Karl Barths Predigt über die Sturmstillung (Matthäus 8,23-27) von 1935: „Vielleicht lässt er sich wecken. Vielleicht tritt er dann so in unsere Mitte, wie er dort in der Mitte seiner Jünger stand: der Herr Himmels und der Erde, der Macht hat, den Seinen zu helfen, wie er will“

Am 3. Februar 1935 hielt Karl Barth beim Rheinisch-Westfälischen Gemeindetag «Unter dem Wort» in Barmen-Gemarken folgende Predigt:

Predigt über Matthäus 8, 23-27 (1935)

Von Karl Barth

Und er trat in das Schiff, und seine Jünger folgten ihm. Und siehe, da erhub sich ein groß Ungestüm im Meer, also daß auch das Schifflein mit Wellen bedeckt ward; und Er schlief. Und die Jünger traten zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: Herr, hilf uns, wir verder­ben! Da sagt er zu ihnen: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stund auf und bedräuete den Wind und das Meer; da ward es ganz stille. Die Menschen aber ver­wun­derten sich und sprachen: Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam ist?

Was uns hier vereint, das ist unser aufrichtiger Wunsch und unsere ernste Sorge, Kirche zu sein, als Kirche zu denken, zu leben, zu handeln in dieser unserer Zeit mit der ganz besonde­ren Einladung, dem ganz besonderen Aufruf, den sie uns gebracht hat zu solchem Tun. Recht so! «Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark!» (1. Kor. 16,13). Aber wenn wir im Sinne dieses Wortes Kirche sein und als Kirche handeln wollen, dann haben wir allen Anlaß, uns sagen zu lassen, was wir eben gehört haben: «Und er trat in das Schiff, und seine Jünger folgten ihm.» Haben wir das wohl verstanden? Nicht etwa umgekehrt: Wir steigen in irgendein Schiff und laden Jesus ein, mit uns zu kommen, sondern er, Jesus, trat in das Schiff, und seine Jünger folgten ihm. Im griechischen Urtext heißt es noch ausdrucksvoller: «Als er in das Schiff trat, da folgten ihm seine Jünger.» Die Kirche kann und darf in keinem Sinn unsere Unternehmung sein, und wenn wir es noch so gut meinten mit ihr. Auch unsere ernste­sten Gedanken könnten dann, wenn sie das wären: unsere Unternehmung, nichts Anderes sein als törichte Klügeleien, auch der größte Mut zum kühnsten Wagnis, den wir dabei aufbringen möchten, würde dann nichts Anderes sein als Abenteurerlust, und die Leiden, die wir dann wohl auf uns nehmen würden, auch wenn sie noch so tapfer und geduldig ertragen werden sollten, wären wohlverdiente Strafe. Nicht da ist Kirche, wo wir mit Jesus irgend etwas an­fangen wollen, sondern da, wo er uns würdigt, unverdientermaßen würdigt, etwas mit uns anzufangen. Sein und sein allein ist die Macht, deren es bedarf zu dem Tun, das uns hier ver­einigt. Sein und sein ganz allein die Verantwortung und sein und sein ganz allein die Autorität und die Befehlsgewalt, die hier in Kraft steht. Aber wir, wir dürfen dabei sein, dabei sein, wo er redet, wo er handelt. Wir dürfen ihm folgen, und das heißt: wir dürfen es zulassen, daß unsere Tugenden und guten Eigenschaften, wie wir sie mehr oder weniger alle haben mögen, nichts mehr gelten sollen zu unserem Ruhm, sondern allein in seinem Dienst ihre Wirksam­keit und ihr Recht finden. Und wir dürfen es zulassen, daß auch unsere Fehler und Sünden, die wir alle kennen, in seinem Dienst, im Lichte seiner Wahrheit zugleich offenbar und ver­deckt werden, daß er uns haben und daß er uns brauchen will, obwohl Alles dafür zu sprechen scheint, daß er uns wirklich nicht brauchen kann. Er trat in das Schiff, und seine Jün­ger folgten ihm. Das ist die Grundregel kirchlichen Lebens und kirchlichen Handelns, das ist die Frage, vor die wir gestellt sind und immer wieder gestellt sein werden, wenn wir uns an­schicken, Hand anzulegen zur Vollbringung der unerhörten Aufgabe, die Gottes Gnade und Barmherzigkeit uns anvertraut hat: seine Kirche zu bauen.

Und nun wird es gewiß kein Zufall sein, daß dieses unser Dabeisein beim Werk Jesu Christi in unserem Text beschrieben wird mit den Worten: sie folgten ihm. Und daß der Ort, wohin sie ihm folgen dürfen, gerade ein Schiff ist. Es wird wohl kein Zufall sein, daß die Kirche im ganzen Neuen Testament — sowohl ihr Herr Jesus Christus wie seine Jünger und Apostel — dauernd im Aufbruch, auf Reisen, unterwegs ist. Gewiß, die Kirche ist im Raum, und zwar nicht im «luftleeren Raum», sondern in dem Raum, der erfüllt ist von der uns allen nur zu wohlbekannten Luft unserer Welt mit ihren Wohlgerüchen und Giftgasen. In diesem Raum lebt durch Gottes Gnade seine Kirche, und zwar je und je in einem ganz bestimmten Raum. Aber wie ein Schiff auch je und je in einem bestimmten Raum ist und doch nicht immer im gleichen Raum, so ist auch die Kirche nicht gebunden an einen bestimmten Raum, nicht ge­bunden an bestimmte Menschen, nicht gebunden an bestimmte Lagen und geschichtliche Bedingungen, sondern die Kirche war immer auf Reisen und wird es immer sein. Gerade weil sie überall zuhause sein kann, muß sie auch überall in der Fremde sein. Gerade weil sie bereit ist, überall einzukehren, wird sie auch überall gefaßt sein, Abschied zu nehmen. J. A. Bengel hat zu dieser Stelle die Bemerkung gemacht: «Jesus hatte eine wandelnde Schule, und in ihr sind die Schüler viel besser unterrichtet worden, als wenn sie ohne Sorge unter dem Dach eines Kollegiums gelebt hätten.» Warum ist dem so, warum muß dem so sein? Weil die Kir­che Jesu Christi, weil die Gefolgschaft des Herrn in dieser Welt herkommt von der ewigen Heimat und hingeht wiederum zu dieser ewigen Heimat, weil sie diese zukünftige Heimat sucht und von ihr zeugt und mitten in dieser Welt ein Zeichen ist von dieser ewigen Heimat, darum kann die Kirche hier keine bleibende Stätte haben. — Wir haben allen Anlaß, dessen zu gedenken, wenn wir Kirche sein wollen: Die Füchse haben Gruben, die Vögel des Him­mels haben ihre Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlegt (Mt. 8,20). Und wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes (Lk. 9,62).

«Da erhub sich ein groß Ungestüm im Meer.» Ja, solches kann geschehen, solches geschieht. Wie gefährlich die Welt ist, in der die Kirche ihr Leben und ihren Auftrag hat, das ist nicht immer gleich offenbar, das steht uns Menschen nicht immer mit der gleichen Eindringlichkeit und Lebhaftigkeit vor Augen. Es gibt auch Stürme, die toben in weiter Ferne; es gibt Stürme, von denen wir hören aus alter Vergangenheit; es gibt Stürme tief verborgen unter dem Mee­resspiegel. An diese Stürme zu denken hat der in glücklicher Fahrt begriffene Seemann keinen Anlaß. Und ist es nicht uns allen so gegangen, daß wir eigentlich bis ungefähr vor 20 Jahren nur aus Büchern wußten und in Zeitungen lasen, wie gefährlich die Welt ist? Wir hörten und lasen vom Dreißigjährigen Krieg und von der französischen Revolution, oder wir erschraken von weitem über den Burenkrieg in Afrika. Wie fern war da alles. Und nun: «Siehe, da erhub sich ein groß Ungestüm im Meer.» In den letzten 20 Jahren ist die Welt, ist die ganze Luft, in der wir atmen, ist das ganze Leben, das wir leben, ein anderes, bewegtes, stürmisches gewor­den. Und wir wissen es jetzt: Es ist gefährlich stehen in dieser Wüstenei! Warum gefährlich? Weil die Welt, in der die Kirche ihr Leben hat, die Welt des Menschen ist. Und der Mensch ist gefährlich. Der Mensch ist ein Lügner, der Mensch ist ein Dieb, der Mensch ist ein Ehebre­cher, der Mensch ist ein Brandstifter, der Mensch ist ein Mörder, der Mensch ist ein Übertre­ter aller Zehn Gebote, weil er immer wieder ein Übertreter des ersten Gebotes ist: Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben! Wir Menschen aber haben andere Götter neben ihm. Daß dem so ist und was das bedeutet, das wird freilich nicht jeder­zeit und nicht überall sichtbar. Das läßt sich auf weite Strecken und auf lange Zeiten und für ganze Generationen verstecken und verkleiden, bis es dann auf einmal an den Tag kommt: wer wir sind und was und wie darum unsere Welt ist. Und zwar ohne daß wir wissen, warum es gerade jetzt und gerade hier zu solchen Ausbrüchen kommt. So wenig es sich vom Heiligen Geist sagen läßt, von wannen er kommt und wohin er fährt, so wenig läßt sich dies sagen von den Stürmen, die unser Leben durchziehen und bewegen. Wenn sie sich erheben, so können wir nur feststellen, daß sie da sind, daß es jetzt geschieht, daß das schleichende Gift jetzt aus­bricht. Und wir können dann in aller Aufrichtigkeit nur zugeben, daß es so ist, daß wir so dran sind, daß wir in einer Welt leben, in der es keine Sicherheit gibt, in der alles, auch das Schrecklichste, möglich wird. Und dieser Welt stehen wir nicht gegenüber wie einem Schick­sal, das wir anstaunen, entsetzt vielleicht und doch auch wieder bewundernd. Dieser Welt können wir nicht entfliehen, weil sie unsere Welt ist, weil wir bekennen müssen: Wir sind schuldig, und in Allem, was uns jetzt trifft, empfangen wir nichts, was uns nicht gehörte, was nicht unsere gerechte Strafe wäre.

«Also daß auch das Schifflein mit Wellen bedeckt ward.» In dieser gefährlichen Welt, in der es zu solchen Stürmen kommen kann, lebt die Kirche. Und dem Ungestüm dieser Welt ist auch sie ausgesetzt, ist auch sie unterworfen. Wir wollten es wohl gerne anders haben, wir wollten wohl gerne, daß die Kirche inmitten dieser Welt des Menschen eine Insel der Seligen, des Friedens, wäre. Aber dem ist nicht so. Sondern alle Irrtümer und Lügen, alle Gottlosigkei­ten der Welt, sie treffen auch die Kirche. «Also daß auch das Schifflein mit Wellen bedeckt ward.» Und alle Not, die die Welt, die die Menschen sich bereiten, sie ist auch die Not der Christen, auch die Not der Gemeinde Jesu Christi. Und was sie da trifft und bedeckt, das ist nicht eine Not, die nur von außen an sie herankäme. Auch die Kirche Jesu Christi besteht aus Menschen. Welche Ratlosigkeit, welche Schwäche, welche Leidenschaft, welche Sünde wäre nicht auch in ihr, auch in diesen Menschen, die die Kirche bilden? Auch? Müßten wir nicht aufrichtigerweise sagen: Welche Sünde der Welt wäre nicht gerade in ihnen, gerade in den Jüngern Jesu sichtbar, ganz anders sichtbar als je in den anderen Menschen? Erinnert ihr euch noch, wie es war in der Zeit des Krieges, wie es da Menschen gab, die sagten: Alle Schrecken des Krieges, alles Furchtbare, was wir da erlebt haben, war nicht so schlimm wie die Tatsa­che, daß auch die Kirche sich hineinziehen ließ in das Tun der Welt, daß die Kirche aller Län­der betete für den Sieg der blutigen Waffen ihres Volkes. Mag sein, daß diese Anklage, im Munde derer, die sie vorbrachten, ungerecht war. Aber ist nicht in ihr ein Kern göttlichen Gerichtes, dem wir uns beugen müssen? Ist es nicht so, daß, indem die Kirche in der Welt ist und die Art der Welt an sich trägt, in ihrem Mittun und Mitdabeisein das Böse erst als Böses sichtbar wird?, ist es nicht so, daß die Kirche der Ort ist, wo gleichsam ein Spiegel aufgestellt ist, in dem die Welt sich selber erkennt? Kann es anders sein, als daß das Gericht anfangen muß beim Hause Gottes? Und kann es uns wundern, wenn es zu allen Zeiten so gewesen ist, daß das Böse, das der Mensch tut, an der Kirche in besonderer Weise gestraft wird? Oder was ist der Zerfall der Kirche, die Ohnmacht, in der sie der Welt gegenübersteht, die Verfolgung, die sie erdulden muß, Anderes als das Gericht Gottes, das über sie ergeht? In solchen Zeiten der leidenden Kirche möchte uns wohl die Erinnerung überkommen an Jesus Christus, an den Gekreuzigten, der auch in dieser Welt gelitten und die Sünde dieser Welt getragen hat, an sein Blut, das er vergossen hat, an seine Nägelmale, an sein Grab. So hat es die Welt ihm bereitet. Aber wenn wir uns seiner erinnern, so wollen wir nicht vergessen: die ihn ans Kreuz brachte, das war nicht nur und nicht in erster Linie die Welt, das war vor allem seine Kirche. Gibt es für die Kirche in diesen stürmischen Zeiten noch eine andere Erinnerung, eine andere Er­kenntnis als diese: Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer, die haben dir erreget das Elend, das dich schläget, und das betrübte Marterheer.

Gibt es für die Kirche eine andere Erinnerung und eine andere Erkenntnis als diese: mea culpa, meine, meine Schuld?

Wir hören in unserem Text das merkwürdige, das große Wort: «Und er schlief.» Jesus schlief. Also in dem Schifflein, das da vom Sturm bewegt wurde und von den Wellen bedeckt ward, schläft Jesus. Gewiß, da wollen wir uns vor allen Dingen sagen lassen: auch in dieser Kirche mitten im Ungestüm der Welt, getroffen von ihrer Not und mittragend an ihrer Schuld, auch in dieser Kirche, ja gerade in dieser Kirche ist und lebt Jesus Christus. Weil dem so ist, weil Christus seine Kirche nicht allein läßt, weil er da ist, darum kann die Kirche nicht untergehen, so wenig, wie er selber vergehen kann, er, der das Wort des Vaters ist. Himmel und Erde wer­den vergehen, aber dieses Wort des Vaters wird nicht vergehen. Wenn die Kirche sündigt und gestraft werden muß, dann kann es geschehen, daß sie klein werden muß in der Welt, ohn­mächtig, einflußlos und zerstreut, dann kann es geschehen, daß die Kirche in die Katakomben gehen, daß sie auswandern muß. Aber Eines kann nicht geschehen: die Kirche kann nicht untergehen. Denn ihr Herr ist und ihr Herr bleibt in ihrer Mitte. Wohlverstanden: Was die Kirche rettet, das wird nie und nimmer sein ihre geschichtliche Mächtigkeit als ein Faktor des geistigen Lebens. Was die Kirche rettet, das wird nie und nimmer sein die Glut der in ihr herrschenden religiösen Überzeugung. Was die Kirche rettet, das wird nie und nimmer sein die Festigkeit und Schönheit ihrer Ordnungen oder die überlegene Kraft ihrer Theologie und Lehre. Was die Kirche rettet, das ist zu allen Zeiten gewesen und wird zu allen Zeiten sein: die Hand Gottes, die in Jesus Christus ausgestreckt ist nach uns Menschen. Diese Hand Got­tes, die allem Menschenwerk seine Grenzen setzt, die allen Reichen dieser Welt, allen Gesell­schaftsformen der Weltgeschichte, allen Bewegungen des menschlichen Geisteslebens Einhalt gebietet: Bis hierher und nicht weiter!, diese Hand Gottes schützt und deckt seine Kirche. Nicht um der Würdigkeit ihrer Bekenner willen, sondern um der Güte und Barmherzigkeit Gottes willen, aus lauter Gnade! Die Kirche ruht in dieser Hand Gottes, die er ausgestreckt hat, um uns verlorenen Menschen zu helfen; sie ruht in der Hand, die Gott in Christus auf uns arme Sünder gelegt hat, und indem sie dort ruht, kann sie nicht untergehen.

Aber wie merkwürdig, möchten wir sagen, daß es von Jesus heißt: Er schlief in dem Schiff. So verborgen also ist sein Tun, so unscheinbar, so gar nicht ein Tun nach menschlichen Be­griffen, daß er da ganz und gar untätig erscheint. Aber so mächtig ist sein Tun, daß er ganz untätig erscheinen kann, und ist doch tätig. Was von Christus gegenwärtig ist in diesem Schifflein, gegenwärtig ist in unserer Kirche und in unserer Mitte, das ist die Menschheit Christi, die erscheint wie eine Hülle, in der das Wort des lebendigen Gottes verborgen ist. Und was das Auge sieht und das Ohr hört, das ist dieses Menschliche. Was soll uns das hel­fen? Ist das nicht Ohnmacht, ist das nicht Untätigkeit? Er schläft. Nun, er wäre nicht Jesus Christus, er wäre nicht der Sohn des Vaters, er wäre nicht der Heiland, wenn er nicht auch in Ohnmacht und Untätigkeit erschiene. Aber seht: der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht. Es wachte die Gottheit, so sagt Calvin zu dieser Stelle. Wir in der Kirche sind versam­melt durch ihn und zu ihm, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Er ist mitten unter uns gleich der Erde, die von selbst, ohne das Zutun des Landmannes, Frucht hervorbringt. Es ist so: der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht. Und eben das ist Gottes Hand, die zu­gleich das Geheimnis seiner Majestät ist, die verborgen in sich schließt seine Allmacht und Liebe. So geschah es, als Jesus sterbend am Kreuz hing, tot im Grabe lag. Was wir hier lesen: «er schlief», ist nur ein Vorspiel zu einem noch viel schrecklicheren und unbegreiflicheren Schlafe Jesu: Angesichts des gekreuzigten, des toten Jesus sind wir aufgerufen, Gott den Herrn zu lieben und uns an ihn zu halten, als ob wir ihn sähen. Wir wissen, wie schwer uns das fällt. Und wie unser Glaube immer wieder ein versagender Glaube ist, der sich gerade das nicht gefallen lassen möchte, sich an diesen unsichtbaren Gott zu halten, der uns immer nur gegenwärtig ist in Gestalt schwacher, ohnmächtiger Menschlichkeit.

«Und die Jünger traten zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: Herr, hilf uns, wir verder­ben!» Liebe Freunde, ich glaube, daß wir trotz dem, was wir nachher hören werden: daß Jesus zu den Jüngern sagt: Ihr Kleingläubigen!, nicht gut tun würden, dieses ihr Tun zu kritisieren. Ist es denn nicht so und können wir das nicht alle verstehen: die Zeiten solches über uns her­einbrechenden Ungestüms, die Zeiten solcher Not der Kirche, die können werden und wollen werden Zeiten einer ganz neuen Erkenntnis dessen, was uns fehlt. Wenn das Meer ruhig ist, dann kann Jeder steuern, der das Handwerk einigermaßen gelernt hat, aber wenn die Stürme kommen, dann kann es geschehen, daß auch der erfahrenste Seemann bekennen muß: Ich kann im Grunde nicht helfen. Ist es nicht so, daß solche Notzeiten der Kirche uns sagen, uns sehen lehren: Wir können gar nichts? Wir haben das früher in unseren Kirchenliedern auch gesungen, wir haben das gesagt und gebetet, aber jetzt wird es ernst. Und ist es nicht so, daß solche Notzeiten uns auch das Andere sagen: Ein Anderer, unser Herr und Gott, der kann das, genau das, was wir nicht können? Genau da, wo unsere Kraft ausgeht, da geht Gottes Kraft und Herrlichkeit an? Und ist es nicht so, daß solche Zeiten uns aufrufen, auf Grund der Ein­sicht in unsere Not und auf Grund der Einsicht in Gottes Gnade ganz neu zu fragen nach dem Gott unseres Heils, nun wirklich zu forschen in der heiligen Schrift, nun wirklich neu uns zu besinnen, was es bedeuten möchte: beten, den Herrn anrufen aus der Tiefe unserer Not, ihn, dem es nicht zu gering ist, die Stimme seiner schwachen und verlorenen Kinder zu hören? Ist es nicht so, daß in solchen Zeiten die Einsicht uns überfällt: Alles das, was wir bis jetzt zu wissen meinten und tun zu können meinten und auch wirklich taten, das müssen wir darbrin­gen und sagen: Das alles ist nichts, das alles versagt? Und indem wir das erkennen, wissen wir: Du, Herr, du kannst und du wirst uns helfen! Nun haben wir nichts weiter zu sagen als eben: Herr, hilf uns, wir verderben!

Und Jesus läßt sich wecken. Eine ganz wunderbare, unbegreifliche Sache! So tief hat der Höchste sich herabgelassen zu uns, daß er sich wirklich von uns wecken, von uns auf den Plan rufen läßt, daß er den Seinigen offenbar wird, gegenwärtig, erfahrbar wird, in einem bestimm­ten Ereignis und in einer bestimmten Erkenntnis. So tief hat sich Gott herabgelassen zu uns, so groß ist seine Güte, daß das geschehen kann, daß nun in der menschlichen Schwachheit des Herrn seine Gottheit enthüllt wird, gegenwärtig handelnd erscheint und wir erkennen dürfen: Wahrhaftig, wir sind angenommen als seine Brüder. Ihr wißt, daß man solche Zeiten, solche Zeiten besonderer Bewegung in der Kirche, auch schon als Erweckungszeiten bezeichnet hat. Ich weiß nicht und wir alle wissen nicht, ob es erlaubt ist, unsre Zeit eine «Erweckungszeit» zu nennen. Aber das wollen wir uns sagen: Wenn es das gibt, eine Erweckung in der Kirche, dann ist das Erwachen, von dem da die Rede ist, nicht in erster Linie und nicht in der Haupt­sache unser Erwachen. Gewiß, wir müssen auch erwachen. Aber das Geheimnis solcher Zei­ten wird dann immer dieses sein: sie weckten ihn. Was hülfe alle Not und Hoffnung und Kampfesfreudigkeit solcher Zeiten, wenn es nicht Etliche gäbe, die dann wissen: es kommt gerade jetzt auf Eines und nur auf dies Eine an, daß Jesus unter uns erwache, und die nun daran glauben, darauf hoffen, darum schreien und flehen, daß das geschehe. Und das sind die Zeiten der Hilfe, wo dieses Schreien erhört wird, wo es wahr wird: Jesus der Herr bricht auf und steht auf in seiner Kirche, um mitten in unserer Schwachheit und Torheit selber zu herr­schen und zu handeln.

Freilich, nun klingt die Fortsetzung nicht sehr erhebend und erfreulich für die Jünger: «Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?» So ist es und so muß es sein, wenn es ge­schieht, daß in einer bestimmten Zeit Jesus Christus sichtbar wird in der Mitte der Seinigen, sichtbar wird in bestimmten Hilfen, in bestimmten Tröstungen, in bestimmten Zeichen: dann bricht für die Seinigen, denen er diese Gnade in der Gnade erweist, keineswegs einfach eine Glanzzeit an, in der sie in ihrer Menschlichkeit, in ihrer Frömmigkeit, in ihrer Tapferkeit zum Leuchten kämen. Oh, wie hätten wir die Menschen der Bibel, wie hätten wir unsere Reforma­toren falsch verstanden, wenn wir sie verstehen wollten als Helden, die vor Gott stehen als große Leute, die sich dessen menschlich zu rühmen hätten! Nein, gerade in solchen Zeiten, wo Jesus aufsteht unter den Menschen, da müssen diese Menschen nun erst recht ganz klein wer­den. Da wird ihnen gesagt: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Reformation, Erweckung, Erneuerung der Kirche, ja, Gott schenke uns das! Aber wenn er es uns schenken wird, dann wird es nicht anders gehen, also daß dabei unser Klein- glaube erst recht offenbar wird, daß wir Anlaß bekommen, uns noch ganz anders als bisher zu beugen und wieder zu beugen. Gerade angesichts der Größe des Herrn kommt schmerzlich an den Tag die ganze Unsicherheit, die ganze Verborgenheit und Unlauterkeit, die ganze Eigenmächtigkeit unseres menschlichen und (wohlverstanden) unseres christlichen Lebens. Es kommt an den Tag, was in uns ist, auch und gerade in uns, die wir im Glauben Glieder am Leibe Christi sein möchten, was in uns ist an tiefer, schrecklicher Angst, Lebensangst, Sündenangst, Todesangst, Angst, die mit dem Glauben gar nicht vereinbar ist, die offenkundig nur Widerspruch sein kann, die dem Glauben nur gegenüberstehen kann wie der Schatten dem Licht. Sieh, da müssen wir uns fragen lassen: warum hast du nicht längst deine Zuversicht auf den Herrn gesetzt? Es ist wohl recht, daß du jetzt schreist und rufst: Herr, hilf uns, wir verderben! Aber warum hast du nicht längst dich an ihn gehalten, warum hast du nicht längst sein Wort gelten lassen als sein Wort, das die Wahrheit ist und von dem wir leben dürfen? Warum hast du dir nicht längst genügen lassen an Gottes Gnade, warum hast du immer noch mehr haben wollen? Ja sieh nur deine Art, die An deines Glaubens, sieh nur deinen Kleinglauben! Ja und sieh nur, wie die Bewe­gung deines Herzens und wie der ganze Ernst, mit dem du dich für die Kirche einsetzen willst, auch jetzt noch Kunde gibt von dem tiefen, tiefen Mangel an Glauben, dessen wir uns alle miteinander schuldig machen. Und sieh, nun mußt du dich zurückrufen lassen, nun mußt du einkehren bei dem Herrn, bei dem Wort, bei der Gnade als dem Grund, von dem du gewichen bist. Wohl uns, wenn wir diese Stimme hören und gerade heute hören mit aller Macht: Ihr Kleingläubigen, warum, ja warum seid ihr so furchtsam? Wohl uns, wenn wir dann nicht aus­weichen und nicht Rechtfertigungen bereit haben, wenn wir dann nichts zu erwidern haben, wenn es uns gegeben ist, uns das ganz einfach sagen zu lassen. Denn es sind Gottes liebe Kin­der, zu denen das gesagt wird: Ihr habt es nicht nötig, euch zu fürchten. Ich bin mitten unter euch. Ich mache es gut mit euch.

«Und er stund auf und bedräuete den Wind und das Meer; da ward es ganz stille.» Ein Ereig­nis geschieht, eine Erkenntnis wird wach, ein Durchbruch erfolgt. Jesu Herrlichkeit wird sichtbar. Wieder war das wie ein Vorspiel zu dem, was geschehen ist am dritten Tag nach seinem Tode! Nicht darum geschah dies jetzt, weil er verpflichtet gewesen wäre seinen Freun­den gegenüber, ihnen diese Liebe zuteil werden zu lassen, daß sie nun sehen können. Nicht darum, weil Jesus es etwa nötig gehabt hätte, diesen Sturm zu stillen. Oh, seinetwegen könnte der Sturm noch weitertoben bis zum jüngsten Tag, ihm hätte es nichts getan, und auch ihnen hätte es nichts getan. Aber er kommt ihnen entgegen und nimmt sich nun auch ihrer Schwach­heit an und gibt in dieser Zeit das Zeichen: Ich bin der Herr, und ihr seid die Meinigen, die um meinetwillen nicht verloren sind! Das ist Gottes Gnade in der Gnade, daß er uns nicht nur gnädig ist, sondern daß er es uns auch sagt. So hat er es seinen Jüngern zu verstehen gegeben, so tröstet er seine Kirche. Nicht nur in Worten, obwohl in seinen Worten aller Trost schon enthalten ist, sondern mit Worten, die zugleich eine reale Hilfe bedeuten, und zwar nicht bloß eine reale Hilfe für die Jünger. Denn wenn Jesus handelt, dann geht es nicht bloß darum, daß seiner Kirche geholfen wird, nein, dann geschieht etwas mitten in dieser gefährlichen Welt. Es heißt: Er bedräute den Wind und das Meer. Also nicht nur zu einer Hilfe in der Bedrohung kam es hier, sondern zu einer Bedrohung dessen, was die Kirche bedrohte. Die Weltlage ist eine andere geworden, indem Jesus seinen Jüngern dieses Zeichen gab. Es ist eine Grenze gesteckt, die Welt des Todes kann nicht weiterwüten, die Jünger dürfen sehen, daß sein Wort stark ist. Das Wort ist die Macht, die nicht nur Gewalt hat zu trösten, sondern auch Gewalt hat über die Dämonen dieser Welt. Der gottlose Mensch, der Sünder, sie haben nicht das letzte Wort. Er steht ihnen gegenüber, er, der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht und Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt. Er ist der, der dem Verderben der Kir­che steuert, wie und wann er will, indem er der Gewalt der Welt, in der die Kirche ist, Schran­ken setzt. Und der dann neue Psalmen, neues Lob auf unsere Lippen legt, die dann nicht nur fromme Worte, andächtige Lieder sind, sondern Anerkennung der neuen Wirklich­keit, die Gott in diesem Wort uns hat sehen lassen. Er ist der, der gesagt hat und es wieder sagt, wenn wir Angst haben in der Welt! Siehe, ich — nicht nur: ich tröste euch, sondern: — ich mache alles — diese Welt des Menschen, die jetzt in Sünde und Tod verloren ist — neu. Als diesen Herrn haben die Jünger Jesu ihn kennen gelernt, und es heißt von ihnen und offen­bar nicht nur von ihnen:

«Die Menschen aber verwunderten sich und sprachen: Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam ist?» Alle sahen: Es war eine große Stille. Und die Frage stund auf: Wer ist das, der da gehandelt hat? Jesus gibt seiner Kirche solches Zeugnis. Verlassen wir uns darauf: Er kann es tun, und er ist gütig genug, auch uns solches Zeugnis zu geben, daß wir es schmecken und fühlen: Es ist ganz still, wo lauter Ungestüm zu sein scheint. Und indem der Herr seiner Kirche solches Zeugnis schenkt, macht er seine Kirche selber zum Zeugnis, daß wir es verkündigen dürfen in klaren Worten: So freundlich ist der Herr, so groß seine Macht und seine Güte. Aber laßt uns das bedenken: Er, er selber ist das Leben und ist das Heil der Welt. Und wenn wir uns von unserem Text sagen lassen: Er kann uns solche Zeichen geben, und wir dürfen ihn darum bitten, dann gilt es andererseits zu sagen: Seine Zeichen und seine Wunder, sie zeugen von ihm, sie weisen uns auf ihn hin, sie machen uns aufmerksam darauf, wer er ist. Nicht auf das Zeichen und nicht auf das Wundergeschehen kommt es an, nicht darauf, daß jetzt Ruhe und Stille eintritt und die Kirche wieder in ein friedliches Fahrwasser kommt. Wenn er fernerhin in unserer Mitte schlafen will, so ist er darum um nichts weniger groß, und die Welt in ihrem Ungestüm ist darum um nichts weniger gering und uns, seiner Kirche, darum um nichts weniger geholfen. Es steht nicht in unserer Macht, ihn zu wecken. Vielleicht läßt er sich wecken. Vielleicht tritt er dann so in unsere Mitte, wie er dort in der Mitte seiner Jünger stand: der Herr Himmels und der Erde, der Macht hat, den Seinen zu hel­fen, wie er will. Aber wenn das nicht sein Wille ist, ist er nicht weniger der Herr Himmels und der Erde. Und wir sind dann nicht weniger aufgerufen, ihn zu loben und zu preisen, wel­ches auch sein Weg mit uns sei. Ob er uns noch weiter ins Dunkel führt, oder ob wir es erle­ben dürfen, daß die Hilfe sich findet für unsere Kirche? Das ist nicht letztlich wichtig. Wichtig ist, daß wir uns von ihm selber zu ihm selber rufen lassen und an ihm hangen.

Und nun kehren wir an den Anfang zurück: «Er trat in das Schiff, und seine Jünger folgten ihm.» Daß er vorangeht und daß wir ihm folgen, was auch daraus werde, wie er es auch mit uns mache, das ist das Eine, was nottut, das ist der Weg, auf den er mit uns getreten ist und den wir dankbar, unter allen Umständen dankbar mit ihm gehen dürfen. Amen.

Quelle: Karl Barth, Vier Predigten (ThExh 22), München 1935, S. 23-35.

Hier Barths Predigt als pdf.

Rolf Wischnath hat dazu eine hilfreiche Elementarisierung der Predigt von Karl Barth über Matthäus 8, 23-27 erstellt, die hier als pdf einsichtig ist.

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