Reinhold Schneider „Die Kranken besuchen“ von 1957: „Als Bote des Arztes der Welt, als der Wartende am Teiche in Jerusalem hat der Kranke hier nicht mehr viel zu sagen“

Krankensaal
Krankensaal des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder in München Mitte 1930er Jahre (© Krankenhaus Barmherzige Brüder München und Provinzialat des Ordens der Barmherzigen Brüder)

Die Kranken besuchen (1957)

Von Reinhold Schneider

Die Kranken besuchen, das heißt: eine echte Beziehung zur Krankheit finden. Das ist keines­wegs leicht. Das Gebot geht von der Kirche aus. Wir fragen also das Evangelium. Hier erscheint die Krankheit in verschiedenen Gestalten und Zusam­menhängen. Sie steht einmal in Beziehung zur Sünde. Denn es ist ja undenkbar, daß der Einzige ohne Sünde, daß der Er­löser jemals krank gewesen sei: das ist eine Vorstellung, die sich mit seinem Bilde nicht verträgt. So sagt er dem Geheilten: Sündige hinfort nicht mehr. Aber es gibt auch eine Krank­heit, von der Christus ausdrücklich sagt, daß weder der Kranke noch seine Eltern sie durch Sünde verschuldet haben; sie ist vielmehr verhängt, auf daß Gottes Herrlichkeit offenbar werde. Das haben schon die alten Völker geahnt. Im fünften Jahrhundert vor Christus prägte der griechische Arzt Hippokrates das Wort von der Heiligen Krankheit (morbus sacer). Er lehrte: »Alle Krankheiten sind göttlich und menschlich, und gegen keine ist man ratlos und wehrlos.« In der Krank­heit also begegnen sich Menschliches und Göttliches, Mensch und Gott. Die Kranken, die im Tempel des Asklepios in Epidauros in eine Art Heilschlaf versetzt wurden, glaubten, daß der Gott sie besuche und heile.

In Wahrheit nämlich ist Krankheit etwas Unbegreifliches. Wir können natürlich physiologi­sche oder, wenn wir das wol­len, ethische Ursachen feststellen, aber das sagt doch nicht alles. Der Mensch ist wohl für den Tod geboren, den Über­gang, aber doch nicht für die Krankheit. Mit der Erkrankung also ereignet sich in verschiedenen Graden etwas Geheimnis­volles. Ein Rätsel ist in jeder Krankheit beschlossen. Das ver­leiht dem Kranken eine Art Würde. Das Krankenzimmer ist ein geweihter Ort, wie viel mehr noch als in der Antike in der christlichen Welt. Krankheit und Christentum sind überhaupt nicht voneinander zu trennen. Denn die Welt ist eben krank, und Christus ist der Arzt; die unsagbaren physischen Leiden der Heiligen, etwa der Teresa von Avila und der Schwestern, von denen sie Furchtbarstes berichtet, der Birgitta von Schwe­den, des Johannes vom Kreuz, der Theresia von Lisieux ste­hen in einer so tiefen Beziehung zu Existenz und Auftrag, daß sie gar nicht weggedacht werden können. Die Krank­heiten, denen die Heimgesuchten sich fügen, sind verhüllte Engel, die sie von Stufe zu Stufe tragen. Oder Kranksein heißt ein­fach: auf Christus warten, wie der Sieche an dem geheimnis­vollen Teiche zu Jerusalem, der vierzig Jahre lang lag und duldete, bis der Eine vorüberkam, der sich seiner erbarmte.

Der Besucher wird also eher vom Kranken etwas empfangen, als daß er ihm etwas bringen kann: ihn erwartet die Begeg­nung mit dem Geheimnis der Menschheit und Erlösung. Auch der Kranke, der nicht glaubt, kann sie vermitteln: er ist an­gerufen, er ist ein Zeichen. Unsere Gespräche, Blumensträuße und Bücher sind oft genug nur eine Plage, Ursache vieler Un­ruhe, das Papier raschelt; schon sucht die Schwester nach ei­ner Vase, die gefundene paßt nicht, abends müssen die Sträu­ße auf den Gang gestellt, morgens hereingeholt werden. So oft ver­ändern unsere Gaben die Atmosphäre, in die sich der Kranke mühsam hineingefunden hat. Sicherlich kann ein Strauß blauer Hyazinthen Freude machen, wie sie Ludwig Uhland alljähr­lich dem kranken Hölderlin in seinen Turm zu senden pflegte: Uhland wußte, es waren des Kranken Lieb­lingsblumen, und es war ja Frühling, einst Hölderlins schön­stes Fest. Wir müssen versuchen, vorauszufühlen, was will­kommen ist. Das ist schwer. Denn der Kranke liegt in seinem Geheimnis, und sein Verhältnis zur Freude ist ein andres als das der Gesunden. Schon daß er danken muß, kann ihn be­drücken. Unsere Tröstungen werden zur Qual, unsere Be­merkung, daß er wohl aussehe, nicht weniger: denn nur er weiß, was er leidet. Der stum­me Ausdruck unserer inneren Gegenwart kann sehr oft die einzig mögliche, die arme Gabe sein. Es kommen auch Stunden gänzlichen Versagens, die dunkelsten des Besuchers: in ge­schlos­sener Abteilung, hinter vergittertem Fenster, am blanken Tisch. Die Kranke mit ver­wirrtem Haar, abwesenden Blicks, tut immer dieselbe Frage, und die Antwort ist immer dieselbe: »Kommst du wieder« – »Gewiß«, und so durch eine Stunde oder durch zwei Stunden. Und dazwischen ein einziges Mal ein andres Wort: »Wie schön war heute nacht der Mond.« – Aber, er schien ja durchs Gitter. Und wie lange soll der Besucher nun bleiben? Und welche Fehler hat er gemacht?

Der Kranke hat seine eigene Psychologie, die wir von Fall zu Fall erspüren müßten. Ich bin durch moderne Krankenhäu­ser gegangen und habe die Klarheit der Architektur, die sinn­reiche Zweckmäßigkeit aller Einrichtungen bewundert: die breite Fensterwand ist eine einzige ver­stellbare Scheibe, Licht und Luft fluten herein. Wie sticht das ab vom Heiligen Geist-Spital in Lübeck oder dem Krankensaal des grandiosen portu­giesischen Barockklosters in Mafra, wo die Kranken im Däm­mer enger Kammern nebeneinander lagen! Aber sie waren nicht allein: die Kammern waren nach oben offen, und die­selbe Decke wölbte sich über ihnen. Die Kran­ken waren in einer Lebensgemeinschaft und zugleich Person in ihrem eige­nen Raum. Die portugiesischen Mönche hatten für ihre kran­ken Brüder die Wände mit blauen Fliesen ge­schmückt. Die Bilder erzählten die Geschichte eines Heiligen, die ja immer eine unergründli­che, eine unendliche Geschichte ist, Eingang der Gnade in eine Existenz. Auch in jahrelanger Krankheit deuten wir eine solche Geschichte nicht aus. Der Kranke war also niemals allein: er hatte eine Gestalt vor sich, die ihn an den Arzt der Welt erinnerte und mit ihm verband, und Glocken und Gesang, die Zeichen der geheiligten Zeiten, wehten durch seine Schmerzen und seine Erschöpfung, und das Däm­mer tat ihm wohl. Der Kranke will ja oft gar nicht in der Welt der Gesunden sein. Nun ist es wohl möglich, daß die Fülle des Lichts, die freie Luft als Wohltat empfunden wer­den und die Heilung fördern, daß namentlich der Genesende sie dankbar empfindet. Es gibt aber auch ein Leiden, das sich, wie das der Tiere, in den Schatten flüchten möchte. Das Licht tut weh – und weh tun die Blicke der Menschen, die allzu deutlich sehn. In Räumen, die mehrere Kranke aufgenommen haben, ist die Belichtung ein schweres Problem. Man soll ei­nem bestimmten Kranken sein Dunkel lassen; vielleicht leben tröstende Bilder darin auf, während er vor uns liegt als Opfer und Zeichen undurchschaubaren Waltens, vielleicht auch Op­fer einer höheren Form seiner Existenz, die sich auftun wird, wenn er seine Dunkelheit durchlitten hat. Gute Ratschläge, Berichte von angeblich parallelen Fällen – während es doch im Menschlichen so wenig Parallelen gibt wie in der Zeich­nung der Hand –, verletzen. Die Heimsuchung – der Besuch eines andern – hat ganz verschiedene Intensitä­ten. Aber von einem gewissen Grade an vermögen wir nichts. Dann sind die Kranken Existen­zen in einer Ordnung des Leidens, an die wir nicht rühren können.

Die Krankheit verbannt heute ins Krankenhaus, wo ja auch Geburt und Tod geschehen. Über seine Unentbehrlichkeit, seine Hilfsbereitschaft braucht kein Wort mehr gesagt zu werden. Als aber der Kranke von der Familie, inmitten ihres Lebens, respektiert wurde, in ihr seinen Raum hatte, war er gleichsam immer besucht. Heute wird er auf eine bestimmte Weise abge­fertigt; das Krankenhaus ist Autorität, die Familie hat keine Stimme mehr. Aufs höchste sind die Menschen zu bewundern und zu verehren, die in harter Selbstüberwindung in den Kran­kenhäusern behandeln, dienen und pflegen. Aber als Bote des Arztes der Welt, als der War­tende am Teiche in Jerusalem hat der Kranke hier nicht mehr viel zu sagen, wäh­rend er in der Familie so viel zu sagen hatte: denken wir nur an Pascal und seine Schwester. Jetzt aber wird es dem Kran­ken sehr schwer, seinen stellvertretenden Zusammenhang mit der Umwelt sich zu vergegenwärtigen. Ihm darin, wenn es möglich ist, zu helfen, ist eine wichtige Aufgabe. Viel­leicht kann ihm eine Geste, ein geflüstertes Wort sagen: Du bist da für uns und für Gott. Und morgen bin ich vielleicht an deiner Stelle.

Wie unerhört schwer hat es der Arzt, der so oft sieht, was er nicht sagen kann, zu übersehen scheint, was er beim ersten Blick erkennt, und für sein Schweigen oder seinen Zuspruch den Vorwurf des Irrtums hinnehmen muß! Er darf die Kraft [479] nicht verletzen, die vielleicht doch, wider die Hoffnung, noch in dem zerrütteten Körper wohnt. Er muß in jedem Falle ei­nen starken menschlichen Einsatz leisten, wenn er helfen soll. Verbindet sich dieses Mensch­lich-Energische nicht mit den Heilmitteln, unterstützt es sie nicht, so ist die Hoffnung auf Re­zepte und Anwendungen gering. Ringseis, der Münchner Arzt des vorigen Jahrhunderts, sah tiefer: er ging mit dem Kranken, ehe er die Behandlung aufnahm, zur Beichte und zum Sakra­ment. Denn es gibt keine Krankheit, die nicht in Beziehung zum Seelengeschick, zur gesam­ten inneren wie äu­ßeren Struktur des Menschen gekommen ist. Der Arzt ist also Kran­kenbe­sucher, nicht von Beruf, sondern von Berufung, wie es an höherer Stelle der Geistliche ist – sofern er heute noch eintreten darf. Der höchste Glücksfall wäre: daß Arzt und Geistli­cher sich verständen, in stillem Einverständnis ihre Wirkungsbereiche voneinander abgrenzten und bereit wären, je wie die Gewichte steigen oder fallen, einander die Führung zu überlassen.

Aber es ist Frühling, und vielleicht genügt es schon, die Fen­ster zu öffnen – wie oft wird der Kranke vergessen. Oder es gelingt nach ein paar Tagen, die Vögel ans Fenster zu locken: sie sind vielleicht die erfreulichsten Besucher. Noch immer denke ich an die Meisen, die sich nach Weihnachten des letz­ten, furchtbaren Kriegsjahres auf den Weihnachtsbaum setz­ten. Zu den liebenswertesten Krankenbesuchern gehören die Eichhörnchen, wie ja überhaupt die Tiere eine eigentümliche Beziehung zum leidenden Dasein haben, die viel zu selten vom Menschen gebührend angenommen und erwidert wird. Die Eichhörnchen trippeln durchs Fenster und an der Kante des Diwans entlang: sie setzen sich auf die Brust mit fragen­den Augen, lecken am Ohr, tippen mit der kleinen kalten Hand auf die Stirn, und auch der Buntspecht holt sich, vom Krankenzimmer angezogen, seine Nüsse und klopft sie auf dem Baume vor dem Fenster auf. Die Kreatur zieht den Aus­gewiesenen in den Lebenszusammenhang zurück. Und das tun [480] die Tannen mit ihrem Rauschen, und der Wind, der dem Frühling vorauseilt.

Vielleicht ist ein solcher Augenblick der tief geheimnisvolle, da der Schwebezustand zwi­schen Tod und Leben sich löst und die Genesung sich durchsetzt. Aus sich selbst allein kann der Kranke wohl nicht gesunden. Es bedarf des Hinzukommens einer bestimmten, nicht zu beschreibenden, nahezu überfeinen Kraft in einem ganz bestimmten Augenblick. Die Blüten war­ten auf den Wind, der sie leise aufrüttelt. Eine Kinderhand stößt das Pendel an. Etwas muß von außen kommen. Der Kranke wartet darauf. Und so manches Kranken Hoffnung ist es, daß nicht wir ihn besuchen, sondern unser Gebet, vor allem in der Nacht, den langen, langen Stun­den ohne Verhei­ßung. Sie sind wie ein Untersinken von Tiefe zu Tiefe. Und doch kann es der Kranke empfinden, daß wir den Arzt der Welt bitten, ihn zu besuchen.

Und dann kann es geschehen, daß Gottes Herrlichkeit an ihm offenbar wird. Die Welt ist nicht denkbar ohne die Stütze der leidenden Existenz, und auch das abstoßende, das unwürdige Lei­den kann eine solche Stütze sein. Wir verbergen uns die Abgründe menschlichen Jammers, wie wir ja auch den Tod der Tiere in den Schlachthöfen, ihr ahnungsvolles Grauen, die Schre­cken des Operationssaals und der Agonien eines jeden Tages und jeder Nacht unserem Be­wußtsein entziehen. Plötz­lich aber ist es, als öffne sich eine Falltür unter unseren Fü­ßen, und wir stürzen in die Welt erbarmungslosen Leidens hinab. Wie sehr wünschen wir dann, daß wir, die wir zu we­nig besucht haben, besucht werden, die Kreatur uns tröstet und Leid mit Leid vereint; daß eine hilfreiche Geistesmacht, vielleicht das Wort eines Weisen, eines Lei­denserfahreneren oder die Melodie eines Dichters, aus der sein Schicksal tönt, uns besuchen; daß ein Klang, ein Bild Unvergängliches uns vergegenwärtigt! Wie sehnen wir uns dann nach einem Flü­gelwehen, nach dem Vorübergang eines Gebets! Krankheit bedeutet Weisung auf den Arzt der Welt. Und die dieses Gebot der Barmherzigkeit befolgen, finden seinen Boten, selbst wenn dieser Bote nicht bekennt: sie treten in den Kreis welt­umfassender Liebe.

Quelle: Reinhold Schneider, Gesammelte Werke, Bd. 9: Das Unzerstörbare. Reli­giöse Schriften, Frankfurt a.M.: Insel, 21984, S. 474-481.

Hier der Text als pdf.

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