
In Sachen NAMENSlehre findet sich ein aufschlussreicher Brief des jungem Gershom Scholem an Franz Rosenzweig von 1926 bezüglich der Wiederverwendung der »heiligen« hebräischen Sprache im Gefolge der zionistischen Bewegung:
Bekenntnis über unsere Sprache. An Franz Rosenzweig
Von Gershom Scholem
Dies Land ist ein Vulkan: Es beherbergt die Sprache. Man spricht hier von vielen Dingen, an denen wir scheitern können, man spricht heute mehr als je von den Arabern. Aber unheimlicher als das arabische Volk steht eine andere Drohung vor uns, die das zionistische Unterfangen mit Notwendigkeit heraufbeschworen hat: Was ist es mit der „Aktualisierung“ des Hebräischen? Muß nicht dieser Abgrund einer heiligen Sprache, die in unsere Kinder gesenkt wird, wieder aufbrechen? Freilich, man weiß nicht, was man tut. Man glaubt die Sprache verweltlicht zu haben. Aber das ist ja nicht wahr, die Verweltlichung der Sprache ist ja nur eine façon de parler, eine Phrase. Es ist schlechthin unmöglich, die zum Bersten erfüllten Worte zu entleeren, es sei denn um den Preis der Sprache selbst. Das gespenstische Volapük, das wir hier auf der Gasse sprechen, bezeichnet genau jene ausdrucklose Sprachwelt, in der die „Säkularisierung“ der Sprache möglich, allein möglich werden konnte. Überliefern wir aber unseren Kindern die Sprache, die uns überliefert worden ist, machen wir, das Geschlecht des Übergangs, die Sprache der alten Bücher lebendig in ihnen, so daß sie sich an ihnen neu offenbaren kann – muß denn dann nicht die religiöse Gewalt dieser Sprache eines Tages ausbrechen? Und welches Geschlecht wird dieser Ausbruch finden? Wir leben ja in dieser Sprache über einem Abgrund, fast alle mit der Sicherheit des Blinden, aber werden wir nicht, wir oder die nach uns kommen, hineinstürzen, wenn wir sehen werden. Und niemand weiß, ob das Opfer Einzelner, die in diesem Abgrund zugrunde gehen werden, genügen wird, um ihn zu schließen. Die Schöpfer der neuen Sprachbewegung glaubten blind, bis zur Verbohrtheit, an die Wunderkraft der Sprache, und das war ihr Glück. Kein Sehender hätte den dämonischen Mut aufgebracht, eine Sprache da zu beleben, wo nur ein Esperanto entstehen konnte. Jene gingen, und gehen noch heute, gebannt über den Abgrund, er schwieg, und sie haben ihn, die alten Namen und Sigel, weitergegeben an die Jugend. Nun graust es uns manchmal, wenn aus einer gedankenlosen Rede des Sprechers ein Wort der Religion uns erschrickt. Unheilsschwer ist dies Hebräisch: in seinem jetzigen Zustand kann und wird es nicht bleiben, unsere Kinder haben keine andere Sprache mehr und es [ist] nur wahr zu sagen, daß sie und allein sie die Begegnung werden bezahlen müssen, die wir ihnen, ohne zu fragen, ohne uns selbst zu fragen, verschafft haben werden. Wenn die Sprache sich gegen ihre Sprecher wenden wird – auf Minuten tut sie es schon in unserem Leben, und das sind schwer vergeßliche Minuten, in denen sich die Vermessenheit unseres Unterfangens uns offenbart – werden wir dann eine Jugend haben, die im Aufstand einer heiligen Sprache bestehen können wird?
Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache beschlossen, ist ihr Abgrund versigelt. Es steht nicht mehr in unserer Hand, die alten Namen tagtäglich zu beschwören, ohne ihre Potenzen wachzurufen. Sie werden erscheinen, denn wir haben sie ja freilich mit großer Gewalt beschworen. Wir freilich sprechen in Rudimenten, wir freilich sprechen eine gespenstische Sprache: in unseren Sätzen gehen die Namen um, in Schriften und Zeitungen spielt der oder jener mit ihnen, und lügt sich oder Gott vor, es habe nichts zu bedeuten und oft springt aus der gespenstischen Schande unserer Sprache die Kraft des Heiligen hervor. Denn die Namen haben ihr Leben und hätten sie es nicht, wehe unseren Kindern, die hoffnungslos der Leere ausgeliefert werden.
Jedes Wort, das nicht eben neu geschaffen wird, sondern aus dem „guten alten“ Schatz entnommen wird, ist zum Bersten voll. Ein Geschlecht, das die fruchtbarste unserer heutigen Traditionen: unsere Sprache, übernimmt, kann nicht und mag es auch tausendfach wollen, ohne Tradition leben. Jener Moment, wo sich die in der Sprache gelagerte Macht entfalten wird, wo das „Gesprochene“ der Inhalt der Sprache, wieder Gestalt annehmen wird, wird jene heilige Tradition wieder als entscheidendes Zeichen vor unser Volk stellen, vor dem es nur die Wahl haben wird: sich zu beugen oder unterzugehen. Gott wird in einer Sprache, in der er tausendfach in unser Leben zurückbeschworen wird, nicht stumm bleiben. Diese unausbleibliche Revolution der Sprache aber, in der die Stimme vernommen wird, ist der einzige Gegenstand, von dem in diesem Lande nicht gesprochen wird, denn die, die die hebräische Sprache zum Leben wieder aufriefen, glaubten nicht an das Gericht, das sie damit über uns beschworen. Möge uns dann nicht der Leichtsinn, der uns auf diesem apokalyptischen Weg geleitet, zum Verderb werden.
Jerusalem, den 7. Teweth 5687 (26. Dezember 1926) Gerhard Scholem
Quelle: M. Brocke, Franz Rosenzweig und Gerhard Gershom Scholem, in: W. Grab/J.H. Schoeps (Hrsg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart-Bonn 1986, S. 127-152, hier 148-150.