Pilatus
»Was ist Wahrheit?« (Joh 18,38)
Von Reinhold Schneider
Das Wort des Pilatus ist durch die Welt gegangen wie das Wort des Herrn, und es wird vielleicht nicht in ihr verstummen; das Furchtbare ist, daß es an den Herrn gerichtet war, an die Wahrheit selbst. Es ist die Antwort auf Christi Wort: »Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.« Aber Pilatus, der mit einem Zweifel erwidert, ist nicht aus der Wahrheit; die Wahrheit steht vor ihm, sie spricht zu ihm, er antwortet und hört doch nicht ihre Stimme. Die Wahrheit, die vor ihm steht, ist ihm nicht offenbar geworden, und so versündigt er sich an ihr und liefert sie ihren Feinden aus. Die Wahrheit hat sein Herz nicht berührt; die Gnade ist an ihm vorübergegangen, Christus antwortet ihm auf seinen Zweifel nicht, und der Weltrichter allein wird seine Schuld ermessen. Für uns Menschen bleibt diese furchtbare Tatsache, daß die Wahrheit selbst in ihrer göttlichen Gestalt vor einem unseresgleichen steht und zu ihm spricht und er sie nicht zu sehen, ihre Stimme nicht zu hören vermag. Und was sich seit diesem entsetzlichen und doch nicht gnadenlosen Augenblick begeben hat, ist im Grunde nur die Wiederholung dieses Vorgangs; die Wahrheit ist da und spricht und wird zum Tode geführt und bleibt doch in der Welt; ihr Dasein ist die große bewegende Tatsache der Geschichte, aber die Menschen stehen vor ihr und fragen nach ihr, ohne sie zu erkennen, oder sie lehnen mit einem halb schmerzlichen, halb verächtlichen Ausruf den Glauben an ihr Dasein, ja an die Möglichkeit dieses Daseins ab, und es ist nicht immer eine willentliche Abkehr, die sie dazu bewegt. Pilatus vermag an die Möglichkeit der Wahrheit nicht zu glauben; vielleicht verbirgt sich ein tiefer Schmerz in diesen Worten, vielleicht gar das Bekenntnis: »Wäre die Wahrheit nur möglich, wie gern würde ich sie ergreifen!« Und um so mehr erschüttert uns das Schweigen des Heilands, der durch ein ganzes Leben Zeugnis von der Wahrheit gegeben, dessen Vermächtnis die Heiligung in der Wahrheit, dessen große Verheißung der Beistand des Geistes der Wahrheit ist, »den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht schaut und nicht erfaßt« (Joh 14,17); um Pilatus ringt der Heiland nicht. Er läßt den Landpfleger hinausgehen mit seiner Frage und wartet die Entscheidung ab, die für ihn Gewißheit ist; auch dem Herodes antwortet er nicht auf eine einzige seiner vielen Fragen. Die Wahrheit war gegenwärtig, und die Menschen kehrten sich ab; wir müssen wohl annehmen, daß Herodes und Pilatus aus dem Lichtkreis der Wahrheit in ein tiefes Dunkel gegangen sind. Alles Fragen ist vergeblich, wenn es dem Menschen nicht gegeben ist, die Stimme der Wahrheit zu vernehmen, wenn er ihr nicht schon »gehört«. Und so ist in dem Gespräch zwischen dem Herrn und Pilatus, obwohl es mit einer heillosen Frage endet, doch die Antwort auf die Frage des Pilatus gegeben: Wahrheit ist ein Leben in Christus, für ihn und vor ihm und in seinem Namen. Die Wahrheit ist in der Gestalt des Herrn, und wer sie mit lebendigem Auge schaut, der wird erst forschen und fragen können auf die rechte Weise im Vertrauen darauf, daß die Wahrheit gefunden werden kann. Wer aber als Zweifler fragt, muß sich verirren. Gründet sich die Wissenschaft auf den absichtlichen Zweifel statt auf das Vertrauen auf die Wahrheit, so wird sie, willentlich oder unwillentlich, die Wahrheit zum Tode führen oder ihren Feinden ausliefern; sie muß zum Werkzeug des Widersachers, des Geistes der Lüge werden. Sie geht ohne Licht in nächtliches Land, und wenn sie sich noch so weit entfernt und mit kühnem Mute in immer kältere Zonen dringt; wenn sie die unerhörte Weite dieses Landes auch mißt, so kann sie dieses Land doch nicht eigentlich schauen, weil sie das Licht nicht mitgebracht hat. Es bleiben ihr Feststellungen oder Fragen; es fehlt ihr das erleuchtete Bild. Und doch wäre nur in diesem das Wesen, das Sein der großen Zusammenhänge beschlossen. Der Zweifel drängt unablässig weiter, aber er darf nicht allein gehen und darf auch nicht führen, so wenig wie die Verzweiflung führen darf; der Glaube muß mit ihm gehen; nur die Erfahrung des Seins, des unabänderlich Gegebenen fragt das Unbekannte auf die rechte Weise. Wer die Stimme der Wahrheit nicht gehört hat, dem wird die Welt zum kalten Nichts; er trägt das Dunkel überallhin und wird es überall finden. Aber das Licht formt das Bild der Dinge; es versetzt dieses Bild in das Reich des Seins und der Wahrheit. Es muß ein Licht in dem Geiste wohnen, der forschen will; auf dieses Licht hin, das Gnade ist, müssen wir die Geister prüfen, ob sie aus Gott sind, wie der Apostel es fordert (1 Joh 4,1). An diesem Lichte erweist es sich, ob sie uns zu führen berufen sind – so wie erst eine geheimnisvolle Helligkeit des Menschenauges uns sagt, daß wir vertrauen dürfen. Die Wahrheit in der Gestalt des Herrn ist in der Geschichte erschienen und lebt in der Geschichte kraft des Sakramentes fort; vielleicht ist es erst von da an möglich geworden, alle Gestalten und Ereignisse der Geschichte in das unmittelbarste Verhältnis zur Wahrheit zu bringen. Nun ist das Licht aufgegangen, das die Menschen der Geschichte durchdringt und gewissermaßen ihr Spektrum in das Dunkel der Zeiten wirft; das Trübe und Abgründige wird offenbar, sobald wir das Bild einer Gestalt in den Bereich dieses Lichtes rücken: erst in diesem Bereich lernen wir eine Gestalt der Geschichte nach ihrem innersten Anliegen zu fragen und ihre Antwort zu deuten. Die Wahrheit ist da, aber sie ist nicht immer erforschbar, vielleicht sogar nur in den allerseltensten Fällen. Das Wichtigste ist, daß wir die Linien in der Richtung auf die Wahrheit ziehen — bis zu der Grenze, wo das Licht zu übermächtig wird und nur Gottes Auge zu schauen vermag. Aber es besteht die absolute Wahrheit des geschichtlichen Geschehens, und vor dem Weltenrichter wird sie sich dereinst entfalten. Am letzten Tag der Geschichte wird auch vor unseren Augen ihr ganzer Schauplatz im furchtbaren Lichte der Wahrheit liegen, das ausströmt vom Richterthron des Herrn, und wenn wir diesem Tage entgegenblicken, wird uns die Geschichte in der Perspektive der Wahrheit, sei es in bestimmten, sei es in unbestimmten Umrissen erscheinen, einem ungeheuren Gebirge ähnlich, das langsam aus dem Morgendunst steigt, da und dort von Wolken überweht oder sich noch in ihnen bergend und die furchtbare Tiefe seiner Schluchten noch nicht enthüllend. Wir müssen unentwegt auf dieses Licht gerichtet sein, wenn wir die Geschichte befragen; das entweder offene oder verborgene Ja oder Nein an Christus, das geschichtliche Menschen und Zeiten ausgesprochen haben, ist die letzte Aussage über ihr Wesen. Wir sind dann erst auf festem Grund, wenn wir diese Antwort an den Herrn vernommen haben; wo sie sich uns entzieht, vermögen wir die Umrisse nicht durchzuzeichnen; wir müssen warten auf die Herabkunft des Lichts. Aber Pilatus kehrte sich ab, und wir kommen von der Frage nicht los, wie ihm wohl die Geschichte erschienen sein mag. Vielleicht sah er nur die irdische Notwendigkeit in ihr und suchte in ihr zu wirken und die irdischen Pflichten zu erfüllen.
Doch das Geheimnisvolle meldete sich an. Seine Frau litt um des Gerechten willen im Traume und warnte den Landpfleger, Christi Blut zu vergießen (Mt 27,19). Kündigte sich damit eine Erschütterung, ein Gericht für Pilatus an? Noch einmal fragte der Landpfleger den Herrn: »Woher bist du gekommen?« »Jesus aber antwortete ihm nicht« (Joh 19, 9). Und als Joseph von Arimathäa den Leichnam des Gekreuzigten erbat, »wunderte sich Pilatus, daß er schon tot sein sollte« (Mk 15,44). Er mochte erstaunen darüber, daß die Menschen sich unter dem Kreuze sammelten und über das Furchtbare, das während des Herrn Tod und seiner Auferstehung geschah; aber der Römer war nicht aus der Wahrheit und verstand ihre Stimme nicht, als sie ihn anredete, und es muß ihm von diesem Augenblicke an das geschichtliche Geschehen immer sonderbarer, vielleicht auch sinnlos erschienen sein. Mächte wirkten offenbar in ihr, die er nicht verstand. Die Macht der Wahrheit erschütterte die Erde, und die Leiber der Heiligen standen auf aus den Gräbern und schritten nach Jerusalem (Mt 27, 53), des Herrn Prophezeiung lastete auf der Stadt, und unaufhaltsam verbreitete sich die Kunde seines Todes und seines mächtigen heiligen Wirkens, und seine Jünger lebten ihm nach; die Wahrheit war da und riß das geschichtliche Geschehen an sich und bewegte es, Pilatus aber wußte den Namen dieser wirkenden Macht nicht. Im Dienste des Imperiums mußte er mit ihr ringen, ohne sie zu begreifen, ohne zu wissen, daß sie ihm nahe gewesen war und er sie verfehlt hatte. Was waren nun sein Dienst, sein Amt, und wie hätte er ihnen genügen können, da er die Stunde seines Dienstes nicht begriff? Er wollte als treuer, rechtlicher Diener seines Staates im geschichtlichen Leben bestehen, und es konnte ihm doch nicht mehr gelingen; er hatte nicht erkannt, daß Geschichte das Wirken der Wahrheit unter den Menschen und das Wirken der Wahrheit gegen ihre Widersacher ist und der Widersacher gegen die Wahrheit. Und wie das Schicksal der Wahrheit, so hat sich das Schicksal des Pilatus wiederholt; auch der rechtlichste Mann, das heißeste Bemühen vermochten den rechten Dienst nicht zu tun, wenn sie die Stimme der Wahrheit nicht hörten, wenn sie nicht aus der Wahrheit waren.
Das ewige Wort besteht über der Zeit, aber es ist in der Zeit erschienen, damit es der Wahrheit Zeugnis gebe; das Medium seiner Mitteilung ist die Geschichte. In der Geschichte wird es laut, und oft auf eine furchtbare, augenblicklich Schicksal beschwörende Weise. Das gehört ja zu seinem Wesen, das Geschehen in der Zeit anzurufen und es zu seinem Widerhall zu machen; in der Zeit, mitten in den Gefahren und Verführungen der Geschichte, tritt das Wort unerbittlich den Menschen an. Wir vernehmen es nicht wie die Engel im heiligen Raum; wir vernehmen es im Dunstkreis der Erde, im Staub und Lärm, die vom Zug der Völker nach den Gipfeln der Macht, vom Einbruch der Dämonen aufgerührt werden. Wie Pilatus vor dem Propheten aus Galiläa stehen wir vor der Wahrheit in ihrer unbedingten Göttlichkeit, und wie den römischen Landpfleger, der den Aufruhr fürchtete, bedroht uns die Not des geschichtlichen Augenblicks. Aber die Wahrheit will ohne Rücksicht bezeugt sein: wir können ihr nur antworten durch ein Leben in der Wahrheit, durch ein wahrhaftiges Leben. Und wir wissen keinen andern Weg, wahrhaftig zu leben, als vor Christus zu sein, ein jedes Wort zu sprechen, eine jede Tat zu tun, einen jeden Gedanken zu denken in seiner Gegenwart. Diese Gegenwart wird uns auch in dem furchtbaren Zwiespalt beistehen, der sich öffnen kann zwischen der Liebe und der Wahrhaftigkeit: was in seiner Gegenwart möglich oder geboten, was auf ihn gerichtet ist, das ist wahr. Und diese Gegenwart wird selbst den schönen Schein des Kunstwerks nicht verzehren; dient es mit allen Kräften des Scheins der Verkündung, der Verbreitung, der Verherrlichung der Wahrheit, so wird es in dieser Gegenwart bestehen, solange seine Zeitlichkeit es erlaubt.
Aber sobald uns die erste Ahnung der Wahrheit und Wahrhaftigkeit ergreift, möchten wir auf die Knie fallen; wir fühlen, wie unsere Kraft nicht ausreicht für sie. Mein Herr und mein Gott, entreiße uns der Lüge unseres Lebens, der Lüge der Eitelkeit und der Lüge der Gefälligkeit, der Lüge der Angst! Lasse den Glauben in uns wachsen, der die Angst auslöscht, und schenke uns den Mut, der deinem Sohne auf geradem Wege entgegengeht durch die Bangnis der Zeit, diesen Glauben, der weiß, daß kein Herr ist in der Welt außer deinem Sohne! Entreiße uns mit Schmerzen allen Versuchungen schwachen Glaubens und den Täuschungen, zu denen er uns verlocken will! Wenn wir ganz wahr sind vor dir, so werden wir es auch vor den Menschen sein. Vielleicht ist die Bitte vermessen, daß kein Wort über unsere Lippen dringe, das wir nicht sprechen könnten in Gegenwart deines Sohnes, zu deinem Sohn, und doch müssen wir darum bitten. Aber mit dem wahren Worte wäre es nicht einmal getan. Die Gebärde kann täuschen und die Tat, die Haltung im Leben und das ganze Leben; wir können lügen durch unser ganzes Sein von der Geburt bis zum Tode, ohne eine Lüge auszusprechen. Ein jeder Schein, den wir willentlich erwecken, ist eine furchtbare Lüge, nicht besser als ein falsches Wort. Mein Herr und mein Heiland, verzehre den Schein in unserem Leben, in unserem Herzen; nur in dem heiligen furchtbaren Licht, das ausstrahlt von dir, wird er verbrennen! Laß keinen Schatten der Unklarheit unverzehrt; bis in die furchtbaren Abgründe unseres Herzens schleudre dein Licht! Einmal, ein einziges Mal, und sei es am Ende, sei es in der letzten Stunde, muß das Leben doch ganz wahrhaftig werden, dem abendlichen Meere gleich, dessen tiefster Grund heraufschimmert wie durch Glas. In dir sind Wahrheit und Liebe eins, darum dürfen wir die Unbarmherzigkeit der Wahrheit nicht fürchten; wäre unser Herz nicht zu schwach, es würde immer die Liebe aufbringen, die vor der tödlichen Schärfe der Wahrheit schützt, ohne die Wahrheit im mindesten zu verfälschen. Wir fürchten die Gewalt der Wahrheit nur aus dem Unvermögen unseres Herzens. Kein Werk taugt, das der Unwahrheit bedarf, weil das unwahre Werk nicht mitbaut an deinem Reiche. Dein Reich ist die Wahrheit, und wo sie nicht unbedingt besteht, da herrschen deine Feinde. Wir sind tausendfach umstrickt, aber du bist da; wenn wir dir entgegengehen, werden wir frei.
Mit furchtbarer Macht schlägt über dem Gedränge der Welt die Stunde des Pilatus gleich dem Glockenschlage einer alten Kathedrale. Der Schlag erschüttert die Häuser und das Leben der Menschen. Die Wahrheit ist da. Wenden wir uns ab? Gehen wir auf sie zu? Und immer wieder scheint das Geschick der Welt davon abzuhängen, daß wir die Stimme der Wahrheit hören und sie davor bewahren, daß sie zum Tode geführt wird. Immer wartet draußen das Volk, warten die Häscher, die sie zum Tode führen wollen.
Aber hier waltet das Mysterium der Geschichte. Pilatus konnte nicht hinausgehen in den Hof des Prätoriums und sagen: »Ich habe die Stimme der Wahrheit gehört. Sie steht vor euch: ihr gehört die Welt. Den ihr anschuldigt, ist König für Zeit und Ewigkeit.« Pilatus konnte nicht so sprechen. Er war nicht aus der Wahrheit. Wir können, wir müssen es. Unter der Gnade haben wir die Stimme der Wahrheit gehört. Und nun müssen wir sie bezeugen durch unser ganzes Leben bis in dessen tiefste Verborgenheit. Und das Leben, das ein Stück Wahrheit ist, wird das rechte Bild der Welt empfangen, und es wird wirken in der Geschichte. Denn die Wahrheit hat königliche Gewalt, sie kann nicht überwunden werden. Und wo sie dem Scheine nach – aber aller Schein zerrinnt – überwunden wird, da bersten die Gräber, und die Erde wankt, und Furchtbar- Rätselvolles geschieht in der Welt und in den Seelen der Menschen. Bis zum Erscheinen des Herrn haben die edelsten Geister der Menschen die Wahrheit gesucht, und sie bestand gleichsam über der Welt. Von nun an aber ist sie da, mitten in ihr und unter uns, und ihre unbesiegliche Macht wird sich in denen kundtun, die lebend bezeugen, daß Christus der Sohn Gottes ist.
1942
Zuerst erschienen in: Reinhold Schneider, Das Gottesreich in der Zeit. Sonette und Aufsätze, Udzialowa; Selbstverlag 1942, wiederabgedruckt in: Reinhold Schneider, Allein der Wahrheit Stimme will ich sein, Freiburg-Basel-Wien: Herder Verlag, 1962.
Guten Tag
Die Wahrheit liegt zwischen dem absoluten Bösen und dem sogenannten Guten. Keiner weiss sie sich selbst, noch jemand anderen. Wir sind von Gott aufgefordert, zu unterscheiden, im Tun und Lassen, dem Besseren auf der Spur.
Herzliche Grüsse
Hans Gamma