
Der jüngst verstorbene katholische Philosoph Richard Schaeffler (1926-2019) hat als Sohn einer jüdischstämmigen Mutter eine besondere Sensibilität für eine anamnetische Vernunft im Licht der Liturgie sowie des Gebets gezeigt. Sein Vortrag auf dem Katholikentag 1978 in Freiburg unter dem Titel „Christlicher Glaube – Hoffnung aus Erinnerung“ ist mehr als 40 Jahre später immer noch lesenswert. Hier das Schlusskapitel:
Die Erinnerung des Glaubens heißt Danksagung
Wer von Danksagung spricht, hat den äußersten Gegensatz dessen benannt, was Forderung oder „Postulat“ heißen kann. Eine Hoffnung, die aus der Danksagung entspringt, ist dadurch gegen alle fordernde, „postulatorische“ und darum in letzter Konsequenz atheistische Hoffnung aufs Deutlichste abgegrenzt. Aber es ist nicht sogleich zu sehen, wie Danksagung für denjenigen möglich ist, der den Skandal dieser Welt in aller Schärfe vor Augen hat. Der Antwort auf diese Frage nähern wir uns, wenn wir uns daran erinnern: Diejenige Danksagung, von der hier die Rede sein soll, schließt den Skandal des Kreuzes nicht aus, an welchem der Skandal dieser Welt in äußerster Schärfe offenbar wurde. Im Gegenteil. Die Erinnerung an das Kreuz Jesu macht den zentralen Inhalt christlicher Danksagung aus. So gilt es zu begreifen, auf welche Weise gerade das Kreuz zum Inhalt einer danksagenden Erinnerung werden kann, das Gedächtnis des Leidens Jesu zum Inhalt der „Eucharistia“, der Danksagungsfeier im Zentrum christlichen Gottesdienstes.
Um darüber Auskunft zu erhalten, orientieren wir uns an einem liturgischen Text, an der ersten Oration des Karfreitags. Wir wollen uns durch die scheinbar schwerfällige Sprache und die Fülle der Aussagen, die hier auf knappstem Raum zusammengedrängt sind, nicht abschrecken lassen. Die sprachliche Form dieses Gebetes und die Verknüpfung seiner vielfältigen Inhalte sind nicht gegen andere Formen austauschbar, die scheinbar leichter ins Ohr gehen, oder gegen andere Inhalte, die scheinbar verständlicher sind. Gerade so, wie dieser Text überliefert ist, verweist er uns, wenn wir geduldig zuhören, auf jene Mitte, in welcher die schmerzliche Erinnerung an den Skandal des Kreuzes und die glückliche Erinnerung an Gottes Großtaten zusammengehören. Ich versuche, so gut es geht, eine Übersetzung ins Deutsche.
„O Gott, jede Generation der Menschen trat das Erbe der vorigen an und übernahm so den Tod als das Erbgut der Sünde. Du aber bist der, der diesen Tod durch das Leiden deines Gesalbten, unseres Herrn, aufgelöst hat. Durch unser Todesschicksal tragen wir an uns die Prägung unserer irdischen Natur. Laß uns ihm gleichgestaltig werden, damit wir, dadurch geheiligt, die Prägung der himmlischen Gnade an uns tragen.“
Aus dem Wortlaut dieses Gebetes spricht alles andere als jene „glückliche Blindheit gegen den Skandal dieser Welt“, von der an früherer Stelle die Rede war. Weit mehr spricht daraus die schmerzliche, ja empörende Erinnerung an die endlos wiederholte Erfahrung von Vergeblichkeit. Jede Generation der Menschheit beginnt neu mit der Bemühung, die Welt und das Leben besser zu machen. Und doch hat sich in der Abfolge der Generationen der Unheilszustand von Sünde und Tod beständig reproduziert. „Jede Generation“, so sagt der Beter, „trat das Erbe der vorigen an und übernahm so den Tod als das Erbgut der Sünde“. Und diese schmerzliche Erinnerung hat die Erwartung des Beters radikal gemacht. Wenn der Mensch nach so viel Vergeblichkeit überhaupt etwas zu erwarten hat, dann nicht, daß dieses oder jenes verbessert, geheilt oder wiederhergestellt werde. Das Ganze, die „Prägung unserer irdischen Natur“, muß einer Neugestaltung Platz machen, die der Beter die „Prägung der himmlischen Gnade“ nennt.
Aber trotz dieser radikalen Erwartung spricht aus dem Wortlaut des Gebetes nicht die anklagende Forderung, daß dem Menschen nun endlich ein Recht zuteilwerde, das eine böse Welt ihm so lange vorenthalten hat. Der Beter weiß: Der Unheilszusammenhang von Sünde und Tod beherrscht nicht nur die Welt „da draußen“, sondern seine „eigene Natur“, durch die er „irdisch geprägt“ ist; und wenn diese Welt untergehen muß, damit eine kommende Welt entstehen kann, dann sind auch wir selbst in diesen Untergang mit verstrickt. „Durch unser Todesschicksal“, so sagt der Beter, „tragen wir an uns die Prägung unserer irdischen Natur.“
Worauf aber beruht dann die Hoffnung dessen, der so spricht, wenn sie weder aus einer naiven Vergoldung der Vergangenheit hervorgeht noch aus einer anklagenden Forderung nach einer besseren Zukunft? In eben jenem „Todesschicksal“, das ihm bezeugt, daß er ein Teil dieser untergehenden, „alten“ Welt ist, begegnet der Mensch dem Leiden eines anderen, der schon gestorben ist. Ihn nennt der Beter den „Gesalbten Gottes und unseren Herrn“ und glaubt, Gott habe in diesem einen Tod den Tod der Welt und der Menschen „aufgelöst“. Und indem er diesen Gott gegenwärtig anruft, hofft er auf eine Zukunft, die damit beginnt, diesem einen Toten „gleichgestaltet“ zu werden, und die ihr Ziel darin erreicht, umgestaltet zu werden von der „irdischen Natur“ zur „himmlischen Gnade“.
Was ist das für eine Erinnerung? Und welche Hoffnung ist es, die aus ihr hervorgeht? Erinnerung an ein Sterben, das den Tod überwunden hat, und Gegenwart eines Gottes, der aus dem Tode Jesu das neue Leben der Menschen und der Welt schon geschaffen hat, wird zum Ursprung einer Erwartung eines kommenden Lebens. Wer von christlicher Hoffnung sprechen will, und wer sehen will, wie sie aus christlicher Erinnerung hervorgeht, wird so auf eine zentrale Aussage des Glaubens verwiesen: Der Unheilszusammenhang der Menschheitsgenerationen ist nicht dadurch überwunden worden, daß jemand protestierend aus ihm ausbrach, um für sich und für alle ein besseres Leben zu fordern. Dieser Unheilszusammenhang wurde dadurch überwunden, daß einer in ihn eintrat, um für sich und für seine Freunde dieser Welt des Unheils seine Solidarität zu erklären, ihr Todesschicksal anzunehmen und von seinen Freunden das „Gleichgestaltetwerden“ mit diesem Tod zu verlangen.
Wir haben nach der Einheit von glücklicher und schmerzlicher Erinnerung gefragt. Denn aus dem Unterschied dieser beiden Erinnerungen erklärt sich die Differenz der Hoffnungen, die wir in unserer Erfahrung kennen. Aber das Unterscheidende christlichen Glaubens und Hoffens, so schien es, muß gerade dort gesucht werden, wo diese beiden Arten des Erinnerns und Hoffens einander nicht mehr in einer sich ausschließenden Gegensätzlichkeit gegenübertreten, sondern zur Einheit zusammenwachsen. Und diese Einheit suchten wir in der schmerzlichen, ja empörenden und doch zugleich glücklichen Erinnerung an das Kreuz. Nun hat sich gezeigt: Diese Erinnerung an das Kreuz ist schmerzliche, ja empörende Erinnerung. Denn das Kreuz ist der Beweis dafür, daß der Unheilszusammenhang der Generationen, der Teufelskreis von Schuld und Tod, auch durch den „Gesalbten Gottes“ für die uns vor Augen stehende Erfahrung nicht durchbrochen wurde. Sein Auftreten hat vielmehr bewirkt, daß die Mächtigen dieser Welt, vertreten durch Kaiphas, Herodes, Pilatus, sich zum Kampf gegen das angebotene Heil zusammenfanden, daß also die Macht des Bösen sich steigerte und den Heilbringer zu Tode brachte. Und doch ist die gleiche Erinnerung an das Kreuz glückliche Erinnerung an die größte unter allen Heilstaten Gottes, weil die Solidarität, die Jesus der Welt erwies, indem er ihr Todesschicksal annahm, durch keine Feindseligkeit der Welt gegen ihn und gegen seine Freunde unwirksam gemacht werden kann. Er ist, wie so viele vor ihm, an der Welt und ihrer Bosheit gestorben. Aber er ist, und das unterscheidet ihn von all denen, die vor ihm gelitten haben, für diese Welt gestorben, stellvertretend für sie, so daß in seinem Ende diese Welt an ihr Ende kam, in seiner Auferweckung aber der Anfang einer neuen Welt schon gesetzt ist. Das ist es, was die Karfreitagsoration die „Auflösung“ des Todes durch das Leiden des Herrn nennt. Und eben dies war nicht einfach die Wirkung jener selbstlosen, auf Erwiderung nicht rechnenden Solidarität, mit welcher der Mensch Jesus eben jene Welt angenommen hat, die ihn nicht annehmen wollte. „Auflösung“ des Todes, stellvertretendes Vorweg nehmen des Endes der Welt im eigenen Sterben, das ist keine Leistung des Menschen, sondern Gottes Tat. „Du hast im Leiden deines Gesalbten den Tod aufgelöst.“ Daß dies geschehen ist, ist der Inhalt der christlichen Erinnerung. Daß wir dem „gleichförmig werden“, ist der Inhalt der christlichen Hoffnung.
Wir fragen abschließend noch einmal: Was ist das für eine Erinnerung? Und welche Hoffnung ist es, die aus ihr hervorgeht? Und wir wiederholen, was früher deutlich geworden ist: Erinnerung setzt der Erwartung den Maßstab. Aber dieser Satz hat nun eine neue Bedeutung angenommen, wo von der Erinnerung des Glaubens und von seiner Hoffnung die Rede ist. Denn wir erinnern uns glaubend an ein Ereignis, das von Gott her schon gewirkt ist und uns in der Überlieferung des Glaubens weitergesagt wird, während es für unsere Erfahrung noch Zukunft bleibt, die wir zu erwarten haben. Wir erinnern uns an das Ende dieser Unheilswelt, in der wir heute noch leben, obgleich sie im Tode Jesu schon an ihr Ende geraten ist. Und deshalb erwarten wir eine kommende Welt, die für uns noch Hoffnung ist, gerade weil sie in Jesu Auferstehung schon begonnen hat. Unsere Erinnerung ist Danksagung, weil die Vergangenheit, an die wir uns erinnern, die von Gott her schon gewirkte Zukunft ist, die sich für unsere Erwartung auftut. Wir bekennen unseren Glauben als „Hoffnung aus Erinnerung“ mit den Worten eines Hymnus der alten christlichen Gemeinde, den Paulus in seinem Brief an die Philipper zitiert:
„Erkennen wollen wir ihn und die Kraft seiner Auferstehung
und die Gemeinschaft mit seinem Leiden,
gleichgestaltet zu werden seinem Tode.“
Insoweit spricht dieser Hymnus von der gläubigen Erinnerung. Daran aber knüpft sich die Hoffnung, in welcher der Glaube seine Zukunft hat:
„Entgegenzueilen der Auferstehung von den Toten […]
denn er wird umgestalten den Leib unserer Niedrigkeit,
gleichgestaltet dem Leib seiner Herrlichkeit,
gemäß seinem Wirken, das Kraft hat,
sich zu unterwerfen das All“ (Phil. 3,10f. und 3,21).