
Als Kurt Ihlenfeld 1939 im Hinblick auf eine Revision der Luther-Bibel von 1912 den Band „Das Buch der Christenheit. Betrachtungen zur Bibel“ herausgab, verfasste Joseph Wittig dazu den Beitrag „Die Bibel als radikale Wirklichkeit“. Darin schreibt er:
Es gab ja eine Zeit, in der ich nach jedem Stücklein bedruckten Papiers haschte, das der Wind über die Felder trieb. Denn die paar Bücher, die wir daheim hatten, waren schon alle viele Male gelesen, und der Geist sehnte sich nach immer neuen Erkenntnissen. Da waren auch nur immer einige abgerissene Sätze oder einzelne Worte ohne Zusammenhang, aber sie weckten eine unsagbar selige Lust, sie zu ganzen Geschichten und Philosophien zu ergänzen.
Unterdessen hat sich ja die Zahl meiner Bücher vermehrt, und mein Lesestoff ist schier unerschöpflich, aber ich lebe immer noch viel von zugewehten Worten. »Die radikale Wirklichkeit«, das war das Wort, das mir immer noch fehlte. Ich spüre stark die Schande, die aus Goethes Wort über mich kommt: »denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.« Man möge aber bedenken, daß dieses Wort aus dem Munde Mephistos kommt, also keine Goethe-Wahrheit, sondern teuflischer Hohn ist. Begriff und Wort haben ein ganz anderes Verhältnis zueinander. »Im Anfange war das Wort«, und dann kam noch lange nicht der Begriff, sondern erst die Schöpfung, die Wirklichkeit, und erst sehr spät kamen die Begriffe. Ich bin froh, daß ich nicht weiß, welchen Begriff die Philosophen mit dem Wort von der radikalen Wirklichkeit verbinden. Für mich ist es eine noch ungefreite Braut, und ich verbinde es mit dem Begriff, für den ich früher das Wort von der höheren Wirklichkeit gewählt habe. »Höher«, das möchte ein jeder Geck; »Radikal«, das fordert schon in seinem Klang ein starkes und ehrliches Herz.
»Höhere Wirklichkeit« hat noch etwas Verlockendes, beinahe Süßes in sich; »Radikale Wirklichkeit« dagegen etwas Forderndes und Strenges; man hat die Empfindung, als sei sie nur etwas für radikale Kerle, und es ist ja auch so. Dabei will das Wort nur sagen, daß es eine Wirklichkeit im Wurzelbereich des Lebens gibt, denn Radix heißt nichts anderes als Wurzel. Das Getreidefeld hat, wenn die Herbstsaat gesät ist und die Samenkörnlein die ersten Würzelchen in den Ackerboden senken, eine ganz andere Wirklichkeit als im Frühjahr, wenn die Saat in wucherndes Grün emporwächst, als im Sommer, wenn sie in Halm, Ähre und Blüte steht, als zur Erntezeit, wenn die neuen Körner reif sind und alles golden ist. Viele Wirklichkeiten, aber alle gehen zurück auf die erste. Die Wurzel hält bis zuletzt aus. Selbst wenn sie der reifenden Ähre keine Nahrung mehr aus dem Erdboden zu übermitteln braucht, hält sie den Halm noch fest, damit sich die Ähre vollende in der Sonnenglut.
Radikale Wirklichkeit ist eine unsichtbare Wirklichkeit. Wurzeln scheuen die Sicht; es gibt nur wenig Dinge, deren Wurzeln aus dem Erdreich an das Tageslicht emporragen. Aber darum ist die radikale Wirklichkeit keine ideale, nur dem Denken zugängliche Wirklichkeit. Man braucht ja nur zu graben, da kann man sie sogar greifen, sogar sehen. Aber sie ist nicht zum Gesehenwerden da; sie hat keine eigentliche Schönheit; nur zufällig und ausnahmsweise hat das Wurzelnetz manchmal schöne Linien. Jedenfalls kein Vergleich mit den manchmal geradezu betörenden Schönheiten der nachfolgenden Wirklichkeiten, zum Beispiel der einer blühenden Wiese oder eines wogenden Kornfeldes. Sie läßt sich darum auch gar nicht malen und nicht als Theaterkulisse gebrauchen, während alle anderen Wirklichkeiten dazu sehr geeignet sind und wirklich auch manchmal reine Vorspiegelungen sind. Es ist nun sonderbar, daß die radikale Wirklichkeit den Menschen ganz und gar aus dem Gedächtnis kommt und daß sogar der kluge, verständige Mensch geneigt ist, nur an die Wirklichkeit zu glauben, in der er gerade lebt, und daß er sogar meint, daß sie in sich selber wurzele, sich selber trage und ihren Sinn ganz in sich habe oder, weil selber sinnlos, alles als sinnlos erweise; daß er immer nach anderen Gründen sucht für die allgemeine manisch-depressive Erkrankung des Menschengeschlechtes.
Mich selber weckte das Wort von der radikalen Wirklichkeit wie aus einem bösen Traum. Ich fand mich endlich wieder in meinem Bette, in meiner Heimat, auf festem Grund und Boden. Wem wäre die gegenwärtige Wirklichkeit nicht oft wie ein böser Traum, wie eine verwirrende Vorspiegelung, wie ein abrollender Film, nach dessen Schlußbild er Mühe hat, die Menschen auf der Straße, die dahersausenden Autos für wesentlich andere Wirklichkeiten zu halten als die im Film, obwohl sie im Verhältnis zu den Wirklichkeiten im Film die radikale Wirklichkeit sind. Nach allem, was ich bisher mit der Bibel erlebt, was ich aus ihr wußte von der Erschaffung, Erlösung und Heiligung der Welt, was sie an mir getan, indem sie mich auf eine solide, ihrer Herkunft nach bekannte und vertrauenswürdige Erde setzte, mein Verhältnis zu dieser Erde regelte, das Kreuz vor mich hinstellte als Grundfigur meines menschlichen Lebens, einen Platz in der Gemeinde der Heiligen mir zuwies, war es mir nun klar, daß sie das Buch der radikalen Wirklichkeit ist, nicht das Buch einer höheren Wirklichkeit, nach der ich etwa streben mußte, sondern einer Wirklichkeit, in der ich wurzelte, mein ganzes körperliches und geistiges Dasein, und nicht nur meines, sondern auch das meiner Familie und meines Volkes.
Demzufolge muß mir die Bibel als das Buch erscheinen, ohne das niemand sich selbst verstehen kann. Nun ist es freilich gar nicht so sicher, wie man insgeheim annimmt; daß es dem Menschen gegeben ist, sich selbst zu verstehen. Wir kommen gewöhnlich mit einer Anzahl von Vorstellungen und Einbildungen aus, die wir uns selbst machen und die uns auch der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen, in der wir gerade leben. Die Abgründe von Rätselhaftigkeiten und Geheimnissen, aus denen wir kommen, in denen wir schreiten, in die wir versinken, sind uns meist so verdeckt, daß wir uns wenig um sie kümmern, zum Beispiel das unendlich Schreckhafte oder Beseligende, daß wir es mit Gott zu tun haben!
Ich bitte, diese sieben Worte noch einmal zu lesen und noch einmal, leise, laut, lauter! Ich bitte, sie aller Phrasenhaftigkeit zu entkleiden, auch aller Frömmelei, bis sie in ganz nackter Schreckhaftigkeit oder Seligkeit dastehen. Trifft es uns nicht wie ein Schlag, wie der Tod, was wir da erfahren? Wir sollen aber noch leben, darum verhüllt es sich selber wieder. Wir spüren aber, daß wir einen Augenblick lang in den Bereich der radikalen Wirklichkeit gekommen sind. Wir haben uns einen Augenblick lang selbst erkannt. Leben und Tod, nicht das eine für sich und nicht das andere für sich, sondern beide in ihrer Zusammengehörigkeit, gehören zu der radikalen Wirklichkeit.
In der Bibel spricht uns Gott an. Darum ist sie ein Buch auf Leben und Tod. Da sie Gottes Wort enthält, darf sie nur aus Gottes Händen entgegengenommen werden. Da man sie jetzt in jedem Buchladen zu kaufen kriegt, muß ihr der Giftzahn, der Mitgiftzahn ausgebrochen sein; es muß möglich geworden sein, sie ohne Gefahr zu haben und zu lesen; sie enthält Gottes Wort noch buchstabengemäß, aber nicht als Blitz und Schlag, Leben und Tod. Ich kann es verstehen, daß die mittelalterliche Kirche die Bibel, gefahrvoll, wie sie ohne kirchliche Erklärung ist, dem Volke vorenthielt und nur die Lesung kirchlich erklärter Bibeltexte gestattete. Diese Haltung sicherte der Bibel die Gefährlichkeit und den Charakter eines Buches der radikalen Wirklichkeit. Vielleicht tut [302] der Bibel eine Revision in dem Sinne am nötigsten, daß sie nicht mehr als leicht käufliches, gefahrlos lesbares Buch gilt, daß sie nicht wie jedes andere Buch gekauft und gelesen werden darf, sondern daß dazu eine besondere innere Erlaubnis und Gewährung Gottes notwendig ist.
Die Bibel steht nämlich in der Spannung zwischen Gesetz und Freiheit, genau in dem Punkt der Sehne, an dem der Pfeil angesetzt wird. Sie ist wohl das einzige Buch der Weltliteratur, in dem diese menschheitsgeschichtliche Spannung originär und nicht bloß doktrinär zum vollen Ausdruck kommt. Sie schreibt nicht bloß über das Pulver, sondern ist selbst Explosivstoff. In ihr schreitet die Menschheit den historischen Weg vom Gesetz zur Freiheit der Kinder Gottes, und mehr noch, wer sie angreift und liest, ist selber bald hineingerissen in diesen lebensgefährlichen Prozeß. Sie führt unbedingt zu dem Kreuz, an dem der Menschensohn gekreuzigt wird zum Tode; der Menschensohn, das ist nicht Jesus allein, sondern gerade du, der du nach der Bibel greifst und in ihr Mensch wirst. Als die deutschen Reformatoren die Bibel einem jeden aus dem Volke anvertrauten, muß eine Stunde gewesen sein wie jene, in der Jesus zu seinen Gesellen sagte: »Wer einen Beutel hat, nehme ihn, desgleichen auch die Tasche, und wer es nicht hat, der verkaufe seinen Rock und kaufe ein Schwert!« Nachher mußte er das von dem Schwert seines Petrus abgehauene Ohr des hohenpriesterlichen Knechtes Malchus heilen. Er kann ja allen Schaden wieder gut machen, auch den mit der Bibel.
Der Punkt, an dem die Bibel gekauft und gelesen werden kann, liegt wie beim Schwerte genau zwischen Verbot und Erlaubnis. Im Verbot muß man sich der Erlaubnis erinnern, in der Erlaubnis des Verbotes. Weder das Verbot ist absolut, noch die Erlaubnis; das Herz muß dazwischen zittern. […]
Die Bibel darf uns nicht die Sorge um die eigene Glaubwürdigkeit und nicht den Einsatz der eigenen Glaubwürdigkeit abnehmen oder abgewöhnen, besonders wenn wir das Evangelium der Welt zu verkündigen haben und nicht bloß einem Kreis frommer Bibelchristen, die aber auch froh und erquickt sind, wenn der Prediger einmal etwas auf Grund eigener Glaubwürdigkeit sagt. Das darf natürlich keine rein zeitungsartige Mitteilung und keine rein autobiographische Anekdote sein, sondern muß in jener radikalen Wirklichkeit wurzeln, in der alles mit dem biblischen Geschehen verwandt ist. Wir haben das Recht, uns auf die Bibel zu berufen, aber auch die Bibel hat das Recht, sich auf uns zu berufen. Wir müssen wahrnehmen und wahrmachen, was sie sagt. Wir sind für unsere Zeit ihre Zeugen. Was von dem, was sie sagt, können wir unter Eid nehmen? Wenn wir die Bibel revidieren, müssen wir uns auch von der Bibel revidieren lassen. Da wird es sich nicht nur um ein paar Varianten, Übersetzungsfehler, Unverständlichkeiten und Archaismen handeln!
Die Bibel ist das Buch von den Urgründen unseres Daseins in Ewigkeit und Einzeltag und darf nur als solches und muß als solches herausgegeben, umhegt und geschützt werden. Das Buch von den Urgründen, von dem, was wir nicht mehr sehen, nicht mehr erfahren, in dem wir aber doch wurzeln, aus dem es sich allein lohnt zu leben. In der Bibel spricht Gott zu den Menschen. Wenn Gott nicht zu uns spricht, so ist unser Leben sinnlos. Aber in unserer Wirklichkeit spricht Gott nicht zu uns; in unserer Wirklichkeit sendet er uns keine Boten. Unsere Wirklichkeit hat ein Gesicht, als ob überhaupt kein Gott da sei. Wenn wir diese Wirklichkeit nicht durchdringen und eine andere, wahrere Wirklichkeit sehen können, dann sind wir wahrhaftig ein trostlos armseliges Geschlecht. Wenigstens manchmal muß der Nebel unserer Wirklichkeit zerreißen und das Himmelsblau dahinter sichtbar werden. Das Himmelsblau dahinter ist die ewige, unendliche Bibel, die sich uns in die Hände legt als ein abgeschlossenes Buch. Himmelsblau über uns wird uns oft gezeigt und gepredigt; wir heben unsere Augen und Hände empor. Aber wir brauchen Himmelsblau unter uns und rings um uns, damit wir unsere wandernden Füße darauf setzen, damit wir darin handeln und leben können. Ist unsere Lebenssphäre wirklich eine andere als die der biblischen Personen? Haben wir wirklich keine Begegnung mit Gott, keine Begleitung seiner Engel? Vor dem Tun und mitten im Tun sieht es durchaus so aus. Aber hinter dem Tun, hinterher, zerreißt da nicht manchmal die Nebeldecke und wir sagen unwillkürlich: Das war ja wie in der Bibel? Wir können es ganz rationalistisch schildern, aber wir haben dabei die Empfindung, daß wir die Sprache der Bibel gebrauchen müßten, wenn wir es in seiner vollen Wahrheit schildern wollten. Vor der Wanderung und während der Wanderung nach der Mederstadt Rages war es Azarias, des großen Ananias’ Sohn, der den jungen Tobias begleitete, und er war es wirklich und leibhaftig, eben in der Wirklichkeit und Leibhaftigkeit, in der unser menschliches Zeugnis gilt; nach der Reise, hinterher, sagte er in der Wahrhaftigkeit der radikalen Wirklichkeit: »Ich bin der Engel Raphael, einer von den Sieben, die vor dem Herrn stehen.« Auf meiner ersten Reise nach Rom, in Bozen, vor meinem Eintritt in das welsche Land, war es Professor Hetzenauer, der damals führende Vertreter der konservativen Bibelkritik, der mich in viertägiger Fahrt nach Rom begleiten wollte, und wirklich wie ein Engel begleitet, sogar von einem schlimmen Fieberanfall errettet hat. Nachher suchte ich den Professor Hetzenauer in Rom. Der, den ich fand, behandelte mich wie einen ganz Fremden, als ob wir nicht vier Tage lang wie Vater und Sohn in innigstem Vertrauen zueinander durch die Städte und Heiligtümer Italiens gewandert wären. Ich weiß, daß mich ein Engel Gottes geleitet hat. Hinterher weiß ich es, obwohl ich schon mitten auf der Fahrt sehr überrascht war, als ich erfuhr, daß mein Begleiter den Engelnamen Michael trage.