Martin Buber über das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose (1939): „Es ist bei solcher Wirklichkeit zu verstehen, dass sich manche vortreff­liche jüdische Männer allzu rückhaltlos an das Deutschtum hergaben.“

Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose (Januar 1939)

Von Martin Buber

Das stärkste Wesensmerkmal in der Geschichte der Galuth ist die vollkom­mene Labilität. Gewiß, in keiner Stunde in keines Volkes Geschichte gibt es eine völlige Sicherheit, das histo­rische Gegeneinanderstehen der Völker und Staaten schließt die Möglichkeit des Einsturzes in jedem Zeitpunkt ein; aber die Stabilität überwiegt, auf exponierte und steten Erschütterun­gen ausgesetzte Zeiten folgen solche des ruhigen Aufbaus, und was immer sonst in den schlimmen Tagen in Frage gestellt wird, der Zusammenhang des Großteils des Volkes mit seinem Boden bleibt unberührt. In unserer Galuth-Geschichte hingegen trägt jede fest und dauerhaft schei­nende Lage den Keim der Zerstörung und Zersetzung in sich. Es gibt keine noch so wichtige Funktion, die wir in der Wirtschaft und Kultur eines Volkes aus­üben, die sich nicht von einem Tag zum andern als entbehrlich, ja über­flüssig und lästig erwiese; jeder geschichtliche Bünd­nisvertrag, der unserer Überzeugung nach zwischen uns und einem „Wirtsvolke“ besteht, ist in Wahrheit, wie man sich von den Verträgen Friedrich des Großen erzählt, auf ein Papier geschrieben, das in unsichtbarer Schrift den Vermerk trägt: sic stantibus rebus, gültig nur solang alles ist wie es ist. Aber wir fallen im­mer wieder in die Illusion, diesmal sei es end­gültig, eine Illusion, die man freilich nicht einfach mit der verächtlichen Bezeichnung „Assi­milation“ abtun darf, denn neben äußerer Anpassung gibt es doch immer wieder die Erschei­nung einer echten, gewachsenen Verbundenheit mit Erde und Kul­tur, einer zwar in sich prob­lematischen, aber doch existenziellen, in die Tiefen unserer Existenz reichenden Synthese, deren Ende den Charakter der Zerreißung eines organischen Zusammenhangs hat. Der merk­würdigste und bedeutsamste Fall dieser Art war jene Entwicklung der deutschen Judenheit seit ihrer Emanzipation, die jetzt durch einen Eingriff des Wirts­volkes oder richtiger des Wirtsstaates ihren Abschluß gefunden hat, — ei­nen Eingriff, der sich freilich in der automa­tischen Gründlichkeit seiner Vernichtungstat, in seiner ausgerechneten Raserei seltsam genug in der Geschichte der abendländischen Menschheit im 20. christlichen Jahrhun­dert ausnimmt.

Ich sage: es war der merkwürdigste und bedeutsamste Fall. Denn die Symbiose von deut­schem und jüdischem Wesen, wie ich sie in den vier Jahrzehnten, die ich in Deutschland verbrachte, erlebt habe, war seit der spanischen Zeit die erste und einzige, die die höchste Bestätigung empfan­gen hat, welche die Geschichte zu erteilen hat, die Bestätigung durch die Fruchtbarkeit. Es gibt zwei Arten von Begegnungen zweier einander frem­den völkischen Elemente miteinander: entweder sind die beiden einander negativfremd, sie wirken nicht aufeinander, sie gehen keine Verbindung mit­einander ein, sie bleiben hart nebeneinander, bis das physisch schwächere untergeht; oder sie sind einander positiv-fremd, in all ihrer Fremd­heit sind sie in ihrem Wesen aufeinander angelegt, aufeinander gerichtet, aufeinan­der gewie­sen, gemeinsamer Bereich taucht auf, in dem fruchtbarer Kon­takt zwischen ihnen erfolgt, ein kulturelles Werk erwächst, das ohne diese Begegnung ungeschaffen geblieben wäre.

Die griechisch-jüdische Kultur hatte nur vereinzelte Gestalten und Werke hervorgebracht, und nur auf philosophischem Gebiet; die spanisch-jüdisch Kultur war reich und vielfältig, aber sie war ihrem Ursprung und ihrer ent­scheidenden Entwicklung nach eine arabisch-jüdische, also aus der Begeg­nung zweier nicht fremder, sondern verwandter Völker entstanden. Die kurze Produktivität der deutsch-jüdischen Begegnung, die sich freilich schon voraus ankündigte, als Goethe von dem Geist Spinozas, ja schon als Luther vom Geist der hebräischen Bibel ergrif­fen wurde, aber deren Blüte kaum ein halbes Jahrhundert dauerte, War eine echte und natur­hafte. Gewiß, es gab auch ein vorschnelles und unechtes Aufnehmen deutscher Werte und deutscher Form durch Juden, einen unrechtmäßigen und auflösenden Einfluß von Juden auf deutsches Leben und deutsche Kultur, aber dies war nur eine lose, wenn auch auffällige Peri­pherie. Im Kern war der jüdische Anteil an deutscher Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst ein bauender und bildender. Es gibt kein Gebiet deutscher Existenz, in dem in diesem Zeitalter nicht jüdische Menschen führend mitgewirkt hätten, wertend, ordnend, deutend, lehrend, gestaltend. Das war kein parasitäres Dasein; gan­zes Menschentum wurde eingesetzt und trug seine Frucht. Aber tiefer noch als durch individuelle Leistung wird die Symbiose durch ein eigentümliches Zusammenwirken deutschen und jüdischen Geistes be­glaubigt. Ob sich ein deutsches Dichtertum, wie das Stefan Georges, in jüdischer Jüngerschaft in geschichts- und kulturwissenschaftliches Werk umsetzt, ob ein jüdisches Denkertum, wie das Edmund Husserls, durch deutsche Schüler sich in die methodischen Grundlagen verschie­dener Erkenntniszweige ergießt, immer sehen wir nicht bloß Ergänzung, sondern wahre Befruchtung erscheinen. Ich selbst habe es im geistigen Umgang mit bedeutenden Deutschen immer wieder erlebt, wie unvermutet Gemeinsames aus der Tiefe aufbrach und zu Wort und Zeichen zwischen uns wurde.

Es ist bei solcher Wirklichkeit zu verstehen, daß sich manche vortreff­liche jüdische Männer allzu rückhaltlos an das Deutschtum hergaben. Ich und meine Gefährten haben in all diesen Jahren laut und unermüdlich da­vor gewarnt, aber jene Wirklichkeit war zumeist stärker als wir. Wer hier leichthin verurteilt, hat den tragischen Charakter des Galuth-Schicksals, die Entstehung und Vernichtung echter Synthesen nicht verstanden.

Ich will hier nicht davon sprechen, welche Mächte und Unmächte die Katastrophe herbeige­führt haben, die wie keine andere vor ihr das Bild der Zerreißung eines organischen Zusam­menhangs bietet. Sie bedeutet eine tiefere Zerreißung im Deutschtum selbst, als sich heute ahnen läßt. Ein Jahr vor dem „Umbruch“ hat ein deutscher Denker (Paul Tillich) in seiner Ge­denkrede auf Hegel auf die drohende Gefahr hingedeutet. „Das jüdische Prinzip“, sagte er und verstand darunter das prophetische Prinzip des Geistes, „ist unser eigenes Schicksal geworden und eine ‚secessio judaica‘ wäre eine Trennung von uns selbst.“ Heute ist die Kontinuität des geistigen Werdens im Deutschtum abgeschnitten. Wenn sie einst wieder erneut wird, wird sie mit Notwendigkeit an jene Werte, die die Symbiose trugen, und an jene Werke, die aus ihr hervorgingen, anknüpfen. Aber die Symbiose selbst ist zu Ende und kann nicht wiederkom­men.

Die jüdischen Menschen aus deutschem Land, die sich hierher, auf jüdi­sche Erde gerettet haben und — das ist unsere Hoffnung und Erwartung — retten werden, bringen in dem, was sie an großen Kräften und Werten in der Symbiose in sich aufgenommen und mit ihrem eigensten jüdischen Sein verwoben haben, einen wichtigen Beitrag zum Aufbau unseres Lebens und unserer Gemeinschaft mit. Auch unsere Siedlung ist ein Schmelztiegel, aber nicht einer, in den wie in den amerikanischen verschiedenartiges Erz unver­mittelt zusammengeworfen wird, sondern in dem verschiedene Legierun­gen desselben Urerzes zusammengetragen sind. Jede von ihnen spendet der Heimat ein anderes kostbares Gut aus der Welt der Völker. All dies soll hier miteinander zu einer großen Gestalt des Lebens verschmelzen. Der Beitrag der deutschen Juden aber muß uns besonders wertvoll und willkommen sein. Sie bringen uns, in jüdische Substanz eingegangen, von jenem edlen deutschen Seelenelement mit, das ihre Peiniger verleugnen und ersticken.

Zuerst veröffentlicht in Jüdische Weltrundschau, Nr. 1, Paris 1939.

Quelle: Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Mit einer Einleitung von Robert Weltsch, Gerlingen: Lambert Schneider, 2. Aufl., 1993, S. 629-632.

Hier Bubers Text als pdf.

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