„Gott will nicht, daß der Staat an seine Stelle tritt und sich zum Gott macht; das ist Majestätsbeleidigung“ – Martin Niemöller „Was schuldet der Christ dem Staat heute?“ (1957)

Leipzig, um den 17. Juni 1953
Sowjetische Panzer am 17. Juni 1953 vor dem Gebäude des Reichsgerichts in Leipzig (Bundesarchiv, B 285 Bild-14676)

Auf Einladung der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin (Ost) hielt Martin Niemöller am 24. Mai 1957 im Auditorium Maximum vor der Studentenschaft in Gegenwart folgende Vorlesung:

Was schuldet der Christ dem Staat heute?

Von Martin Niemöller

Das Verhalten des Christen zum Staat ist zwar ein ethisches Problem gewesen, solange es Christen gegeben hat, und es hat nie aufgehört, ein theologisches Thema zu sein, das im Rahmen der Systematik vorkommen mußte. Aber es hat dennoch durch ganze Perioden der Geschichte geruht, ohne die Gemüter zu bewegen, weil es in der Praxis und für die Praxis gelöst zu sein schien. Das Wort Jesu: „Gebt dem Caesar, was des Caesars ist, und Gott, was Gottes ist!“, galt als ein klarer Grundsatz, dessen Beachtung jeden Konflikt und damit auch jede wirkliche Unruhe schaffende Problematik überflüssig macht: Der Christ gibt dem Staat — dem Herrscher, der Obrigkeit —, was dieser ihm als seine Schuldigkeit in Rechnung stellt und erweist sich damit als der ideale Staatsbürger — oder Untertan; er gibt auf der anderen Seite Gott, was dieser von ihm verlangt; er erfüllt gewissenhaft seine christlichen wie seine staatlichen Verpflichtungen. —

Voraussetzung — zum mindesten stillschweigende Voraussetzung — für diese Auffassung war, daß zwischen den Zuständigkeiten beider Autoritäten eine klare und von beiden Autori­täten anerkannte Abgrenzung und Teilung der Kompetenzen statthabe und innegehalten werde. Der Christ meinte, sich darauf verlassen zu können, daß er selber jedenfalls sich auf diese — gleichsam prästabilierte — Harmonie verlassen könne und der Frage nach der Legi­timität der an ihn gestellten Anforderungen überhoben sei. Die biblische Rechtfertigung und Grundlage für diese Haltung wurde im 13. Kapitel des Römerbriefes gesehen: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet“. Damit wurde zugleich die Möglichkeit, daß ein Christ sich der Obrigkeit widersetzen könne, ausgeschlossen: „Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ord-[190]nung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen“. — Hier ist also jeder Gedanke an Umsturz, an Revolution ausgeschlossen: „Gehorsam ist des Christen Pflicht“; so sieht es von Gott her aus, so wie von der Obrigkeit her gesehen „Ruhe die erste Bürgerpflicht“ ist. —

Diese Grundeinstellung hat das kirchlich gebundene Christentum durch das ganze 19. Jahr­hundert in seinem praktischen Verhalten bestimmt und ihm einen ausgesprochen konservati­ven, monarchisch konservativen Zug gegeben, der sich gegen alle liberaldemokratischen wie auch sozialistischen Neuerungen, als mindestens christlich verdächtig, ablehnend zeigte. Das ging so weit, daß dort, wo liberale oder soziale Fortschritte mit demokratischen Mitteln erzielt wurden, der Christ — als Christ — versucht war, reaktionär darauf zu reagieren: Unruhe und Ungehorsam im Staat sind böse, sind „Sünde“, d. h. Verstöße gegen Gottes Ordnung und Sat­zung. — Diese Auffassung, die in meinen jungen Jahren bis zum ersten Weltkrieg das Christ» liehe Normalverhalten charakterisierte, ist noch nicht ganz ausgestorben, besonders im Unter­bewußtsein und Unbewußten spielt sie noch ihre Rolle und übt sie noch ihren Einfluß; aber man wird nicht mehr sagen dürfen, daß der Christ von heute von dieser Einstellung her die Frage beantwortet, was er dem Staat schulde!

Im letzten halben Jahrhundert sind Ereignisse und Entwicklungen eingetreten, die es auch dem theologisch ungebildeten und historisch ungelehrten Durchschnittschristen deutlich gemacht haben, daß die friedliche Gewaltenteilung zwischen Gott und Caesar kein Axiom ist, keine Grundtatsache, auf die unbedingter Verlaß wäre. — Römer 13 sagt zwar: „Die Gewal­tigen sind nicht den guten Werken, sondern den bösen zu fürchten. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, so wirst du Lob von ihr haben.“ Aber das ist offenbar keine allgemeine Wahrheit, sondern in Blick auf eine bestimmte Obrigkeit unter bestimmten Umständen — nämlich bei den Römern, als Paulus diesen Brief schrieb — gesagt; die Bibel kennt in Offenbarung 13 auch den Staat, der nicht etwa die Täter des Guten lobt, sondern gegen sie zu Felde zieht und — wie es dort heißt — „mit den Heiligen streitet“. — Der Staat ist eben nicht der Partner Gottes, der mit ihm in einer prästabi-[191]lierten Harmonie steht, die nicht in Unordnung geraten könnte. Sondern: Gott und Staat können mit dem, was sie als Schuldigkeit von uns Menschen und damit auch von Christen erwarten und fordern, in Gegen­satz zueinander geraten, wodurch der Christ in jene Situation gerät, von der Apostelgesch. 5 berichtet, als den Aposteln das obrigkeitliche Gebot gegeben wird, nicht mehr — wie es dort heißt — „zu lehren in diesem Namen“, d. h. nicht mehr Christus als den Retter und Herrn zu verkündigen. Petrus antwortet darauf — als Christ — mit dem bekannten Wort: „Man muß Gott mehr gehorchen denn den Menschen!“ — „Mehr“, das besagt, daß für den Christen Gott vor dem Staat rangiert, daß seine Autorität im Konflikts- oder Zweifelsfall den Vorrang hat. Somit wird die Schuldigkeit des Christen gegenüber dem Staat oder der Obrigkeit, d. h. der staatlichen Autorität durch seine Gehorsamspflicht gegenüber Gott limitiert, begrenzt und eingeschränkt. Wenn so, vom Christen her gesehen, der Staat als Obrigkeit oben ist, so ist diese Autorität doch nicht absolut; sie ist, von Gott her gesehen, nicht neben ihm, sondern unter ihm: „Sie ist Gottes Dienerin dir zugut“, heißt es in Römer 13. Und das bedeutet eben für den Konfliktsfall, daß Gott das entscheidende Wort redet. — Durch die Vorstellung von der „christlichen Obrigkeit“ ist dieser Tatbestand verdunkelt worden; und tatsächlich ist die Möglichkeit eines Konfliktes Jahrzehnte lang praktisch für das Gros der Christen gar nicht ins Blickfeld getreten. — Das änderte sich mit dem Dritten Reich schlagartig; denn da wurde die Frage akut — im Rückblick wird man sagen müssen: es ist eigentlich nicht verwunderlich, daß sich damals die Geister innerhalb der Christenheit voneinander schieden —: ist das, was der Staat von mir fordert, nicht sein gutes Recht, das er mir als meine Schuldigkeit abfordert, wenn er mir — dem Christen — den Umgang mit seinen — angeblichen — Feinden, mit den Juden verbietet! Bin ich ihm hier nicht Gehorsam schuldig, auch wenn ich persönlich anderer Meinung und Auffassung bin? — Und es dauerte geraume Zeit, bis die andere Frage klar her­austrat und gestellt wurde: Was verlangt denn Gott von mir, als dessen Dienerin und in dessen Auftrag doch der Staat sein Amt zu führen hat? — Der Staat nannte etwas anderes gut, als was Gott gut nannte; der Staat forderte [192] vom Christen ein Verhalten, das in strikten Gegensatz trat zu dem, was Gott ihm zu tun gebot. — Das Problem wurde plötzlich brennend, und es galt zu bekennen und zwar in ähnlicher Weise, wie diese Notwendigkeit einst für Pet­rus und seine Mitapostel zwingend geworden war. — Seither ist die Frage: „Was schuldet der Christ dem Staat heute?“ wieder eine echte Frage geworden; der Christ kommt an ihr nicht mehr leichten Kaufs vorbei, denn er weiß, die Antwort kann nicht lauten: „alles das, was der Staat von ihm fordert“. Vielleicht schuldet er ihm weniger, als von ihm gefordert wird; viel­leicht schuldet er ihm aber auch mehr; jedenfalls liegt die Antwort nicht einfach und ein für alle Mal bereit; sie will jeweils als eine echte Antwort auf eine echte Frage — in Verantwor­tung also — gesucht und gefunden und gegeben werden.

Der Christ denkt sehr hoch vom Staat als Obrigkeit, wenn er weiß: er steht im Dienste Gottes; er gehört nicht — gewissermaßen von Natur — zum antigöttlichen Bereich. Nicht der Teufel hat ihn erfunden und geschaffen, sondern Gott hat ihn gesetzt. Wir sagen nicht zu viel als Christen, wenn wir behaupten: der Staat ist eine göttliche Institution mit einem gottgebenen Auftrag, nämlich als Obrigkeit Rächer oder Rächerin zu sein „zur Strafe über den, der Böses tut“, wie es in Römer 13 heißt. — Damit ist auch schon angedeutet, daß der Christ vom Staat zugleich sehr nüchtern denkt. Der Staat ist kein Heiland, er hat von Gott nicht den Auftrag, die Menschen glücklich zu machen, ihr Elend in Seligkeit zu verwandeln, „herrliche Zeiten“ heraufzuführen. Das hat eine Staatsromantik uns glauben machen wollen, die anscheinend unausrottbar ist und die den Staat oder seine Repräsentanten mit einer geradezu religiösen Glorie umgab. Diese enthusiastische Verherrlichung des Staates gab es schon im Römischen Reich des Kaisers Augustus, und sie lebt fort durch die abendländische Geschichte bis auf diesen Tag; sie scheint unausrottbar zu sein; aber — christlich ist sie eben nicht! Der Christ weiß es anders, und in der Barmer Erklärung ist es in aller nüchternen Deutlichkeit ausge­sprochen: „Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Ein­sicht und menschlichen Vermögens unter Andro-[193]hung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“ — Die Sorge für Recht und Frieden ist demnach göttlicher Auftrag und d. h., daß in der Erfüllung dieses Auftrages die Würde des Staates beruht; um dieses Auftrages willen ist der Christ auch Gehorsam schuldig und zwar nicht aus Oppor­tunitätsgründen oder aus Angst vor Strafe, sondern — ich zitiere nochmals Römer 13 — „auch um des Gewissens willen“. — Solange und soweit der Staat sich dieser Aufgabe wid­met, hat er von Gott her einen Anspruch an seine „Bürger“ d. h. Bürger im weitesten Sinne: an alle, die im Schutze seines Rechts und seines Friedens leben, daß sie ihn um dieses Auf­trages willen ehren und in diesem Dienst fördern. — Recht und Frieden sind dabei aber keine abso­luten Größen: es gibt durchaus besseres und weniger gutes Recht; es gibt ein größeres oder auch geringeres Maß von Frieden im Bereich einer staatlichen Ordnung; die Loyalitäts­pflicht des Christen ist aber nicht abhängig von dem Maß des Rechts oder des Friedens, das der Staat ihm bietet; sie ist absolut, solange der Staat — eben nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens — für Recht und Frieden sorgt und seine Aufgabe wahrnimmt. Man darf hier wohl den Satz aufstellen, daß die schlechteste Obrigkeit immer noch besser ist als gar keine Obrigkeit; denn ohne ein Mindestmaß von einer auf Recht und Frieden stehen­den Ordnung wird in dieser „noch nicht erlösten Welt“ das Chaos entfesselt, in dem der hem­mungslose Kampf ums Dasein ausbrechen muß. Gottes Gnade und Geduld will aber dieses Chaos nicht und hat deshalb — zu seiner Verhinderung — die Obrigkeiten verord­net und gesetzt. Damit ist dann auch für den Christen die Verpflichtung zum Gehorsam, und zwar zum positiven Gehorsam gegenüber dem Staat, gegeben. Der Christ steht dem Staat nicht in einer unbeteiligten, kühlen Neutralität gegenüber, sondern — weil er um seinen gott­gegebenen Auftrag weiß — betet er für die staatliche Obrigkeit, daß sie ihren Auftrag recht erfülle, daß sie besser und völliger für Recht und Frieden sorge: „So ermahne ich nun — so heißt es im 1. Timotheusbrief —, daß man vor allen Dingen zuerst tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller [194] Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn solches ist gut und angenehm vor Gott unserm Heiland, welcher will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“. — Das ist Schuldigkeit des Christen an den Staat — auch an den Staat heute —, Schuldigkeit Nr. 1.

Die Christenheit und der Christ haben sich hier keine eigenmächtigen Grenzen zu ziehen, wie es überall da leicht geschieht, wo der Staat, in dem wir leben, oder die Obrigkeit, mit der wir es zu tun haben, von uns mit kritischen Augen und mit Vorbehalten angesehen werden. Ich erinnere mich heute doch mit einem Gefühl der Scham an eine Episode aus dem Dritten Reich, als ein führender Mann der Bekennenden Kirche gefragt wurde, wie er’s mit dem Gebet für den Führer hielte, und der darauf antwortete: ich bete in jedem Gottesdienst für ihn; denn im Vaterunser steht die Bitte „Erlöse uns von dem Übel!“ — Dann folgte freilich eine harte Schule, und der Christ heute sollte es gelernt haben, daß wir von jeder Obrigkeit, von keinem Staat mehr zu erwarten ein Recht haben, als wir von Gott für diesen Staat, für diese Obrigkeit ernstlich und ehrlich erbitten. Der Christ sollte diese Schuldigkeit Nr. 1 nicht als eine leichte Schuld betrachten, deren Einlösung ohne Not auf später verschoben werden könn­te. Dies Gebet für den Staat und seine Leitung entscheidet vielmehr darüber, ob der Christ das, was er dem Staat schuldet, überhaupt ernst nimmt, so ernst, wie Gott es von ihm erwartet. Es kommt sonst — zumal heute — zu dem Mißverständnis, als müsse sich der Staat erst ein­mal vor uns legitimieren, als müsse er uns erst Rechenschaft darüber legen, daß er auch recht­mäßig zustande gekommen sei, oder wie denn etwa seine Regierung zustandegekommen sei, damit wir uns ihm als verpflichtet betrachten und verhalten können. Paulus spricht aber nicht von einer „rechtmäßigen“ Obrigkeit, sondern von der Obrigkeit, die „Gewalt über uns hat“, und das war damals eine Obrigkeit, um deren Rechtmäßigkeit es recht mäßig bestellt war; und er hält ihr auch nicht ihre Sünden und Fehler vor — sie hat ja ihren Herrn und Richter; aber sie hat auch ihren Auftrag, und daran hängt unsere, der Christen, Gehorsamspflicht. — Diese Gehorsamspflicht ist absolut, soweit sie sich auf den göttlichen Auftrag, für Recht und Frie­den zu sorgen, bezieht; sie ist aber nicht total; es geht [195] hier nicht um einen blinden Gehorsam, nicht um eine unbedingte Loyalität. Und der Christ ist es dem Staat schuldig, ihn das wissen zu lassen, ihm das zu bezeugen, damit der Staat nicht ungewarnt auf Irrwege gerät. — Zur Schaffung und Aufrechterhaltung von Recht und Frieden ist dem Staat das Mittel der Macht gegeben: die Obrigkeit trägt „das Schwert“, wie Paulus es ausdrückt, und sie trägt das Schwert „nicht umsonst“, sondern damit sie „unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden sorgen“ soll. Damit ist aber auch die Möglichkeit des Mißbrauchs der Macht gegeben, d. h. der Staat kann seine legitime Macht für illegitime Zwecke anwenden, also etwa, statt für Recht und Frieden zu sorgen, zur Durchsetzung von Unrecht und zu Gewalttaten, die ihm mehr Macht verschaffen sollen; und er kann hierzu den Gehorsam seiner Bürger in Anspruch nehmen, wie das tausendfach in der Geschichte geschehen ist; im allge­meinen ist das von den Christen als Schicksal schweigend hingenommen worden, wenn es nicht gar ihre Billigung gefunden hat. Ich denke dabei auch an den Beginn des letzten Krie­ges, wo doch der Christ dem Staat eine Warnung schuldig gewesen wäre. Der Christ weiß es ja, daß der Staat mit solcher eigenmächtigen Überschreitung seines Auftrages sich seiner Würde begibt und sich selber zerstört, daß die Obrigkeit von Römer 13 sich auf solche Weise in das Ungeheuer von Offenbarung 13 verwandelt. Der Christ kann dem Staat das Zeugnis seines Ungehorsams schuldig sein und gerade dadurch dem Staat seine Loyalität bezeugen. — Es ist deutlich, wie heute alle Fragen, die mit Krieg und Kriegsdienst und Kriegswaffen zu tun haben, neu gestellt werden und neu gestellt werden müssen. Ist der Krieg, d. h. der Gebrauch der Macht zu anderen Zwecken als zur Schaffung von Recht und Frieden innerhalb des Machtbereichs des Staates, nämlich zur gewaltsamen Ausdehnung dieses Machtbereichs als mit dem Willen Gottes vereinbar zu rechtfertigen? Und wenn das nicht möglich ist, wie es vor neun Jahren auf der Weltkirchenversammlung von Amsterdam festgestellt wurde: was ist dann der Christ heute dem Staat, der ihn für solchen Kriegsdienst in Anspruch nehmen will, anderes schuldig als das klare Zeugnis seines Ungehorsams? Und können die modernen Massenvernichtungsmittel noch von [196] der kühnsten Phantasie als Machtmittel zur Auf­rechterhaltung oder Wiederherstellung von Recht und Frieden angesehen werden? Oder wenn das nicht mehr vorstellbar ist, hat dann der Christ heute nicht die Pflicht und Schuldigkeit, ein klares, lautes und unmißverständliches, d. h. aber ein bedingungsloses Nein dazu zu sprechen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob dieses Nein eine Wirkung und einen Erfolg verspricht? Ist er das nicht seinem Staat und seiner Obrigkeit schuldig, um zu warnen, solange es noch Zeit ist? — Und hat nicht der Christ — weil er Christ ist — den Staat daran zu erinnern, daß zwar auf der Gewalt kein Segen ruht, daß uns aber ein Weg gewiesen ist, wie Recht und Frie­den gemehrt und gesichert werden können, nämlich nicht durch Schürung von Neid und Haß und Feindschaft, sondern durch die Bereitschaft zum Verstehen und zur Verständigung und zum Helfen? — Wir Christen haben viel zu tun, um dem Staat heute in einer verfeindeten und absolut ratlosen Weltsituation den Dienst zu leisten, den wir ihm schuldig sind. — Es ist ja doch so, daß der heutige Staat — und ich meine hier wirklich jeden Staat, ob in Ost oder West — um seine eigene Existenz bangt und sorgt und daß er darüber das eigentliche Verständnis seiner Bestimmung und Aufgabe verloren hat. Und der Christ weiß doch darum und sollte jedenfalls darum wissen: Recht und Frieden — welcher Staat wollte das nicht? Aber daß auch Recht und Frieden letztlich kein Selbstzweck für die Erhaltung des Staates sind, das ist ja ver­sunken und vergessen. Recht und Frieden sollen der Erhaltung der Menschen dienen, und mit Recht und Frieden soll der Staat, soll die Obrigkeit den ihrer Sorge anvertrauten Menschen die Möglichkeit schaffen, beieinander und miteinander zu leben: „Sie — die Obrigkeit — ist Gottes Dienerin dir zugut.“ — Der Christ weiß darum, daß Gottes Auftrag an den Staat nicht auf Erhaltung des Staates, sondern auf die Erhaltung der Menschen zielt, daß nicht der Mensch für den Staat, daß nicht der Mensch für Recht und Frieden, sondern daß Recht und Frieden, daß der Staat um des Menschen, um der Menschen willen da ist und da zu sein hat. Und das ist ja dem heutigen Staat durch- aus nicht mehr klar oder bewußt; und der Christ hat daran zu erinnern und darauf aufmerksam zu machen, daß für Gott — ganz anders als der heutige Staat das sehen will und [197] kann — der Mensch mehr ist, wichtiger ist als alle Reiche der Welt: er will, „daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“. Um es unmißverständlich und drastisch zu sagen: Gott hat den einzigen Sohn seines Wohlgefallens, eben jenen Jesus von Nazareth, den Christus, geopfert, hingege­ben für die Menschen, um die Menschen mit ihrem Menschsein, d- h. mit ihrem Mitmensch­sein, nicht Einzelne, sondern die Gesamtheit — „alle Menschen“ zu retten, um uns Menschen zu helfen und uns — es ist nochmals das Zitat aus dem 1. Timotheusbrief — „zur Erkenntnis der Wahrheit“ zu bringen. Dafür hat Gott den Einen geopfert, er hätte es niemals für den Staat oder für die Obrigkeit getan, so wenig wie er ihn für Kultur oder Fortschritt oder für sonst eine zeitliche, vergängliche Erscheinung hätte sterben lassen. Sie — diese zeitlichen Erschei­nungen — haben nur vorübergehende Bedeutung, vergänglichen Wert. Im Reiche Gottes wird es keinen Staat und keine Obrigkeit geben; sie haben ihren Dienst getan; denn dort werden Recht und Frieden nicht mehr Not leiden, sondern dieser „neue Himmel und die neue Erde“ werden Wohnstatt der — vollkommenen — Gerechtigkeit und damit auch des völligen Frie­dens sein. Aber die Menschen, um deretwillen der Staat von Gott eingesetzt und beauf­tragt wurde — wir werden da sein und miteinander in Gerechtigkeit und Frieden als Menschen und Mitmenschen, als Kinder Gottes und als Brüder leben. Der Staat muß das wissen; der Christ soll ihn daran erinnern; denn der Staat, der sich selbst zum Zweck macht, der sich selber ver­absolutiert, der Staat, der zur Totalität und zur Omnipotenz strebt — im Hitlerreich haben wir’s vor Augen gehabt —, der richtet sich selbst zugrunde und zugleich die Menschen, die — was Recht und Frieden angeht — seiner Sorge anvertraut sind. Gott will nicht, daß der Staat an seine Stelle tritt und sich zum Gott macht; das ist Majestätsbeleidigung, das ist das crimen laesae majestatis, denn Gott duldet keine Usurpatoren, keine Konkurrenten. — So schuldet es der Christ dem Staat heute, ihn nicht nur an seinen Auftrag, sondern auch an seine Grenzen zu erinnern, weil der Staat, der seine Grenzen nicht erkennt und anerkennt, nicht nur sich selber, sondern auch seine Menschen tödlich gefährdet, und der Christ kann ja nicht im Blick auf die Menschen, d. h. auf die anderen er-[198]klären: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“. Er ist es, oder er verleugnet sein Christsein. —

Wenn diese Aufgaben und Dienste, die der Christ dem Staat heute schuldet, völlig klar und eindeutig sind und eigentlich nur noch die Frage übriglassen, ob ich als Christ den Glauben (d. h. den Mut) und die Liebe (d. h. das Interesse) habe, meine Schuldigkeit als Christ auch zu erfüllen, so müssen wir doch zugleich sehen, daß damit eine ganze Fülle möglicher und wirk­licher Fragen, die übrigbleiben oder sich einstellen, keine Antwort gefunden haben. Der Staat sorgt ja nicht nur, wie es seinem Auftrag entspricht, für Recht und Frieden; er tut noch eine Menge anderer Dinge, harmlose und weniger harmlose. Er betreibt mit seinem Schul­wesen Kinder- und Jugenderziehung, er beeinflußt oder kontrolliert oder bestimmt das geistige und kulturelle Leben seines Bereichs mit Presse, Theater, Literatur, er übt Einfluß auf Handel und Wirtschaft, er sucht weltanschaulich und ideologisch seine Bürger in bestimmter Richtung auszurichten — und damit meine ich keineswegs nur die DDR; das geschieht heute in fast allen Staaten der Erde und ist überdies nichts Neues: die Einheit der Religion bzw. Weltan­schauung ist stets ein Streben der Obrigkeit und des Staates gewesen, und sie sind keineswegs in der Wahl ihrer Mittel wählerisch gewesen, wo es galt, dies Ziel zu erreichen, und sie sind es heute auch nicht! — Was schuldet der Christ dem Staat heute, und nun gerade in bezug auf alle diese und vielleicht noch manche andere Dinge, für die der Staat den passiven und akti­ven Gehorsam seiner Bürger in Anspruch nimmt oder nehmen möchte? — Von einem Teil dieser staatliehen Aufgaben ist ohne weiteres anzuerkennen, daß sie es — zum mindesten auch — mit dem göttlichen Auftrag des Staates, für Recht und Frieden zu sorgen, zu tun haben. Das läßt sich bei der Erziehung, bei der Wirtschaft, aber auch bei der Sorge um die Volksgesundheit u. ä. gewiß nicht leugnen; aber ebensowenig ist zu verkennen, daß hier überall die Versuchung zum Staatstotalitarismus lauert, und der Christ ist hier das Wort der Warnung schuldig. — Aber wo liegen die Grenzen für den Gehorsam, für den passiven Gehorsam, der die Dinge schweigend geschehen läßt und hinnimmt, und für den aktiven Gehorsam, der gerufen oder aus freiem Antrieb an den Aufgaben des Staates mitwirkt? Wo endlich [199] wäre es Pflicht des Christen, seinem Staat in offenem Widerspruch entgegenzu­treten und statt des Gehorsams passiven oder auch aktiven Widerstand zu leisten? — Was den aktiven Gehorsam, also die positive Mitarbeit im Staat angeht, so ist das eine alte crux christ­licher Ethik: Kann der Christ überhaupt obrigkeitliche Funktionen übernehmen, wo es doch ohne Androhung und Anwendung von Gewalt nicht abgeht? Kann der Christ Soldat sein oder Polizist oder Richter oder Politiker? Es hat immer christliche Kreise, Gruppen, Gemeinschaf­ten gegeben, die diese Frage rund heraus verneint haben als im Widerspruch zur Lehre Christi stehend oder notwendig in solchen Widerspruch hineinführend. Damit stehen wir aber vor der Frage, wo denn der Christ eigentlich seinen Standort hat, von dem aus er solch eine Frage und solch eine Entscheidung angeht! — Das Leben des Christen steht unter dem, was der Apostel das „Gesetz Christi“ nennt: „die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“. Das besagt: ich habe mein Tun als Christ an dem Verhalten Jesu Christi zu messen, nicht im formalen Sinne der Nachah­mung Christi — der imitatio des Mittelalters —, sondern im Sinne der Nachfolge, d. h. in Übereinstimmung mit seinem Geiste. Der Maßstab wäre etwa angedeutet mit der Frage: wie würde er — Jesus — in meiner Situation handeln? — Da wird nämlich zugleich — so sagt es der christliche Glaube — sichtbar, was Gott von mir will, und da — nur da — wird das Wort deutlich: „Gebt Gott, was Gottes ist!“ aber auch das andere: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ — Wo immer es dem Christen klar ist, daß ein Anspruch, den der Staat an ihn stellt, nicht im Widerspruch steht zu dem, was Gott in Jesus Christus von ihm fordert, da ist Gehorsam geboten und geschuldet, zum mindesten passiver Gehorsam; wenn aber die­ser Anspruch des Staates offenbar dem Willen Jesu Christi gemäß ist, da wird der aktive und freiwillige Gehorsam, die Unterstützung der Obrigkeit zum verpflichtenden Gebot. Anderer­seits wird der Gehorsam gegen den Staat zum Ungehorsam gegen Gott, wenn das Verhalten, das der Staat von mir — dem Christen — erwartet, dem Geiste Jesu Christi zuwiderläuft, wenn es für die Liebe Christi keinen Raum mehr läßt. Das läßt sich nicht weiter in kasuisti­sche Regeln fassen, sondern nur durch Beispiele erläutern: der Staat fordert von mir [200] statistische Angaben, ohne zu sagen, zu welchem Zweck, und ich bin überzeugt, daß ich damit, daß ich sie gebe, niemand einen Schaden tue, dann bin ich als Christ zum Gehorsam verpflichtet; denn der Staat verlangt nichts Unrechtes von mir. Ich werde also die Angaben machen. Dabei mag sich später herausstellen, daß ich mich in meiner Annähme getäuscht hatte, daß durch meine unbewußte Schuld jemand Schaden erleidet oder erlitten hat; — ich werde meine Blindheit vielleicht zu bedauern haben und mir eine Lehre daraus ziehen; aber entscheiden durfte ich nicht anders, wenn ein anderer, Klügerer in der gleichen Lage auch anders hätte entscheiden können und müssen. — Hier wird begreiflich, daß die Frage, was der Christ dem Staate heute — d. h. in der konkreten Situation, in einer bestimmten Frage — schuldet, mehrfache Antworten finden kann, je nachdem, wie der befragte Christ die Umstän­de beurteilt; er kann ja nicht anders antworten als nach bestem Wissen und Gewissen, d. h. nach seiner Kenntnis und Beurteilung der Situation, in der er handeln soll im Einklang mit der Liebe Christi, und — soweit es dieser Liebe nicht widerspricht — im Gehorsam gegen den Staat; wo aber die Verpflichtung im Einklang mit der Liebe Christi zu handeln in Wider­spruch gerät zu dem von der staatlichen Obrigkeit geforderten Gehorsam, da ist Ungehorsam geboten, unter Umständen passiver Widerstand, vielleicht sogar aktiver Widerstand — der wohl zu unterscheiden ist vom gewaltsamen Widerstand‘ Als die Obrigkeit den Aposteln das Predigen verbot, da leisteten sie aktiven Widerstand, tätigen Ungehorsam: sie predigten wei­ter, weil sie gewiß waren, daß dies der Wille ihres Herrn, der Wille Gottes war. Sie waren bereit, die Folgen auf sich zu nehmen und nahmen sie auf sich. Sie ließen sich prügeln und nahmen Strafe auf sich; aber sie leisteten keinen gewaltsamen Widerstand, so wenig wie Jesus gewaltsamen Widerstand leistete oder zuließ, daß seine Jünger zu seiner Verteidigung gewalt­samen Widerstand leisteten: „Er stellte es aber dem heim, der da recht richtet.“ — Der gewalt­same Widerstand bezeichnet die äußerste Grenzsituation, über die sich nur mit der allerletzten Zurückhaltung sprechen läßt und wo uns allen, die wir diese Situation nicht durchlebt und durchlitten haben, das Urteilen versagt bleibt. Haben die Männer des 20. Juli [201] — und es waren ja eine Reihe ernster Christen unter ihnen und haben mit ihrem Leben gezahlt — haben diese Christen recht gehandelt? Kein Zweifel, daß sie aus der Liebe Christi handelten, kein Zweifel, daß sie mit ihrem gewaltsamen Widerstand gegen den Staat im Grunde für den Staat eintreten wollten. Aber kann das wirklich noch als legitime Antwort gelten auf die Frage, was der Christ dem Staate schuldet? — Wir müssen die Frage als Frage stehen lassen; ich kann die Antwort nicht geben; Gott allein steht das Urteil zu. — Eins aber ist gewiß, daß der Christ sich am Staat nicht desinteressiert zeigen kann und darf, daß er’s hier mit dem Bereich seiner ureigensten Verantwortung zu tun hat, daß ihn sein Glaube nicht in einen frommen Winkel religiösen Eigenlebens verweist, weil der Staat es mit ihm selber und mit seinen Mitmenschen zu tun hat und weil er dem Staat dienen und helfen soll, daß der Staat seinen gottgegebenen Auftrag erkennt und recht erfüllt, daß er für Recht und Frieden, für besseres Recht und für besseren Frieden als Gottes Diener für seine Menschenkinder sorgen soll. —

Vorlesung auf Einladung der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin (Ost) am 24. Mai 1957 im Auditorium Maximum vor der Studentenschaft in Gegenwart des neuen Staatssekretärs für Kirchenfragen, Eggerath, und auf Einladung der theologischen Fach­schaft am 18. Juni 1957 an der Georg-August-Universität in Göttingen.

Quelle: Martin Niemöller, Reden 1955-1957, Darmstadt: Stimme-Verlag 1957, S. 189-201.

Hier der Text als pdf.

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