht und Gesetz Gottes zu sagen, das seinem Volk gegeben war und das er doch kannte? Er tut so, als ob er nichts wüßte von Gottes Offenbarung, von all seinen gerechten Gerichten auf Erden, von Recht und Gerechtigkeit, die von Zion ausgehen, und nichts von der Ver-[22]hei­ßung des Königs der Gerechtigkeit? Sollte er vielleicht doch das sein, was manch ein gelehrter Leh­rer schon vermutet hat, ein Jude, der an Israels Glaube, an Gesetz und Erwählung irre gewor­den ist, der sich bestechen ließ von der Philosophie und Aufklärung der griechischen Denker? Fast wird’s uns zuviel, zu heidnisch und gottlos, wenn wir weiter lesen: „Ich sprach in mei­nem Herzen: Es geschieht wegen der Menschenkinder, auf daß Gott sie prüft und sie sehen, daß sie an sich selbst sind wie das Vieh.“ (Pred 3,18) Dem Menschen geht’s wie dem Vieh, er hat nicht mehr als das Vieh. Alles ist von Staub und wird zu Staub. Selbst das ist un­gewiß, ob die Seele des Menschen aufwärts fährt oder unter die Erde? Und vom Vieh weiß man es auch nicht. Der Mensch dem Tiere gleich? Der Mensch allenfalls ein höheres Tier? Ist das nicht schlimmster Materialismus, im schärfsten Widerspruch zu allem, was in der Bibel steht, schlimmer noch als die Lehre vom Genuß des Lebens? Nein und noch einmal nein! Von unserer Wirklichkeit redet der Prediger. Das, gerade das, sagt er, sollen wir Menschen nach Gottes Willen und Absicht erkennen, daß der Mensch an sich selbst wie das Vieh ist. Der Mensch an sich selbst, der Mensch, wie er nicht nur da und dort auch vorkommt, sondern der Mensch, wie er ist, wie er durchaus nicht sein will, wie er sich gar nicht erkennen will, wie er sich aber erkennen soll! Sollte nicht vielleicht gerade der Prediger das Gesetz richtig gelesen haben und sollte nicht vielleicht gerade das Neue Testa­ment das an den Tag gebracht haben, was der Mensch an sich selbst ist? Nein, ein Tier ist der Mensch nicht, aber wie ein Tier, er hat nichts voraus vor ihm. Mit den Tieren ist er geschaffen, dem Tier hat er sein Ohr ge­schenkt statt dem Wort Gottes. Das Tier zieht er am Sabbat aus dem Brunnen, aber dem Menschen will er nicht helfen. Das sind die gesetzestreuen Juden! Der Bauch ist ihr Gott! Das sagt Paulus von Gliedern der Gemeinde. Kranich und Schwalbe wissen ihre Zeit, aber das Volk Gottes nicht. Der Ochse und Esel weiß seine Krippe, aber Israel kennt seinen Herrn nicht! Die Ungerechten sind wie die unvernünftigen Tiere, sagt der zweite Petrusbrief. Und die letzte Zeit wird’s an den Tag bringen, was der Mensch ist. Dem Tiere werden die Völker ihre Reiche geben nach Gottes Willen, das Tier werden sie anbeten, sein Malzeichen werden sie tragen. Leiber und Seelen wird man verkaufen wie Tiere. Am Gottesberg machte Aaron ein Tier als Bild Gottes. — Aber nicht wahr, das alles hindert uns nicht, daß wir doch für die Würde des Menschen einstehen, daß wir es abweisen, zu denen zu gehören, die zu Tau­senden Menschen wie Tiere behandelt haben, die sich auf Menschen stürzten wie Tiere, um sie zu entehren oder zu berauben, zu den Sklavenhaltern und Bestien in allen Ständen von den Kö­nigsthronen bis zu den Räuberhöhlen. Wir wissen ja auch etwas von der brutalen Wirklichkeit des Lebens, aber diese [23] Übertreibung teilen wir nicht, daß der Mensch dem Vieh gleich sei. Hören wir: der Mensch an sich selbst, der Gerechte und der Gottlose! „Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer!“ „Es ist kein Mensch so gerecht, daß er Gutes tue!“ Haben wir einen Vorteil? fragt Paulus. Gar keinen. Alle Juden und Griechen sind unter der Sünde. Dar­um geht es uns wie dem Vieh. Darum müssen alle an einen Ort. Das müßte und sollte uns die Wirklichkeit zeigen, aber sie tut es nicht. Solche ehrlichen Augen haben wir nicht. Und wie sollte der Prediger das gesehen haben, wo doch seine Zeit gewiß nicht schlimmer war als die unsrige. Ja was ist der Mensch an sich selbst? Was ist er von oben gesehen, in Gottes Augen? Das verlorene Schaf! Das merkt man nicht an sich selbst; nichts vergißt sich schneller als das im täglichen Leben, wo wir doch immer in einer großen oder kleinen Herde sind. Aber es ist uns gesagt durch das Wort des Lebens, das Wort der wahren Wirklichkeit, durch das Wort von Jesus Christus, der selber wahrhaftig und wirklich unser Leben ist. Das steht nicht beim Prediger, aber es ist der Schlüssel zum Prediger. Ohne dieses Wort ist das Alte Testament eben ein jüdisches Buch und der Prediger ein heidnisches Buch und es ist unverständlich, wie dieses Buch in die Bibel ge­kommen ist. Aber wir erinnern uns an die Überschrift: Der Sohn Davids. Der König von Jerusalem. Ja, der verborgene Gott hat sich geoffenbart, es hat ein Leben gegeben, das ganz und gar von Anfang bis zum Ende das Werk Gottes war, das ewig bleibt, das Leben dessen, in dem alle Zeit erfüllt ist, der wußte, wann seine Stunde gekommen war als die Stunde Gottes, als die Zeit zum Leben und zum Helfen und als die Zeit zum Lei­den und zum Sterben. Er ist der wahrhaftige Mensch, der sah, wie sie alle verloren waren und in die Irre gegangen wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er ist der Gerechte, der mit den Gottlosen starb, er ist das verlorene Schaf, das zur Schlachtbank ge­führt ward. Er ist unter­wärts unter die Erde gefahren und er ist überwärts zum Himmel gefahren. Seine Zeit stand in Gottes Händen. Aus Gottes Hand hat er sie genommen und ihr sie zurückgegeben. Er hat nun auch deine und meine Zeit in die Hand genommen. Die ganze Weltgeschichte ist nun doch die Geschichte seiner Herrschaft, auch die Gottlosen, auch die Judasse sind da mit dabei und müs­sen erfüllen, was Gottes Rat und geheimer Weg ist. Die Juden und die Heiden, die Gerechten und die Gottlosen stehen gleich da vor ihm und haben keinen Grund, so zu tun, als ob sie nicht in der gleichen Wirklich­keit stünden, wo ein jegliches seine Zeit hat. Ja, unsere Vergan­genheit ist durch Jesus Christus wirklich die Zeit, in der ER gut gemacht hat, was wir böse machten, und die Gegenwart, der heutige Tag ist fröhlicher Tag des Herrn für die, die es glau­ben und Gott loben und danken und für die Toren, die nicht wissen, wie groß die Finsternis ist, in die sein Licht scheint. Der Tod ist [24] der Sünde Sold, aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Jesus Christus, unserem Herrn. Die Gabe Gottes. Seid fröhlich, esset und trin­ket, seid guter Dinge in eurer Arbeit, denn das ist euer Teil. Mit der Erkenntnis des Predigers, daß alles eitel ist, kann man es doch gar nicht aushalten, da kann einem doch kein Bissen mehr schmecken und keine Stunde mehr gefallen. Und doch kommt es immer wieder zu die­ser merkwürdigen Folgerung. Gerade darum, gerade als die Verlorenen dürft ihr von Gottes Gabe leben, dürft schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist, dürft glauben, daß er da bei euch ist, daß ihr ihm gerade so recht seid, weil ihr dann auf ihn angewiesen seid und auf ihn warten könnt und Er allein eure Hilfe, euer Trost, eure Gerechtigkeit, euer Heil und Leben ist. Seht, wir gehen jetzt wieder nach Hause, und jedes von uns wird dann reden oder schwei­gen, lachen oder klagen, sich plagen oder sicher heute sich auch erholen, ganz wie andere Menschen auch. Aber wenn wir gehört haben, daß Er der gute Hirte ist und wir die verlorenen Schafe, dann muß das alles doch ein bißchen anders sein, dann wissen wir: das alles, was wir da tun und lassen, ist an sich selbst nicht gut, nicht richtig und nicht wichtig und ohne Sinn; aber Jesus Christus ist da, er ist mit mir, er leitet mich und regiert mich und nimmt nun diesen Tag unter seine Hände und Herr­schaft und da ist nun unter uns Gottes Macht und Gnade am Werk, die Gnade, die uns demütigt, und die Macht, die uns erhöht zu seiner Zeit. Es kommt dann doch eine Ordnung und eine Richtigkeit und ein Mut in unsern Alltag, und sein Wort tut Wunder in diesem Irrgarten, denn uns gilt es: Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und freudig seist. Laß dich nicht grauen und entsetze dich nicht, denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

AMEN!

Gehalten in der reformierten Gemeinde in Stuttgart.

Quelle: Paul Schempp, Der Prediger. Vier Predigten Kapitel 1-4, Schriftreihe der Kirchlich-Theologischen Sozietät in Württemberg, Heft 2, Bad Cannstatt: Müllerschön, 1953, S. 18-24.

Hier Schempps Predigt als pdf.

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