
In seinem Buch Gott sucht den Menschen (God in Search of Man. A Philosophy of Judaism. Farrar, Straus & Giroux, New York 1955) preist Abraham Joshua Heschel die Bibel mit folgenden Worten:
Die Allmacht Gottes ist nicht immer wahrnehmbar, aber die Allmacht der Bibel ist das große Wunder der Geschichte. Wie Gott wird auch diese Bibel oft mißbraucht und von unsauberen Geistern verdreht. Aber ihre Widerstandskraft gegen die boshaften Angriffe ist grenzenlos. Ihre Kraft und Wahrhaftigkeit ist unter dem Rost und den Schlägen von Streit und Dogma aus zwei Jahrtausenden sichtbar; trotz aller Theologie verblaßt sie nicht, noch bricht sie unter dem Mißbrauch zusammen. Die Bibel ist die ewige Bewegung des Geistes, ein Meer an Bedeutung, dessen Wogen an dem jähen und steilen Felsufer menschlicher Schwäche emporbranden und dessen Echo bis in die Ausweglosigkeit menschlichen Kampfes mit der Verzweiflung hineindringt.
Der Mensch kann keinen traurigeren Beweis für seine eigene Unempfänglichkeit und Stumpfheit liefern als seine Gefühllosigkeit gegenüber der Bibel. »Ein Schiff, das auf dem Fluß riesengroß aufragt, erscheint winzig, wenn es auf dem Ozean schwimmt.« Die Größe der Bibel wird offenkundiger, wenn man sie im Rahmen der Universalgeschichte studiert, und ihre Hoheit wächst, je vertrauter der Leser mit ihr wird. Unwiderlegbar, unzerstörbar, nie abgenutzt durch die Zeit wandert die Bibel durch die Zeitalter. Ohne Zögern schenkt sie sich allen Menschen, als ob sie jedermann auf Erden gehörte. Sie spricht in jeder Sprache und zu jedem Lebensalter. Sie befruchtet alle Künste, ohne mit ihnen zu konkurrieren. Wir alle leben von ihr, und sie bleibt unangetastet, unerschöpflich und ganz. In 3000 Jahren ist sie nicht um einen Tag gealtert. Sie ist ein unsterbliches Buch. Sie kann nicht der Vergessenheit anheimfallen. Ihre Kraft wird nicht geringer. Tatsächlich steht sie erst ganz am Anfang ihrer Wirksamkeit; die volle Bedeutung dessen, was sie sagt, ist kaum bis an die Schwelle unseres Bewußtseins gedrungen. Wie ein Ozean, auf dessen Grund zahllose Perlen schimmern, die darauf warten, daß man sie entdeckt, muß ihr Geist erst noch entfaltet werden. Obwohl ihre Worte einfach und ihre Sprechweise durchsichtig erscheint, tauchen unausgesetzt neue Bedeutungen und Hinweise auf, von denen man sich nichts träumen ließ. Mehr als 2000 Jahre des Lesens und Forschens haben ihren vollen Sinn noch nicht entfalten können. Noch heute ist es, als sei sie nie angerührt, nie gesehen worden, als hätten wir nicht einmal damit begonnen, sie zu lesen.
Ihr Geist ist mehr, als eine Generation zu ertragen vermöchte. Ihre Worte offenbaren mehr, als wir in uns aufnehmen können. Alles, was wir normalerweise zustande bringen, ist der Versuch, uns einige wenige Zeilen anzueignen, so daß unser Geist wenigstens mit einem Abschnitt eins wird.
Kostbar für Gott
»Alles Fleisch ist wie Gras und all seine Güte wie die Blume des Feldes. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit« (Jes 40,6-8).
Niemals zuvor und niemals seitdem ist ein solcher Anspruch erhoben worden. Und wer will daran zweifeln, daß der Anspruch sich als wahr erwiesen hat? Ist nicht das Wort, das zum Volk Israel gesprochen wurde, bis an alle Enden der Erde gedrungen und angenommen worden als Gottes Botschaft in tausend Sprachen? Warum sind die meisten Religionen vergangen, die nicht aus seinem Samen sproßten, während jede Generation den Geist neu begrüßt, der aus ihr aufwuchs? Wahrlich, unzählige Kulte, Staaten und Reiche sind wie Gras dahingewelkt; zu Millionen sind Bücher begraben; »aber das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit«. In Zeiten großer Krisen versagen alle – Priester, Philosophen, Naturwissenschaftler allein die Propheten behaupten sich. Weisheit, Lehre und Rat der Bibel stehen mit den höchsten geistigen Leistungen des Menschen nicht in Konflikt, wohl aber eilen sie unseren Verhaltensweisen weit voraus. Den Gedanken der Gleichheit aller Menschen z.B. führen wir dauernd im Mund, aber wie weit sind wir davon entfernt, ihn zu einer unwiderstehlichen Erkenntnis zu machen oder zu einer ehrlichen unauslöschlichen Überzeugung! Die Bibel ist nicht hinter der Zeit zurück; sie ist unseren Bestrebungen um Menschenalter voraus.
Wir sollten versuchen, uns einmal vorzustellen, die Bibel wäre im Wirbelsturm der Geschichte verlorengegangen und Abraham, Mose und Jesaja wären nur als vage Erinnerungen erhalten. Was würde in der Welt fehlen, wie stünde es um die Lage und den Glauben des Menschen, wenn die Bibel nicht erhalten wäre?
Sie ist der Urquell höchsten Strebens des abendländischen Menschen. Sie hat mehr menschliche Heiligkeit und mitleidende Liebe auf den Plan gerufen, als wir überhaupt begreifen können. Fast alles, was edel und gerecht ist, floß aus ihrem Geist. Eine Unzahl kostbarer Dinge im Leben des einzelnen und der Völker haben hier ihren Ursprung, empfingen von da ihre Gestalt. Die Bibel ist ein Buch, das nicht nur für den Menschen, sondern auch für Gott denkbar köstlich ist. Sie ist frei von jedem Hauch von Eigeninteresse, sei es einer Klasse oder eines Volkes; frei von jeglichem Ansehen der Person, sei es nun Mose, der größte der Propheten, sei es David, der am meisten verehrte König; unbefangen ist sie und ohne falsche Ergebenheit irgendeiner Institution gegenüber, sei es der Staat Israel oder der Tempel in Jerusalem. Sie hat nicht die Absicht, eine Geschichtsdarstellung zu geben, sie will vielmehr von der Begegnung Gottes mit dem Menschen auf der Ebene des konkreten Lebens berichten. Unvergleichlich wichtiger als alle Schönheit und Weisheit, die sie unserem Leben schenkt, ist die Weise, in der sie dem Menschen das Verständnis für Gottes Willen erschließt und ihm zeigt, daß Heiligkeit durch Gerechtigkeit, durch Einfalt der Seele und durch die rechte Wahl erlangt wird. Vor allem aber verkündet sie unermüdlich, daß Gottesdienst ohne Gerechtigkeit gegen Menschen Götzendienst ist, und sie macht uns klar, daß ebenso, wie Gott das Problem des Menschen ist, so der Mensch das Problem Gottes.
Heiligkeit in Worten
Die Bibel ist Heiligkeit in Worten. Für den Menschen unserer Tage ist nichts so vertraut und so abgegriffen als Worte. Sie sind von allen Dingen das Billigste, das am meisten Mißbrauchte und am geringsten Geachtete. Sie sind Gegenstand ständiger Erniedrigung. Wir alle leben in ihnen, fühlen in ihnen, denken in ihnen. Weil wir aber ihre Würde, ihre Macht und ihr Gewicht nicht mehr respektieren, werden sie verwahrlost, flüchtig – eine Handvoll Staub. Wenn wir vor der Bibel stehen, deren Worte wie Wohnungen sind, aus Felsgestein gebaut, dann können wir die Tür nicht finden.
Mancher mag sich fragen: Warum wurde uns Gottes Licht in der Gestalt der Sprache gegeben? Wie soll man verstehen, daß das Göttliche in so zerbrechlichen Gefäßen wie Konsonanten und Vokalen enthalten sein soll? Diese Frage verrät die Sünde unserer Zeit: Wir schätzen das Medium gering, das die Lichtwellen des Geistes trägt. Was sonst in aller Welt würde Menschen über die Entfernung von Raum und Zeit zueinanderführen können? Alle irdischen Dinge sterben, nur Worte sterben nie. Sie haben so wenig Materie und so viel Bedeutung.
Die Bibel handelt nicht von der Gottheit, sondern von der Menschheit. Wenn wir mit Menschen über Menschendinge sprechen, in welcher Sprache sollte man reden, wenn nicht in der Sprache des Menschen? Und doch ist es, als habe Gott diesen hebräischen Wörtern Seine Macht eingehaucht, und die Wörter wurden zu einer stromführenden Leitung, aufgeladen mit Seinem Geist. Bis zum heutigen Tag sind sie Bindestriche zwischen Himmel und Erde.
Welches andere Medium hätte man als Träger des Göttlichen nehmen sollen? Bilder, auf den Mond gemalt? Statuen, in die Rocky Mountains gemeißelt? Was stimmt denn nicht mit der menschlichen Ahnenreihe des biblischen Wortschatzes?
Wäre die Bibel ein Tempel, der an Hoheit und Glanz der großartigen Einfachheit ihrer gegenwärtigen Gestalt gleich käme – die meisten Menschen wären von diesem Zeichen göttlicher Würde überwältigt worden. Aber der Mensch hätte Gottes Werk mehr verehrt als Gottes Willen – und genau das wollte die Bibel verhindern.
Geradeso, wie es unmöglich ist, Gott ohne die Welt zu erfassen, so ist es unmöglich, Seinen Willen ohne die Bibel zu erfassen.
Wenn Gott lebt, dann ist die Bibel Seine Stimme. Nichts anderes ist so würdig, als Offenbarung Seines Willens zu gelten. Es gibt keinen anderen Spiegel auf der Welt, der Seinen Willen und Seine Führung so untrüglich widerspiegelt. Wenn der Glaube an die Immanenz Gottes in der Natur verständlich ist, dann ist der Glaube an die Immanenz Gottes in der Bibel zwingend.