„Der Glaube des Petrus“ – Reinhold Schneiders Auslegung von Matthäus 14,22-33 von 1941 (als Anregung zur Predigt)

Roland Litzenberger - Herr, rette mich
Roland Peter Litzenburger – Herr, ich ertrinke (Tinte und Tusche, 1952)

Der Glaube des Petrus (1941)

Von Reinhold Schneider

»Und Petrus stieg aus dem Schiffe«
Mt. 14, 24-33; Mk. 6,47-51; Joh. 6,16-21.

Zu tief hat sich uns vielleicht das Bild des in den erregten Wogen des Sees von Genezareth versinkenden Apostels eingeprägt, als daß wir uns noch recht vergegenwärtigen könnten, welcher Mut und Glaube diesem Versinken vorausgegangen sind. Als die Jün­ger fast die ganze Nacht über vergeblich mit dem mächtigen Ge­genwind gekämpft hatten, und der Herr gegen Morgen, über die Wogen schreitend, sich dem Schiffe näherte, schrien sie auf vor Furcht in der Meinung, daß ein Geist auf sie zukomme. Und da Jesus sich zu erkennen gab, faßte sich Petrus ein Herz mit den Worten: »Herr, wenn Du es bist, so heiß mich über die Wasser zu Dir kommen«. Der Herr sagte: »Komm!« »Und Petrus stieg aus dem Schiffe und schritt über die Wasser auf Jesus zu«. Die Gestalt Petri ersteht aus den Evangelien mit einer besonderen Eindring­lichkeit: wir fühlen, wie ein unerschütterlicher Glaube in ihm wächst, ein Glaube, der so mächtig ist, daß Petrus der Mensch nur langsam diesem Glauben zu entspre­chen vermag. Freilich: erst nach dem Tode des Herrn scheint das Feuer über Petrus zu kom­men, das seine Zunge löst und ihn zum glühenden Einsatz und in den Tod treibt; bis ihn aber das Feuer erreicht, geht er einen schweren Weg, muß er in bitterer Reue seine Schwäche und Un­zulänglichkeit erfahren, und doch wächst während dieser Zeit der Glaube in ihm wie ein Fels, und der Herr erkennt diesen Felsen­grund seines Glaubens und vertraut in der großen Stunde auf der Straße nach Cäsarea Philippi diesem Felsengrund Sein Vermächt­nis an; eben weil dieses Vermächtnis nicht in den Händen eines ir­renden Menschen ruht, sondern in dem Glauben, der diesen gan­zen Menschen einmal ergreifen und umwandeln wird, ist es wohl bewahrt.

Einer der entscheidenden Augenblicke dieser inneren Ge­schichte des Apostels ist die Mor­genstunde auf dem sturmbeweg­ten See; Petrus spricht für die vom Schreck gebannten Jünger. Und welch ein Glaube an die Macht des Herrn gehörte zu der Bitte: »Herr, wenn Du es bist, so heiß mich über das Wasser kom­men …« Was heißt es anders als »Dein Wort wird gleich­sam eine Straße über die Wogen bauen, eine feste Straße, auf der ich sicher gehen kann.« Und da nun Jesus das einfache Wort spricht: »Komm!«, so geschieht das Größte: »Und Petrus stieg aus dem Schiffe …« Es ist, als ob der Herr und der Apostel allein wären, getrennt von­einander durch die Wogen; Petrus steht in der Macht des Herrn; die Gefährten, das Schiff kümmern ihn nicht mehr, auch die Gefahr und Mühe der Nacht sind von ihm abgefallen; es geht jetzt um etwas ganz anderes: um das Zeugnis, das er geben soll, das abzulegen er sich vielleicht schon lange gesehnt hat. Es geht um die letzte, die entscheidende Probe und Prü­fung. Gewiß will er nicht die Macht des Herrn erproben; er wollte erfahren, ob die wunder­bare Erscheinung der Herr sei, und er hat die Antwort vernommen mit dem Wort: »Komm«. Es ist der Herr. Und da sich Petrus vor Ihm weiß, so weiß er sich auch von Seiner Macht gehal­ten. Aber er will durch sein Tun seinen Glauben endlich bezeugen, schwerlich um der andern willen, die auf dem Schiff geblieben sind, sondern um Christi willen, um nun wirklich durch eine Tat, die nur der unbedingte Glaube vollbringen kann, hinüber zu Christus zu kom­men. Würde er zögern, so würde er Zweifel verra­ten. Aber wir können uns nicht denken, daß Petrus gezögert hat: er ist augenblicklich auf die hochgeschwellten Wogen getreten und auf Christus zugeschritten. Dies muß mit völliger Sicherheit geschehen sein, nicht in einer Art magischer, traumwandlerischer Sicherheit, sondern in einer über das Irdische erhobenen Wirk­lichkeit: in der Gegenwart Christi. Wie lange diese Sicherheit währte, wieviele Schritte Petrus getan, wissen wir nicht; es ist einer der wunderbaren, in der Vorstellung kaum mehr vollziehbaren Au­genblicke, die sich so oft zwischen den Worten der Heiligen Schrift öffnen. Wir wagen kaum die Augen zu erheben, wir wagen es nicht, uns ein Bild zu machen; wir fühlen nur, im Sturm und Wogenschlag geschieht etwas Stilles, Ungeheures: Petrus schreitet über die Wellen. Petrus ist endlich vor dem Herrn, was er sein möchte: der unbedingt Glau­bende und aus dem Glauben Handelnde, der sein Leben an seinen Glauben an sein Zeugnis setzt. Petrus wird getra­gen von der Kraft des Herrn, an den er glaubt; er geht im Lichte Chri­sti. Aber da scheint er plötzlich des Sturmes wieder inne zu werden; doch der Sturm verwirrt ihn nicht – wie hätte er den fort­tobenden Sturm nicht spüren sollen, da er doch nicht als Träu­mer handelte! Das Zeugnis, das er ablegen wollte, konnte allein im An­gesichte des Windes und der Wellen, im vollen Bewußtsein der zu überwindenden Gefahr erbracht wer­den. Ver­wirren konnte ihn nicht die Wut der Elemente, sondern allein die Furcht. Aber die Furcht erlangt nur Gewalt, wenn der Glaube wankt; wenn das Band der Liebe zum Herrn zerreißt und sich die Liebe wieder festklam­mert am Ich. So »verspürte« er den mächtigen Wind in seinem ver­sagenden Herzen. Und sofort beginnt er zu sinken.

Wunderbar, daß er in diesem Augenblick, da er den Glauben an die tragende Macht des Herrn zu verlieren scheint, doch noch das Wort ruft: »Herr, rette mich!« Wie sollte der Herr retten können, wenn Er nicht mächtig wäre? Und der Herr steht vor ihm auf den Wellen, sichtbar erhoben über das Gesetz der Elemente; es ist keine Veränderung geschehen, nur die Glau­benskraft des Herzens hat versagt. Aber in diesem von Furcht befallenen Herzen war doch schon der Glaube an die Macht des Herrn auf unerschütter­liche Weise gegründet, und mit dieser letzten Kraft des Glaubens, die in größere Tiefe reicht als seine Angst, erfleht er Ret­tung. Der Herr kann retten; vor dem Versinkenden steht kein Traumbild, sondern Gottes Sohn, der über die Mächte der Erde gebieten kann. Und der Herr zieht ihn empor: »Kleingläu­biger, was zwei­felst du?« –

So ist der Glaube Petri wieder klein geworden, und es ist doch ein großer, ein vielleicht unver­gleichlicher Glaube gewesen, mit dem er aus dem Schiff stieg; es war eine Handlung aus jener Unbe­dingtheit, die der Anfang des Martyriums ist. Und wenn wir nun selbst im Schiffe wären im Sturm und zum anderen Ufer strebten, ohne es zu erreichen, und der Herr erschiene auf den Wellen, wür­den wir dann aus dem Schiffe steigen wie Petrus? Es müßte ja leichter für uns sein als für ihn, weil wir seine Geschichte kennen und wir besser wissen, als er damals wissen konnte, was der Herr erwartet und wie Er uns beistehen wird. Und vielleicht würden diejeni­gen, die mit uns im Schiffe sind, die Erscheinung wieder für einen Geist halten wie die Jün­ger, und von uns würde eine Tat ver­langt, die unseren Glauben an die Macht des Herrn be­zeugt. Un­ser Leben strebt vom Ufer unseres Ausgangs zum Ufer des Todes über die Ge­schichte hinweg, die aufgewühlt wird vom Sturm. Sind wir bereit, auf die Wellen zu treten, wenn die heilige Gestalt über ihnen erscheint? Wenn wir uns nur ein wenig besinnen, so wis­sen wir: darum ward dem Sturme die Macht gegeben, damit wir ein Zeugnis ablegen. Alles ist in des Herrn Hand, Sturm und Wellen, das Schiff und die Gefährten und wir. Nicht darum geht es, daß das Schiff gerettet wird; – wir können es dem Herrn anver­trauen, Er kann es retten zu einer jeden Stunde, und es wäre doch eine törichte Antwort am Tage des Gerichtes, daß wir für das Schiff hätten sorgen müssen und daß wir es nicht verlassen konn­ten. Es geht vielmehr um das Zwiegespräch, das einst Petrus mit Christus geführt hat, um des Apostels gläubige Frage und um das einfache, mächtige Wort »Komm!«

Wer hätte dieses Wort nicht gehört? Darum steht die Gestalt vor uns im Morgendämmer, daß wir ihrem Worte fester ver­trauen als einer Brücke und ohne den Sturm zu fürchten hinaus­schreiten auf die Wellen der empörten Zeit. Christus kann seine Macht jeden Tag offenbaren und dem Sturme gebieten; aber diese Seine Macht bleibt noch verborgen in ihrer Gegenwart. Offenbar soll eine andere Macht werden: die Macht unseres Glaubens an Ihn. Es genügt nicht, daß wir in eine Kammer des Schiffes hin­untersteigen und beten, oder daß wir es offen oder heimlich auf dem Verdeck tun. Wir sollen das Schiff verlassen; wir sollen hin­aus. Wir sollen zeigen, daß eine unerschütterliche Brücke über die Wellen führt. Wohin wollen wir denn, an welches Ufer? Nicht die Ufer sollen wir suchen, sondern den Herrn, der mitten in der Zeit steht. Das Ziel ist immer da; es ist das Wagnis. Das Glück, das Pe­trus empfunden hat, als er über die Tiefen schritt, steht uns offen. Wieviel leichter als er können wir es erringen, die wir vom Aufer­standenen wissen, von Christi Sieg über den Tod! Und wenn un­ser Herz doch versagen würde im Tosen des Sturms und vor den Abgründen zu unseren Füßen, und wir im Versinken das einzige Wort rufen könnten: »Herr, rette uns«, wäre das nicht doch bes­ser, als auf dem Schiffe zu bleiben? Denn auf dieser Überfahrt wird ein jeder einzelne angerufen und ein jeder soll, sobald er das Wort vernimmt, hinaustreten auf die Wellen. Diese Freiheit ist unser; alles andere ist Gottes, der Seinen Sieg verheißen hat. Jahr­tausende lang treiben Schiffe vorüber, tobt der Sturm; Jahrtau­sende lang steht der Herr auf den Wellen. So sind die Mäch­tigen mit ihren Kronen und Zeichen, so die Völker vorübergefahren. Wir wissen nicht, was mit denen geschah, die dem Ruf nicht folg­ten, an welches Ufer sie getrieben wurden und was dort mit ihnen geschah, oder ob sie schon untergingen auf dem Wege, dem Ret­ter fern und als Schiffbrüchige vielleicht doch noch um Hilfe ru­fend. Wir wissen nur, daß in dem Gehorsam gegen das Gebot, auf die Wellen zu treten, der Sinn der Zeiten und des Lebens beschlos­sen ist. Wir wissen von den Schicksalen, die auf unserem Wege ge­schahen, nur wenig; wir wissen aber: jetzt ist unsere Stunde.

Noch einmal sah Petrus vom Schiffe aus die Gestalt des Herrn. Es war nach Christi Auferste­hung in der Gegend von Tiberias (Joh. 21, 2-17); vergeblich hatten die Jünger die Netze aus­gewor­fen: »Und wie dann der Morgen graute, stand Jesus am Ufer; die Jünger aber erkannten ihn nicht«. Erst als Christus ihnen die Stelle gewiesen hatte, wo sie die Netze auswerfen soll­ten, und sie dann das Netz kaum emporziehen konnten, sprach Jesu Lieblings­jünger zu Petrus: »Es ist der Herr. Und Simon Petrus, wie er das gehört, nahm und gürtete gleich sein Ober­kleid, das er abgelegt hatte, und warf sich in den See.« Nun bedurfte es keines Wortes mehr, um den Apostel über das Wasser zu rufen: der Herr war da, und Petrus mußte zu Ihm. Wieder ließ er die Gefährten zurück, die das Schiff an das nahe Ufer steuerten und das übervolle Netz nachschleppten; was Petrus mit dem Herrn gesprochen in der kurzen Weile, die er durch sei­nen Gehorsam gewonnen, wissen wir nicht. Aber wir dürfen es vielleicht ahnen; die letzte, unbesieg­bare Sicherheit mag sich nun in Petrus gebildet haben; er sollte fortan nicht mehr Fischer sein, sondern Hirte und als Hirte der Herde Christi sein Schicksal finden. Denn nach dem geheimnis­vollen Mahl, das die Jünger an einem vorgefundenen Kohlenfeuer am Seeufer einnahmen, fragte der Herr den Apostel dreimal, ob er Ihn liebe; dreimal beteuerte Petrus sei­ne Liebe, und dreimal emp­fing er den Auftrag, die Schafe seines Herrn zu weiden. Dann aber kündigte ihm Christus das Los vollkommenen Gehorsams an: »Da du jung warst, gürtetest du dich selber und gingst, wohin du wolltest. Doch bist du alt geworden, wirst du die Hände aus­brei­ten, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst. – Folge mir!«

Über dem See im Lande Galiläa erschien eine große Ferne; der Herr wies in sie hinaus, und es ist uns, als ob sich in diesem Au­genblick das letzte für Petrus entschieden habe: er war aus dem Schiffe gestiegen um des Herrn willen; er sollte diesen See und sein Handwerk, die Sei­nen und sein Land verlassen und sich rü­sten zu einer Wanderschaft, deren Ziel er nicht kann­te. Immer wieder würde er auf seinem Wege die Gestalt des Herrn sehen, würde er, von seiner glühenden Liebe hingerissen, dem Herrn ent­gegeneilen. Wie er an jenem stürmischen Morgen über die Wellen schritt, so würde er durch die Welt gehen müssen, mit ausgebrei­teten Händen, den Blick auf den Herrn gerichtet, gerufen von dem einen schon längst gesprochenen Wort, das Brücken baute über die Meere und Straßen durch die Lande und ihre Völker hin durch; von dem Worte, das die Kerker öffnete, die Wächter blen­dete, die Hände der Mächtigen lähmte. Wie der See ihn einst ge­tragen, so würde die Welt ihn tragen, die noch viel abgrün­diger war als der See und von noch gefährlicheren Stürmen aufgewühlt, das Unmögliche wür­de möglich mit einem jeden Schritte, den er tun würde, denn ihn sollte die Kraft des Herrn tragen, an den er glaubte, und an den ihn seine Liebe band.

So wurde des Apostels Wanderschaft durch die Welt und die Zeit zu keinem geringeren Wun­der als sein Schreiten auf den Wel­len, zu keinem schwächeren Zeugnis seines Glaubens und zu­gleich zum Zeugnis der Kraft dessen, der ihn gesandt. Sein ganzes Wirken muß im Ange­sichte Christi geschehen sein, getrieben von dem Glaubensmut, der ihn bewog, auf den ersten Ruf des Herrn seine Netze zu lassen (Mk. 1,16-18) und dann zweimal vor Christi Augen aus dem Schiffe zu steigen. Und als der Apostel, wie die Überlieferung erzählt, aus der Ewigen Stadt hinauswanderte und der Herr ihm entgegenging, sich noch einmal kreuzigen zu lassen, da muß Petrus erkannt haben, daß der Herr noch einmal über der Tiefe erschienen war: über dem Tode, den er besiegt. Der Apostel kehrte zurück und schritt durch den Tod dem Herrn entgegen. Zum letzten Male schwang er sich aus dem Schiffe. Vielleicht aber ist dies ein Geheimnis des christlichen Lebens, daß wir immer wie­der aus dem Schiffe gerufen werden wie der Apostel, und daß wir dort schreiten sollen, wo kein Weg zu sein scheint. Denn die Welt baut keine Straßen und Brücken für Christus, aber Er baut sie. In dem Augenblick, da Sein Wort unser Herz entzündet und uns die Gewißheit Seiner Kraft überkommt, wölbt sich ein Brückenbogen über den Abgrund zu Ihm hin. Er ist immer da und immer er­reichbar. Aber der Apostel möge für uns bitten, daß kein Schiff uns gefangenhalte und kein Sturm uns schre­cke; daß wir vielmehr die Kraft finden, uns hinauszuschwingen, wenn der Herr im Mor­gen­dämmer über dem empörten Abgrund steht und uns ruft!

Quelle: Reinhold Schneider, Gesammelte Werke, Bd. 9: Das Unzerstörbare. Religiöse Schriften, Frankfurt a.M.: Insel, 1978, S. 89-96.

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