Die Predigt vom neuen Menschen
Von Rudolf Bohren
I. Notwendigkeit und Problematik einer Predigt vom neuen Menschen
Wir beten: „Dein Wille geschehe“, d.h., daß sein Wille auch in der nächsten Predigt geschehe. Zur Bitte gehört die Frage: Was ist jetzt dran? Welches Wort Heiliger Schrift ist jetzt an der Zeit? Was will der, den wir predigen, heute und morgen durch uns ausrichten lassen?
„Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn“, auf daß wir neue Menschen würden. Seitdem gehören beide zusammen, die Zeit und das Wort. Darum verleiht der Geist den Texten der Schrift zu je verschiedenen Zeiten Stimme oder läßt sie stumm. So kamen während und nach dem Dreißigjährigen Krieg die Klagelieder Jeremias zu Wort, ein Walter Lüthi predigte den Propheten Daniel, als die braune Abgötterei über Deutschland kam, und über das Buch Nehemia, als der Krieg zu Ende ging. Nach dem Holocaust wurde die Verbindung der Kirche mit Israel Thema. Aber was ist jetzt dran?
Wenn Seelsorgelehrer des 19. Jahrhunderts – C.E. Nitzsch und E.Chr. Achelis – den Begriff der Orthotomie prägten und damit die je individuelle Zuteilung des Worts im Anschluß an 2Tim 2,15 meinten, dann gilt das rechte Einteilen und Austeilen des Schriftwortes erst recht für den geschichtlichen Wandel.
Zum Achten auf das Wort gehört darum das Achten auf die Zeit. Es gibt kein Wort ohne Zeit und keine Zeit, die nicht das Wort braucht, das sie qualifiziert. Calvin sah Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis zusammen. Ebenso gehören Wortverständnis und Zeitverständnis zuhauf: ihr Wechselverhältnis dürfte noch schwieriger zu klären sein als das zwischen Selbst- und Gotteserkenntnis. Es bedürfte sorgfältiger Erörterung und wäre ein Thema für sich. Ich muß mich mit Andeutungen begnügen, indem ich auf Gerhard von Rads Ausführungen über „Die Lehre von der rechten Zeit“ und „Die göttliche Determination der Zeiten“ verweise[1]. „Alles hat seine bestimmte Stunde“ (Pred 3,1) und ein Wort zur rechten Zeit gleicht einem goldenen Apfel in silberner Schale (Spr 25,11). Darum heißt nach dem Text fragen auch nach der Zeit fragen. Die Exegese des Textes und die der Zeit sind nicht zu trennen. Jede Zeit ruft nach einem Wort und das Wort sagt die Zeit. Ein Wort neben der Zeit wäre ein Unwort.
So ist es höchst bedeutsam, wie der Evangelist den Beginn der Predigt des Freudenboten und Profeten aus Nazareth datiert: Die Einkerkerung des Vorläufers setzt offenbar das Signal für die Predigt von Gottes Frohbotschaft, die nun die Zeit als erfüllte qualifiziert und damit das Nahen der Herrschaft Gottes anzeigt, das Umkehr und Vertrauen auf die Frohbotschaft ermöglicht und erheischt (Mk 1,14f).
Jede Predigt hat einen Termin, in dem der Wille des Vaters geschehen soll. Darum will die Zeit durchschaut sein: Jesus sieht – nach Lukas – die Unfähigkeit, die Zeichen der Zeit zu deuten, parallel zu der, die Schrift zu verstehen (vgl. 12,54-57 mit 13,10-17). Beide mal tituliert er die Unverständigen als „Heuchler“. Der Heuchler leidet an defekter Wahrnehmung und versteht weder die Schrift noch die Zeit.
Abstrahiert aber das Zeitverständnis vom Herren und Geber der Zeit, mag es sehr scharfsinnig sein, aber es versteht nicht die Bewegung der Heilszeit seit der Auferstehung Jesu und damit fehlt das Entscheidende an Klarsicht. Darum mahnt der Apostel – seine Mahnung hat die gleiche Struktur wie der Ruf des Profeten zum Reich – und ist eine Voraussetzung zur Ortho- tomie: „Bedenkt die gegenwärtige Zeit“ – vor Gottes Angesicht. „Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf“ – für die Prediger zuerst und die Gemeinden insgemein. Warum? „Denn jetzt ist uns das Heil näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.“ Das kommende Heil hält die Flucht der Zeit auf, macht, was wir verlieren zum Gewinn, rückt die Gegenwart ins Morgenlicht: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe“. Das merken die nicht, die schnarchen und so tun, als seien sie wach, die Heuchler. „Darum laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts“ (Röm 13,11f) – Waffen des Lichts, die wie Speere ins Dunkel der Zeit eindringe, um es zu erhellen. Die Menschen und ihre Zeit im Horizont des näherkommenden Heils entdecken, bildet die Voraussetzung einer Predigt vom neuen Menschen und aller Predigtkunst überhaupt: Anläßlich einer Feier im Blick auf zwanzig schöne Predigtbände, die bei der Emeritierung von Tsuneaki Kato vorliegen, sagte ein Pfarrer: „Er wollte immer in unserer Situation ganz neu die Stimme Gottes hören. Deshalb sind seine Predigten nie langweilig. Nicht nur beim Hören, auch beim Lesen werden Herzen bewegt.“ Da hat einer offenbar Predigtgeschichte gemacht.
Am Verhältnis zu Wort und Zeit, Text und Situation entscheidet sich der apologetische oder profetische Charakter einer Predigt – und der wird bestimmt durch die jeweilige Priorität und Reihenfolge:
Apologetische Prediger haben wohl begriffen, daß es kein Wort gibt ohne Zeit, daß kein Text spricht ohne Situation. Haben Zeit und Situation Vorrang, bestimmen nur allzu leicht die Umstände, was dran ist. Die Predigt wird sozusagen abhängig vom Wetter, aber vermag kaum mehr, gut Wetter zu machen. Sie mißrät zur Anmerkung und hat wenig Kraft, eine Zeit zu bestimmen und zu prägen. So verfällt sie der Häresie der Harmlosigkeit und die ist allemal bequem.
Profetische Predigt aber ist unterwegs zum Wort, das von Gott her in die jeweilige Situation hinein „geschieht“. Sie nimmt Wort und Zeit, Text und Situation ins Gebet. Sie verfügt nicht über die Waffen des Lichts. Sie muß erst nach ihnen greifen, sie anziehen. Die Bewaffnung mit dem Licht, das die Dunkelheit der Welt erhellt, setzt eine völlige Entrüstung voraus – und das Licht ist nicht eine leichte, sondern eine schwere Waffe. Das Wort wird zur Last[2]. Unterwegs zur Profetie wird die Textwahl wichtig.
Textwahl: Ein abgründiges Wort. „Nicht ich entscheide“, so beginnt ein Gedicht der Ana Blandiana, das sie mit „Der Vater“ überschreibt und das, wenn ich es recht verstehe, ihre Poetik in nuce enthält:
„Nicht ich entscheide.
Die Atome werden zu Sand,
aus dem Sand bilden sich Steinchen,
die Steinchen verwandeln sich in Buchstaben,
die Buchstaben keimen, bekommen Knospen,
Worte sind die Ernte,
die Worte werden zu Tieren, umarmen sich
und gebären.“
In den Verwandlungen der Atome, des Sandes, der Steine, Steinchen und Buchstaben keimt immer Neues, beginnen neue Verwandlungen, die Sprache werden. In den Metaphern „Ernte“ und „Tiere umarmen sich und gebären“ kommt der schöpferische Prozeß der Dichtung zur Sprache. Der Schluß des Gedichts nimmt die erste Zeile noch einmal auf, die m.E. die Textwahl beleuchtet:
„Nicht ich entscheide.
Niemals,
wenn ich ein schwangeres Wort sehe,
weiß ich, wer der Vater ist“[3]
Natürlich entscheidet die Blandiana mit ihrem Kunstverstand über das Gebären der Tiere, und doch, in der Perspektive des Vaters gilt – auch für die Textwahl –: „Nicht ich entscheide“. Aber die Schwangerschaft eines Wortes „sehen“, das macht’s und es ist paradoxerweise die Zeit, die ein Wort schwängert. Das scheint zuerst für uns Brillenmenschen unmöglich; vielleicht gehen wir Stunden und Tage mit dem Wort der Schrift um und in keinem Wort begegnen wir einem gesegneten Leib. Da tröstet die Blandiana: „Der Vater … nicht ich entscheide“. Das Unser-Vater öffnet die Tür zu den Verwandlungen der Welt und die Gewißheit, daß die Bitte um das Geschehen des Gotteswillens erhört wird, befreit zur Textwahl. In ihr geschieht schon ‚Orthotomie‘. Indem die Zeit wie das Wort im Horizont des Vaters gesehen werden, schwängert die Zeit das Wort. In den zwei Worten „nicht ich“ beginnt schon die nova creatio des Predigers. Der Vater aber, setzt seine predigenden Söhne und Töchter frei. In den Nöten allen Anfangs bin ich oder werde ich alt; aber der Vater ist neu und sein Wille hilft zur Neuheit.
Wenn Wolfgang Trillhaas seinerzeit den Rat gab, sich überhaupt möglichst wenig mit der ‚Wahl‘ von Texten zu beschäftigen[4], dann wird die Predigt allzu leicht zeitlos – doketisch. Ich meine, daß alle Vorwürfe, die seit 1968 gegen die Predigt der Barthschüler erhoben wurden, sich dem fatalen Rat von Trillhaas verdanken. Fatal nenne ich diesen Rat, weil er dem Wort die Zeit nimmt und vom Eifer um die Prophetie dispensiert. Man ignoriert dann sowohl was Calvin mit der accomodatio Dei gelehrt, als auch was Barth mit seiner Rede von der Menschlichkeit Gottes meinte und in seinen Gefängnispredigten praktizierte. Wenn er in seiner Homiletik den Rat gibt, die Zeitung neben die Bibel zu legen, wird auch klar, welche Texte jetzt zu Worte kommen sollen. „Wenn ich ein schwangeres Wort sehe, / weiß ich, wer der Vater ist.“
Also: Welche Stunde für welches Wort schlägt jetzt? Was ist jetzt an der Zeit? Zwei Zitate zur Zeit: Theo de Boer schreibt in einem Kommentar zu Emanuel Levinas: „Der Mensch als sich selbst gegenwärtiges, sich frei mit sich selbst identifizierendes Subjekt ist tot“[5].
Ein Zeitdiagnostiker hat kürzlich gemeint, wir lebten so, „als wollten wir sagen, die Welt ist alles, womit wir auf Teufel komm raus experimentieren“[6], was ja nur möglich ist, wenn die Christenheit schläft und die Welt nur das Schnarchen der Kirche hört. Wenn wir heute fürchten müssen, daß aus unseren Experimenten eine Welt resultiere, in der die Hölle los sei, und wenn ein Philosoph den Tod des „sich frei mit sich selbst identifizierenden Subjekts“ anzeigt, dann wird es Zeit, daß die Prediger sich die Augen reiben und merken: aus unserem Predigen muß der neue Mensch herauskommen – das ist ein heilsgeschichtliches „Muß“. Der neue Mensch ist Gottes Wille für unser Reden am nächsten Sonntag.
Darum gilt es, das Lied vom neuen Menschen anzustimmen und damit die Partitur ungepredigter Bibel aufzuführen, in der die Gemeinde mitsingt und mitspielt und singend und spielend neu wird. Was gespielt wird, ist eine Art Antimärchen, ein Märchen, das Wirklichkeit wird, ein Märchen, nicht nach dem Motto „es war einmal“, sondern nach dem Motto „es wird einmal und du bist schon“. Der neue Mensch existiert märchenhaft neu. Das Märchen erzählt Wunderbares und nimmt’s natürlich. Das Wunderbare wirkt auch da erstaunlich, wo es als selbstverständlich genommen wird. In einer ähnlichen Dialektik befindet sich auch der neue Mensch. So wird es gut sein, wenn wir anfangen über uns selbst zu staunen: Wir sind nicht die, die wir einigermaßen zu kennen meinen, die wir erfahren haben. Wir sind anders und die Partitur ungepredigter Bibel nimmt uns mit ins Anderssein; aber das gerade gibt sich natürlich. Um das Antimärchen zu erzählen und unseren Part zu spielen, braucht es zwei Voraussetzungen: Einsicht in die Schöpfung und eine neue Weltanschauung.
Einsicht in die Schöpfung: Wir sind auf diese Partitur schlecht vorbereitet, weil die wissenschaftliche Anthropologie den Menschen entdramatisiert hat. Indem sie seinen Anfang in der ewigen Erwählung und zeitlichen Erschaffung wie seine Zukunft im Vollender verdrängt, hat die Wissenschaft den ersten und den letzten Akt des Menschseins gestrichen; aber diese beiden Akte, die Vor- und Nachgeschichte, entscheiden das Drama Mensch:
„Deine Augen sahen alle meine Tage
in deinem Buche standen sie alle;
sie wurden geschrieben, wurden gebildet,
als noch keiner von ihnen da war“
(Ps 139,16).
„Du leitest mich nach deinem Rat
und nimmst mich endlich mit Ehren an“
(Ps 73,24).
Auch wir Christen kultivieren in der Regel – halb bewußt, halb unbewußt – ein atheistisches Menschenbild, das Ursprung und Ziel des Menschen ignoriert und vom Bilde Gottes nichts weiß, was einen Mangel an Wahrnehmung zur Folge hat, der das Selbstbewußtsein der Menschen prägt – und Theologen sind auch Menschen! Darum gilt es für die Prediger, das an der Schöpfung und am Menschen wahrzunehmen, was die Wissenschaft noch nicht sieht.
Wie aber kommen wir zu einer neuen Wahrnehmung der Welt? Die Liebe entdeckt das Neue; sie macht nicht blind, wohl aber öffnet sie die Augen zu einem Blick, der Unsichtbares wahr nimmt. Während der Beobachter registriert, staunt der Liebende: Was er sah, geht mit ihm und läßt ihn anders urteilen, als der Gleichgültige urteilt. In einem der erstaunlichsten Texte der Schrift – 2 Kor 5,14-17 – sagt Paulus, daß uns die Liebe eines andern die Augen öffne; ich übersetze frei: „Die Liebe Christi regiert uns, so daß wir aus dem Tod des einen den Schluß ziehen, daß alle gestorben sind.“ Der Apostel zieht den gleichen Schluß wie der Philosoph, daß alle gestorben sind; nur hat die apostolische Begründung einen anderen Charakter als die philosophische. Der Philosoph zieht eine Folgerung, kommt zu einem Entscheid, zu einer Urteilsfindung aus der Zeitbeobachtung, oder aus seinem philosophischem System. Der Apostel aber urteilt nicht aus einem Kodex, sondern aus dem Herzen einer unergründlichen Liebe heraus: „krinantes touto“. In diesem Urteil werden Wille und Vorstellung eins. Alle sind gestorben, tot, aber nicht in Leichenstarre. In der Wiederholung des „für alle gestorben“ drängt sich Zukunft ein, die Todesstarre löst sich. Er starb für alle, „damit die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferweckt worden ist“. Als Folgerung ein homiletischer Kernsatz, der zu einem Lehrsatz für die gemeindliche Existenz aller Christen zu erweitern ist: „Somit kennen wir von jetzt an niemand nach dem Fleisch.“
Wo Christi Liebe regiert, gibt es keine Wahrnehmung der Welt, die vom Liebenden am Kreuz absieht. Die Passion muß nun mein Urteil steuern, meinen Willen ebenso wie meine Vorstellung – ein heilsgeschichtliches Muß auch hier! So wird der Mensch zusammen mit dem erst konkret, was Christus für ihn tat, und damit rückt der Blick der Liebe den Menschen ins Novum: „Ist somit jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf. Das alte ist vergangen, siehe, es ist neu geworden.“ Die Voraussetzung für die Predigt vom neuen Menschen ist der Blick für ihn.
Beachten wir: Als ein von der Liebe des Christus Gedrängter spricht der Apostel von der neuen Schöpfung. Wen die Liebe treibt, spricht die Sprache der Liebe und Liebende erfinden neue Namen. Ein Liebesbrief schreibt einen anderen Stil als ein Geschäftsbrief und vielleicht gleichen unsere Predigten allzu sehr korrekten Geschäftsbriefen als leidenschaftlichen Liebesbriefen. In Geschäftsbriefen kommt es zu keiner Schwangerschaft der Worte. Diese können es sich leisten, dürr zu bleiben. Auf der Kanzel aber genügen dürre Worte nicht. Darum mußte ein Walter Lüthi noch auf dem Gang zur Kanzel um Liebe zur Gemeinde bitten. Nur in der Liebe bekommen Buchstaben Knospen und so kommt es zur Niederkunft der Worte. Die Liebe nur verwandelt unsere vergänglichen Wörter in bleibendes Wort (vgl. 1Kor 13,8a), das Hand und Fuß hat, das Hand anlegt und weiterführt.
Die Rede vom neuen Menschen gehört vermutlich auch deshalb zur ungepredigten Bibel, weil das Hohelied stumm geworden ist. Die Exegeten haben’s auf den Mund geschlagen. Die Synagoge wie die Kirchenväter hatten sehr wohl gewußt, daß es sich hier um profane Liebeslyrik handle; die Sprache der schönsten menschlichen Gefühle war ihnen gerade gut genug, um das Märchenland von dem, was einmal wird und schon ist, zu entdecken und zu besingen. So weist Friedrich Mildenberger mit Recht auf „das ‚Unwirkliche‘ oder auch ‚Utopische‘ solcher Lyrik“ hin als Voraussetzung für die Analogiefähigkeit der Beziehung von Mann und Frau[7] und ich meine: Das Hohelied Salomos ist das Lied vom neuen Menschen: Es wartet auf Prediger und Predigerinnen. – Ich möchte nun versuchen, das Neue in einigen Aspekten zu verdeutlichen, in der Hoffnung, daß Sie da und dort ein schwangeres Wort entdecken, das zur Welt kommen will.
II. Sieben Aspekte des neuen Menschen
Diese stehen notwendigerweise unter dem Vorzeichen des Gesetzes, denn es geht ums Predigt-Machen. Da wird jeder Aspekt zunächst zur Angst, zur Frage, wie kann ich? Aber bange machen gilt nicht! Darum ist es besser, unter jedem der genannten Aspekte zunächst einmal zu fragen: Was brauche ich jetzt? Und in dem, was ich wirklich brauche, erfüllt sich Gottes liebender Wille. So wird, was zunächst angst und bange macht, ins Staunen führen und damit Freude und Freiheit bringen. – Wem meine Ausführungen einleuchten, dem schlage ich vor, eine Reihe über die hier angerissenen Themen zu halten, die am besten mit Kollegen zu erarbeiten ist. Dann werden sich auch noch neue Texte zu Wort melden. Je intensiver Sie sich den einschlägigen Texten aussetzen, um so mehr werden Sie an sich selber Erneuerung erfahren.
1. Nicht alltäglich Brot für jeden Tag: Ein norwegisches Märchen erzählt von einer Königstochter, die von ihrer Stiefmutter böse behandelt und miserabel ernährt wird. Das Mädchen magert ab und muß die Kühe hüten, bis ihr der blaue Stier erklärt, in seinem linken Ohr befinde sich ein Tüchlein. Wenn sie das herausnehme und ausbreite, bekomme sie zu essen und zu trinken soviel sie wolle. So kam Kari „schnell wieder zu Kräften und wurde so voll und rot und weiß, daß die Königin und ihre zaundürre Tochter vor Neid grün und gelb wurden.“ Der neue Mensch braucht Nahrung, und die geht durch’s Ohr.
Wenn der alte Blumhardt von der „Magerheit der christlichen Kirche“ sprach, dann gilt’s, die Szene mit dem Tüchlein im Ohr am nächsten Sonntag zu wiederholen! Ich bemühe hier ein Märchen, weil wir den Realismus des Neuen Testaments in dieser Sache ausgebleicht und abgeschabt haben: Wenn sich der Apostel mit einer stillenden Amme oder Mutter vergleicht, die ihren Kindern die Brust gibt (1Thess 2,7), erscheint dieser Vorgang kaum weniger märchenhaft als die Story mit dem blauen Stier. Die Amme oder Mutter gibt dem Kind etwas von sich, ihre Milch, und der Apostel erläutert im Folgevers in einem parallelismus membrorum: „so waren wir voll herzlicher Zuneigung zu euch willig, euch nicht allein am Evangelium Gottes teilhaben zu lassen, sondern auch an unseren eigenen Seelen, weil ihr uns lieb geworden wart“ (2,8). Zur Mitteilung des Evangeliums gehört die der Seele. Darum sei der Prediger eine Seele von Mensch! Eine seelenlose Predigt wäre ja – seelenlos und eben tot!
Den neuen Menschen predigen kann man nur in Proexistenz, in der Hingabe, einer Hingabe, die im Märchen beredten Ausdruck findet, wenn der Stier nach gelungener Flucht und drei Kämpfen mit Ungeheuern der geretteten Prinzessin ein kleines Messer überreicht, um ihm damit dem Kopf abzuhauen und das Fell abzuziehen; „das sei der einzige Dank, den er wolle“. Das Märchen spricht hier die gleiche Sprache wie der Apostel. Vielleicht gehört der neue Mensch darum in die ungepredigte Bibel, weil dessen Predigt ein Ganzopfer verlangt. Calvin bemerkt zu 1Thess 2,7, „daß diejenigen, die unter die wahren Seelsorger gerechnet werden wollen, diese Gesinnung des Paulus an den Tag legen müssen: daß ihnen das Heil ihrer Gemeinde wichtiger ist als ihr eigenes Leben“. Nur der kann Leben ernähren, der sein Leben gibt.
2. Babynahrung und Vollwertkost: Im Unterschied zum Tischlein-deck-dich im Märchen wird der Prediger Speisemeister: Die Frage nach Gottes Willen im Predigen, nach dem rechten Wort zur rechten Zeit, nach der Orthotomie, schließt in sich die Unterscheidungsgabe, ein Urteil über den Geist der Gemeinde, das über den Speiseplan entscheidet. Paulus hat sich vor solchem Urteil nicht gescheut, wenn er den Korinthern schreibt, er hätte mit ihnen nicht reden können „als mit Geistbegabten, sondern als mit Fleischlichen, als mit Unmündigen in Christus“. Dann unterscheidet er zwischen „Milch und fester Speise“ (1Kor 4,1-3; vgl. auch Hebr 5,11-14).
Das Niemand-nach-dem-Fleisch-Kennen ist nicht mit Blindheit zu verwechseln, setzt vielmehr den Blick für die geistliche Wirklichkeit der Gemeinde voraus. Man beachte: Der Gegensatz zu fester Speise ist nicht Wassersuppe, sondern „Milch“, ein Grundnahrungsmittel. Sie enthält alle Nährstoffe zur Ernährung und zum Wachstum. Bei Milch und fester Speise geht es beide Male um Vollnahrungsmittel.
Nach meiner Einsicht in die Predigt der Gegenwart vermag sie der Gemeinde nicht die nötigen Kalorien zu vermitteln. Nicht der Nährgehalt, nur die Darreichungsform, der Service ändert sich, muß sich nach dem Zustand der Gemeinde ändern: „Der kluge Prediger wird seine Rede dem Fassungsvermögen seiner Hörer anpassen. Bei Unwissenden wird er mit den Anfangsgründen beginnen und nur langsam Vorwärtsgehen. Aber diese Anfangsgründe enthalten das Wichtigste ebenso wie die umfassende Lehre für die, welche etwas kräftiger sind“ (Calvin). Die Rede vom Fassungsvermögen anpassen setzt eine Prüfung des Geistes in der Gemeinde voraus, eben die Unterscheidungsgabe. Da braucht es viel Gespräch mit Brüdern und Schwestern: „Lehre mich rechtes Urteil und Verständnis“ (Ps 119,66).
Die Bitte wird nötig, weil der Prediger, der sich vor die Aufgabe der Geistunterscheidung gestellt sieht, in mancherlei Versuchung gerät: Wer zu urteilen hat, läuft Gefahr, sich selbst zu vergessen und damit zu überheben; dann wird er das Fassungsvermögen der Hörer unterschätzen oder aus dem Fassungsvermögen der Hörer ein Dogma machen, wonach z.B. das Wort vom Kreuz den heutigen Hörern nicht mehr zumutbar wäre. Wird dem Prediger die Gegenwart der Gemeinde, seine Erfahrung ihrer vermeintlichen Wirklichkeit, zum Gesetz; dann sieht er ihre Möglichkeit nicht mehr, verdrängt ihre Zukunft in der Zukunft Christi.
Unsere Tradition hat uns den klinischen Blick für die Gemeinde getrübt, indem wir ihr Ganzes nicht sehen und den einzelnen isolieren. Seit der Entstehung des Mönchtums und erst recht seit dem Pietismus gibt es eine Unterscheidung, welche die Gemeinde in eine Zweiklassengesellschaft spaltet. Die Mönche als die Religiösen, die Vollkommenen, unterscheiden sich vom Volk, während etwa eine Predigt Hofackers die versammelte Gemeinde aufteilte zwischen Wiedergeborenen und Nicht-Wiedergeborenen.
Die Predigt des Pietismus sagt zu früh Amen: Bekehrung und Wiedergeburt sind in diesem Betracht nicht Endstationen, sondern Anfänge. Wohl ist die Wiedergeburt ein individuelles Geschehen, aber die Gemeinde ist als ein Ganzes mündig oder unmündig, geistlich oder fleischlich. Und das heißt ja auch: Der neue Mensch ist ein Mensch im Großen und Ganzen, ein Mensch im Kommunikationsprozeß der Gemeinde. Ich komme im letzten Aspekt auf diesen Sachverhalt zurück.
3. Haß der Welt: Kari Holzrock wird von ihrer Stiefmutter gehaßt. Vielleicht gehört die Predigt vom neuen Menschen deshalb zur ungepredigten Bibel, weil wir selber mit dem neuen Menschen stiefmütterlich umgehen, indem wir das gute Alte mehr mögen als das unbekannte Neue und weil da, wo Neues vom neuen Menschen erscheint, Haß ausbricht: „Ihr werdet von jedermann gehaßt sein“ (Mt 24,9; Lk 21,17). „Aber alles werden sie euch antun um meines Namens willen“ (Joh 15,21). Das muß nicht, kann aber der Normalfall sein. „Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles arge wider euch reden um meinetwillen und damit lügen“ (Mt 5,11).
Das Erscheinungsbild des neuen Menschen entspricht in keiner Weise dem Politiker, der ein Bad in der Menge nimmt. Es gleicht eher dem Juden mit dem Davidsstern im Dritten Reich oder der zur Prostitution gezwungenen Koreanerin. Der neue Mensch ist schon als Säugling auf der Flucht (Mt 2,13-15), und anstelle dessen, der für alle stirbt, müssen in Bethlehem Kinder sterben (2,16-18). Sein Apostel muß ausfüllen, was am Leiden Christi noch fehlt (Kol 1,24) und den Märtyrern unter dem Altar wird bedeutet, sie hätten zu warten, „bis die volle Zahl erreicht sei durch den Tod ihrer Mitknechte und Brüder, die noch sterben müßten wie sie“ (Off 6,11).
In einer Zeit, da die Physik selbstmörderisch geworden ist und wir mit der Welt auf Teufel komm raus experimentieren, wird es nötig, auf die Zukunft des Martyriums hinzuweisen. Wenn Ignatius von Antiochien nach Rom reist, um dort den Märtyrertod zu erleiden, schreibt er: „Jetzt fange ich an, ein Jünger zu sein“ (Röm 5,3). Im Union Seminary Tokyo wurde ich gefragt: „Was sagen Sie den Studenten im Blick auf das neue Jahrtausend?“ Ich war nicht geistesgegenwärtig genug, sonst hätte ich gesagt: „Bereiten Sie sich auf das Martyrium vor und fangen Sie an, ein Jünger zu sein!“
4. Selbsthaß: An zwei Stellen der Evangelien spricht Jesus ausdrücklich Vom Hassen der eigenen Seele als Voraussetzung zur Jüngerschaft bzw. zum ewigen Leben: „Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht … zusätzlich seine eigene Seele, der kann nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,26). „Wer seine Seele liebt, verliert sie, und wer seine Seele in dieser Welt haßt, wird sie ins ewige Leben bewahren“ (Joh 12,25). Jesus bringt mit diesen Worten eine Umwertung unserer gängigen psychologischen Werte. Das kann ich kaum an einem Märchen verdeutlichen.
Wir erleben heute einen globalen Selbsthaß der Menschheit, denn würde diese sich nicht selbst hassen, könnte sie mit dem Planeten Erde nicht so zerstörerisch umgehen, wie sie das tut. Wenn Jesus vom Selbsthaß spricht, wird er wohl nicht einen selbstzerstörerischen, sondern einen kreativen Selbsthaß meinen, eine Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber im Interesse dessen, der in die Jüngerschaft ruft und ewiges Leben bringt – ein Haß nicht zum Tod, sondern zum Leben. Gerade der Mensch, der mit sich im Reinen ist und an sich selbst kaum leidet, der natürlicherweise seine Seele liebt, wird zu einem Haß aufgerufen, der sich verneint um beserer Möglichkeit willen. Jesus meint offenbar einen Selbsthaß um besserer Gegenwart und Zukunft willen.
Wie aber steht es mit dem Neurotiker, der seine Seele krankhafterweise selbst haßt, dem der Selbsthaß zerstörerisch zur Sünde wird? Auch er lernt im Prozeß des Neuwerdens sich selbst zu hassen, insofern und solange er sich noch unter der Herrschaft der Sünde erfährt, „…denn nicht was ich will, das führe ich aus, sondern was ich hasse, das tue ich… Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das führe ich aus“ (Röm 7,15.19). Der neue Mensch wächst im Unfrieden mit dem alten und wird zum Aufständischen wider die Macht der Sünde. Sein Wille erhebt sich gegen den Widerspruch, in dem er lebt. Im Aufstand gibt es Schädigungen; Jakob wird hinken und David weiß: „Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerbrochener Geist, ein zerschlagenes Herz wirst du, o Gott, nicht verachten“ (Ps 51,19). Ein zerbrochener Geist kann sich selbst nicht wieder ganz machen und ein zerschlagenes Herz bleibt irreparabel – auf den angewiesen, der sein Auge auf den Miserablen richtet und eben bei denen wohnt, deren Inneres als unheilbar erlitten wird, die zerbrochenen Herzens sind und ein zerschlagenes Gemüt haben (Ps 34,19; Jes 57,15; 61,1).
Die Leichenwäscher des „sich selbst gegenwärtigen, sich frei mit sich selbst identifizierenden Subjekts“ freilich reden uns ein, gesund sei der Mensch in seiner Genuß- und Leistungsfähigkeit, und Dostojewkijs „Großinquisitor“ läßt Christus verbrennen, weil die Kirche das Wohlsein der Menschen will, während Christus die Qual einer letzten Freiheit bringt[8]. Der Großinquisitior möchte auch heute die Menschen glücklich machen und Jesu Wunder verbessern, indem er versucht, zerbrochene Herzen und zerschlagene Gemüter in eigener Regie zu heilen. Anstelle der Nachfolge empfiehlt er dem Menschen, ein Jünger seiner selbst zu werden; dann aber muß Jesu Wort vom Selbsthaß in der Kirche stumm bleiben: Psychologismus ersetzt das Pneuma und etabliert eine neue Religiosität des alten Adam. So gleicht die Christenheit nur allzu sehr dem Menschen als einem sich selbst gegenwärtigen, sich frei mit sich selbst identifizierendem Subjekt, das – nach philosophischer Erkenntnis – „tot ist“.
5. Noch unentdeckt aufs Unsichtbare aus: Nach geglückter Flucht mit dem Stier muß Kari in einem Schweinestall den Holzrock anziehen; dann steht sie am Spültisch und wenn sie dem Prinzen Waschwasser, Handtuch oder einen Kamm bringen will, wird sie gedemütigt. Kari weiß, wer sie ist. Der neue Mensch weiß es noch nicht. Man muß es ihm sagen, ihm seine Neuheit und seinen königlichen Rang entdecken. Darum hat gerade er die Predigt des Evangeliums nötig, die ihn seiner königlichen Würde versichert, einer Würde, die mit Jesus aus dem Grab gekommen ist.
Wo die Schrift ausdrücklich von der Verborgenheit des Christen redet (Kol 3,1-4), redet sie von dem, was schon ist und von dem, was einmal werden soll: „Ihr seid mit Christus auferweckt worden.“ Ihr seid nicht mehr bei euch selbst, ihr seid hineingerissen ins Auferstehen; jetzt gilt es, das Märchenhafte zu realisieren, denn „hier ist noch nicht ganz kundgemacht, was er aus seinem Grab gebracht“[9], noch sind unsere Leiber irdisch, dem Tod unterworfen, noch existieren wir als Neue fragmentarisch. Unterwegs zur Ganzheit geht es nicht zum selbst, sondern zum ganz andern, nicht in die Tiefe, sondern in die Höhe: „Suchet, was droben ist, wo Christus ist, der zur Rechten Gottes sitzt“ (Kol 3,1). Dort gibt es erst wahre Selbstfindung.
In Cant 3,1 aber wird anschaulich, was „suchen“ heißt – die LXX hat das gleiche Wort –:
„Auf meinem Lager nächtlicher Weihe
suchte ich ihn, den meine Seele liebt,
ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht.“
Das Lager – ein Ort der Sehnsucht, und die Nacht – eine Zeit der Träume:
„O daß er mich tränkte mit den Küssen seines Mundes“ (1,1).
Der neue Mensch aber wird dichterisch wohnen, insofern er im Lob wohnt; das Lob aber schließt immer Verwerfungen in sich. So wird der Dichter zum Paradigma des neuen Menschen und die Verse von Tamura Ryuichi verdichten das Verwerfen und Bejahen im Lob:
„Damit ein Gedicht entsteht,
müssen wir toten
müssen wir vieles töten
vieles, was uns lieb ist, erschießen, ermorden, vergiften.
Schau,
nur weil wir aus dem Himmel von viertausend Tagen und Nächten
die bebende Zunge eines einzigen Vogels wollten,
erschossen wir
die Liebe von viertausend Tagen und das Mitleid von viertausend Nächten.“[10]
Die zwei folgenden Strophen sind analog gebaut: „Hör, / nur weil wir … die Tränen eines einzigen hungernden Kindes wollten … // „Erinnre dich, / nur weil wir die Angst eines einzigen herrenlosen Hundes wollten …“. Dreimal ist das Winzige, das Unscheinbare Gegenstand dichterischen Wollens – des Lobs also dem dreimal das Maßlose des Opferns in der Dauer von viertausend Tagen und Nächten gegenübersteht: „Schweigen“ und „Gegenlicht“; „Liebe“ und „Mitleid“; „Einbildungskraft“ und „Erinnerung“ und was etwa zum Selbst und seinem Umkreis gehört.
„Um ein Gedicht zu erzeugen,
müssen wir das Geliebte toten
dies ist der einzige Weg, die Toten zu erwecken,
diesen Weg müssen wir gehen“.
Der Weg Jesu, den „viel Volks“ begleitet, zu dem er sich umwendet: „Wenn jemand zu mir kommt und habt nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu seine eigene Psyche, kann er nicht mein Jünger sein.“ – „Diesen Weg müssen wir gehen.“
„Um ein Gedicht zu erzeugen
müssen wir das Geliebte töten
dies ist der einzige Weg, die Toten zu erwecken…“
Wie aber sagt Tertullian? „Der Glaube der Christen ist die Auferstehung der Toten.“ „Diesen Weg müssen wir gehen.“
Das Schönste, was Menschen auf Erden erleben, gibt den Geschmack von den Wonnen des Himmels, die uns von unseren Bindungen lösen: „Suchet das Obere, den zur Rechten Gottes Erhöhten.“ Und der Apostel doppelt gleich nach: „Seid auf das Himmlische, nicht auf das Irdische bedacht.“ Der Apostel weist die Richtung. Der neue Mensch braucht keine Publicity. Er lebt in der Öffentlichkeit des Himmels, weder telegen noch photogen: „Denn ihr seid gestorben und euer Leben ist mit Christus in Gott verborgen.“ Aber bei der Verborgenheit soll es nicht bleiben, darum bleibt die Gemeinde nicht unsichtbar, sondern versammelt sich je und je, um mit Vollwertkost ernährt zu werden, bis sie endgültig aus der Verborgenheit heraustritt: „Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit.“ Und schon beginnt das Märchenhafte.
6. Kleiderwechsel: Kari steht im Holzrock am Spültisch; aber am Sonntag tut sich eine Felswand auf, da bekommt sie ein Kleid aus Bronce, dann aus Silber und schließlich aus Gold. So reitet sie zur Kirche und erregt dort ein solches Aufsehen, daß ihreswegen kein Mensch mehr auf die Predigt acht gibt. Der Prinz, der sie übel behandelte, als sie ihm im Holzrock dienen wollte, verliebt sich in sie, so daß es kommt, wie es im Märchen eben kommen muß – zu einer Märchenhochzeit: Im Glauben und durch den Glauben kommt der Mensch zu seiner Bestimmung, zu seinem neuen Status. Da tönt’s wie im Märchen. Die Verachtete wird zur Geehrten. So heißt es im Lied der Lieder:
„Alles ist schön an dir, meine Freundin,
an dir ist kein Fehl“
(Cant 4,7).
So heißt es in der Prosa des Gleichnisses:
„Bringt schnell das beste Kleid hervor und tut es ihm an“
(Lk 15,22).
Für die neue Menschheit gilt: „Und ich habe die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, ihnen gegeben“ (Joh 17,22a). Was das hohepriesterliche Gebet ausspricht, sagt auch der Apostel: „Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus“ (Gal 3,26). Und dies völlig Unsinnliche wird in der Taufe wie im Gleichnis sinnenfällig: „Denn alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen“ (3,27). Das wird erzählt als ein Satz der Erinnerung, die durch die Kindertaufe verschüttet wurde.
Hans Dieter Betz meint, die Rede vom Anziehen beziehe sich auf die Tradition: „Auf jeden Fall kann angenommen werden, daß den Täuflingen an einer bestimmten Stelle der Taufzeremonie gesagt wurde, sie hätten nunmehr den Status von Söhnen Gottes“[11]. Wir Christen haben heute weithin unser Standesbewußtsein verloren. Umso nötiger wird eine Predigt, die das Ich des neuen Menschen stärkt: Nicht aus Bronce-, Silber- oder Goldfäden ist das Kleid, das wir in den Augen Gottes tragen. Der Sohn hat es gewoben, als er das Kreuz trug, als ihm die Knechte halfen beim Weben, da sie ihm die Kleider vom Leib rissen und zum Narrenkönig machten, indem sie ihm Dornen auf die Stirn drückten, ihn anspuckten und mit dem Stock auf den Kopf schlugen. Das Kleid, das uns einhüllt, ist aus seinem Schrei gewoben, sein Drama hüllt unseren Leib ein: „Eli, Eli, lema sabachtani?“
Das Kleid, das wir tragen, bestimmt unser Feeling. Der Mann mit Stehkragen, Schlips und schwarzem Anzug fühlt sich anders als der Mann im Kimono. Und nun hat die Predigt die Aufgabe, den Getauften ins Christuskleid zu helfen, um ihm ein neues Lebensgefühl zu vermitteln. Da wird der Prediger zum Kammerdiener, der dem Menschen ins königliche Kleid hilft. Wenn ich ein neues Kleid anziehe, habe ich das alte mit der ihm eigenen Zeit ausgezogen und kann es weglegen, vergessen. So bringt der Kleiderwechsel eine Vergeblichkeit als Befreiung von dem, was mir von der Vergangenheit anhing. Der Wille ist nun dem Futurum zugewandt, das die Gegenwart bestimmt: „…ich vergesse, was hinter mir ist“ (Phil 3,1.3). Mit dem, was war, kann und soll der neue Mensch großzügig umgehen. Damit hat er grundsätzlich nichts mehr zu tun. Die Sträflingskleider gehören nicht mehr zur Garderobe. „So sollt auch ihr euch als solche ansehen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus“ (Röm 6,11). Das ist eine Selbstfindung in der Freiheit.
7. Das neue Sein im Plural: Getauft wird jeder und jede allein, je einzeln. Aber das Taufwasser schwemmt alle rassischen, sozialen und sexuellen Kennzeichen weg: „denn ihr seid alle ‚einer‘ in Christus“. Bei Lichte besehen ist die Taufe ein revolutionärer Akt. Die „égalité“, von der die Französische Revolution sprach, wird hergestellt. Aus dem Ich wird ein Wir: „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen…“ (1Kor 12,13). Ernst Käsemann meint zurecht: „Das ist nicht mehr metaphorische Redeweise“[12]. Das heißt doch: aus uns heraus und in Christus hineingenommen. Das Ich wird in die Andersheit eingetaucht. Es ist nicht mehr da, wo es war. Es wurde aus seiner Einzahl zu einer Mehrzahl und in dieser Mehrzahl wird der himmlische Christus diesseitig: „…und alle wurden mit dem einen Geist getränkt (epotísthemen)“ (12,13). Schlatter wollte epotísthemen aufs Abendmahl beziehen, Kümmel auf die Taufe. Das Verb wird auch für ‚begießen, bewässern‘ gebraucht. Vielleicht klingt das ‚Ackerfeld‘ von 3,9 nach: „und alle wurden mit dem einen Geist getränkt“. Das wird noch einmal erzählt in einem Satz der Erinnerung. Für die Korinther fiel die Taufe mit dem Geistempfang zusammen.
Der Kleiderwechsel verhilft zur Tracht, die ihre Träger und Trägerinnen zu einem Wir macht: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus als Gewand angelegt“ (Gal 3,27). Die neue Tracht bringt eine neue égalité, „denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus“ (28). Abgeschafft sind die Schranken zwischen den Menschen, zwischen Juden und Griechen, abgeschafft ist die Sklaverei, propagiert wird „die Beseitigung der geschlechtsbedingten Ungleichheit“ (Betz). Die Beseitigung der Ungleichheit muß immer neu proklamiert, die Einheit immer neu eröffnet und erkämpft werden. So wird dann auch das Abendmahl auf die Einheit und Neuheit hin gefeiert, die in Korinth wie anderswo gefährdet ist. Unterwegs zur Vollkommenheit werde ich zusammen mit den andern ernährt: „Darum sind wir viele ein Leib, denn wir alle haben teil an dem einen Brot“ (1Kor 10,17). Auch das Abendmahl dient der Einheit und damit dem Novum.
„Der Schöpfer und Herr der Gemeinde ist Jesus durch seinen Tod, und da er seinen Tod in der Gemeinde durch seinen Geist wirksam macht, macht sein Mahl aus der Gemeinde den einen Leib“ (Schlatter). Aber eben das muß passieren. Das geschieht nicht automatisch. Dazu bedarf es der Epiklese des Geistes und der Paränese der Gemeinde, aber nicht nur der Epiklese und der Paränese, sondern des Kommens des Geistes selbst, denn nur im Geist und durch den Geist wird der einzelne inkorporiert in ein Ganzes. Nur so „bringt ihm das Mahl das Ende seiner Vereinzelung, die Absage an sein selbstisches Begehren, die völlige Übergabe seines Willens an den Willen des Christus, die Einordnung seines Handelns in das Leben der mit ihm Verbundenen. Es entsteht die christliche Bruderschaft“[13] – und das ist die Bruderschaft des neuen Menschen. Aber die kommt nicht von allein.
Muß uns da nicht angst und bange werden im Blick auf unsere Sakramentsverwaltung? Die Sakramente markieren Fortschritt zur Vollkommenheit hin, und wir begnügen uns mit unserer Liturgie und die Neutöner machen die Sache auch nicht besser. Für Calvin aber wird das Brot, aus vielen Körnern zusammengemahlen, zur Paränese, „daß man eines vom andern nicht trennen kann“. So sollen auch wir untereinander durch unaufhörliche Freundschaft vereint sein. Und mehr noch: Wir empfangen hier alle denselben Leib, damit wir dessen Glieder seien“ (Kleiner Abendmahlstraktat, 1541 – Studienausgabe I,2, 461). Das Medium, in dem sich ein einzelnes totes Subjekt zu einer lebendigen Mehrzahl erweitert, ist die Freundschaft, das gemeinsame Essen. Da wird der Freund zum alter ego, zum anderen Ich; aus dem Ich wird ein Wir. Darum müssen die Seelsorge an die Sakramente und die Sakramente an die Seelsorge angebunden werden.
Das haben die Gemeinden heute nötig, die Freundschaft der Diener am Wort untereinander und die Pfarrer und Pfarrerinnen haben das erst recht nötig, den Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit einer zerrissenen Kirche, denn die Kraft der Verkündiger wächst aus der Freundschaft der Verkündiger[14].
So wie wir in der Anthropologie den Menschen entdramatisiert haben, so haben wir die Ekklesiologie praktisch verengt. Darum gebe ich zum Schluß noch einer orthodoxen Stimme das Wort, die uns anleitet – im Sinne von Hebr 12,22 – die sonntägliche Versammlung über das Sichtbare hinaus wahrzunehmen. Georgij Florovskij schreibt: „In der Eucharistie enthüllt sich, unsichtbar, aber wirklich, die Fülle der Kirche. Jede Liturgie wird in Verbindung mit der ganzen Kirche vollzogen und gleichsam in ihrem Namen, nicht nur im Namen des vor (dem Altar) stehenden Volkes (…) Denn jede ‚kleine Kirche‘ ist nicht nur ein Teil, sondern das konzentrierte Bild der ganzen Kirche, untrennbar von ihrer Einheit und Fülle. Und deswegen ist. in jeder Liturgie mystisch, aber real, die ganze Kirche mit gegenwärtig und nimmt mit an ihr teil. Die Liturgiefeier ist gewissermaßen eine sich erneuernde Inkarnation Gottes“ – ich bin dankbar für das „gewissermaßen“, denn die Rede von einer perennierenden Inkarnation widerspricht dem „als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn“. Mit ihrer Sicht der Liturgie verhilft die Orthodoxie auch uns zu einem vertieften Verständnis des Gottesdienstes im Horizont des Hebräerbriefes. Sie öffnet uns die Augen für eine oft verkannte Wirklichkeit der Gemeinde. In der Liturgie wird für den Orthodoxen das Heilsgeschehen sichtbar. Ja, noch mehr: „Und in ihr schauen wir den Gottmenschen als Gründer und Haupt der Kirche – und mit ihm die ganze Kirche. Im eucharistischen Gebet schaut und erkennt die Kirche sich selbst als der eine und ganze Leib Christi“[15]. Diese Sicht der Orthodoxie gehört zur neuen Weltanschauung.
Wollen wir nicht blinde Blindenleiter sein, werden wir vor die Aufgabe gestellt, in der Sehschule heiliger Schrift das Sehen zu lernen, damit der Wille unseres Vaters im Himmel in der nächsten Predigt geschehe.
„Nicht ich entscheide.
Niemals,
wenn ich ein schwangeres Wort sehe,
weiß ich, wer der Vater ist.“
Vortrag gehalten in Nagoya am 5. Dezember 1996, in Tokyo am 9. Dezember 1996 sowie am 13. Januar 1997 in Prackenfels.
[1] Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970, 182ff; 337ff.
[2] Vgl. Rudolf Bohren, Prophetie und Seelsorge. Eduard Thurneysen, Neukirchen-Vluyn 1982, 168ff und 183ff.
[3] Ana Blandiana, EngelErnte, 1994, 11.
[4] Vgl. R. Bohren, Predigtlehre, München 61993, 116.
[5] Emanuel Levinas, Humanismus des anderen Menschen, 1989, 119.
[6] Peter Sloterdijk, Selbstversuch, o.J. Umschlag, vgl. S. 14: „Die Welt ist alles, womit wir bis zum Zerbrechen experimentieren“.
[7] Biblische Dogmatik 3, Stuttgart 1993, 249.
[8] Vgl. R. Bohren, Prophetie und Seelsorge, 1982, 102ff.
[9] EG 111,8 (Erschienen ist der herrlich Tag).
[10] Viertausend Tage und Nächte. Yonsen no bi to y’oru, in: Mensch auf der Brücke. Zeitgenössische Lyrik aus Japan, hg. v. E. Klopfenstein u. C. Ouweland, Frakfurt a.M. 1989, 88.
[11] Der Galaterbrief, München 1988, 329.
[12] Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 181.
[13] A. Schlatter, Paulus der Bote, Stuttgart 21956, 297f.
[14] Vgl. R. Bohren, Einheit und Zerrissenheit der Kirche – Macht und Ohnmacht der Predigt, in: Basileia. Festschrift für Eduard Buess, hrsg. v. H. Dürr u. Ch. Ramstein, Basel 1993, 37ff.
[15] Evcharistija, 14; zit. nach K. Chr. Felmy, Die orthodoxe Theologie der Gegenwart, Darmstadt 1990, 150.
….mehr Freundschaft,Kameradschaftlichkeit und Miteinander Reden wäre not-wendig ,,,,