Karl Homann über Wirtschaftsethik: „Da moralisch uner­wünschte, empörende Zustände nicht auf moralische Defekte der Akteure, son­dern auf Defi­zite der Ordnung zurückgeführt werden, müssen angestrebte Korrekturen bei ei­ner Reform dieser Ordnung ansetzen.“

Me-Myself-I

Für mich ist Karl Homanns Verständnis von Wirtschaftsethik als Institutionen­ethik bzw. Ökonomik immer noch zielführend für eine „sündenfällige“ Gesellschaft außerhalb der göttlichen Heilsökonomie in Jesus Christus. Statt an die Moral  zu appellieren gilt es, die Rahmenordnung wirtschaftlichen Handelns politisch so zu gestalten, dass Menschen – ihren Eigeninteressen bzw. eigenökonomischen Vorteilskalkulationen folgend – gesellschafts- wie auch umweltgerechte Ergebnisse für sich selbst erwirtschaften. Knapp dargelegt hat Homann seinen kontraintuitiven Ansatz in seinem Artikel „Wirtschaftsethik“ in Gablers Wirtschaftslexikon (14. Auflage, 1997):

Wirtschaftsethik

1. Begriff

Wirtschaftsethik wendet die allgemeine Ethik auf Probleme der Wirt­schaft an. Man kann die Aufgabe von Wirtschaftsethik so umschreiben: Wirtschaftsethik befaßt sich mit der Frage, wie moralische Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen Wirt­schaft zur Gel­tung gebracht werden können (Implementationsproblematik). Neuere Ansätze erweitern den Begriff, indem sie entspre­chend einem modernen Begriff von Ökono­mik als allgemeiner Verhaltenstheorie Wirtschaftsethik als ökonomi­sche Theorie der Moral verste­hen, womit auch die Begründung von Nor­men, z. B. von Men­schen­rechten, und die ökonomischen Folgen moralischen Verhal­tens Gegenstand von Wirtschaftsethik sind.

2. Problem­stellung

Das Grundproblem der Wirtschaftsethik besteht darin, daß der für Marktwirtschaften typi­sche Wettbewerb für moralisch motivierte Vor- und Mehrleistungen Einzelner – Indi­vidu­en, Unter­nehmen, Verbände, Staaten etc. –, die zu Kostenerhöhungen oder Ge­winneinbußen führen, keinen Raum läßt. Moral und Wettbewerb scheinen sich im Handlungsvollzug (oft­mals) aus­zuschlie­ßen.

3. Der Lösungsansatz

a) Nicht we­nige Autoren setzen in Diagnose und The­rapie beim Wol­len der Individuen an: Als Ur­sachen der Übel werden Egoismus und Pro­fitgier angesehen, als Therapie werden Bewußt­seinswandel und Umkehr empfohlen. Im Zentrum stehen hier die Präferenzen der Menschen.

b) Solch ein Denken ist durch den grundlegenden Paradig­menwechsel der modernen Ökono­mik überholt. Der Moral­philosoph A. Smith entkoppelt Hand­lungsmotive und (aggregierte) Resultate: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eige­nen Interessen wahrneh­men.“ Oder anders: Der Wohlstand aller hängt nicht vom Wohlwollen der einzel­nen ab.

c) Moral und Wettbewerb lassen sich dadurch simultan realisieren, daß sie auf verschiedenen Ebenen angesetzt wer­den. Man unterscheidet zwischen der Rahmenord­nung des Handelns und den Hand­lungen innerhalb der Rahmenordnung oder zwischen Spiel­regeln und Spielzügen; dann kann der Wettbewerb in den Spielzügen Platz greifen, und die Moral kommt über die Spielregeln zum Zuge. Moral er­scheint nicht als unmittelbar hand­lungslei­tende Motivation, sondern als Handlungsre­striktion. Die Rahmenordnung ist durch (Ordnungs-)Politik gestalt­bar. Wirtschaftsethik ist paradigmatisch Ord­nungsethik oder Institutionenethik. Sie ist inso­fern mit dem ökonomischen Hand­lungskonzept kompatibel, als das Handeln inner­halb der Rahmenordnung den Anreizen folgt; daher könnte man auch von Anreizethik spre­chen.

4. Implikationen

Der Wettbewerb setzt einen – politischen – Kon­sens über die Spielregeln und eine Durch­setzungsinstanz (Justiz, Kartellamt) voraus. Der Wettbewerb ist eine soziale Veranstal­tung zum Nutzen der Konsumenten (Kon­sumentensouveränität), indem er die Anbie­ter zwingt, sich an den Interessen der Nach­frager zu orientieren und auf Effizienz des Ressourcenein­satzes zu achten. Die Inkor­porierung der Moral in allgemeinverbindli­che Regeln hat ihren Grund in deren Wettbewerbsneutralität: Nur so kann morali­sches Verhalten einzelner vor dem Opportu­nismus von (potentiellen) Wettbewerbern geschützt werden. Da moralisch uner­wünschte, empörende Zustände nicht auf moralische Defekte der Akteure, son­dern auf Defi­zite der Ordnung zurückgeführt werden, müssen angestrebte Korrekturen bei ei­ner Reform dieser Ordnung ansetzen; demgegenüber sind moralische Appelle eher kontrapro­duktiv: Be­dingungswandel auf­grund von Gesinnungswandel, ist die De­vise.

5. These

Die grundlegende These lautet: Der systematische – nicht der allei­nige – Ort der Moral in der Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung.

Erläuterung: Die Betonung der Rah­menordnung macht das moralische Engagement der ein­zelnen Ak­teure nicht überflüssig. Die These besagt le­diglich, daß dieses moralisch motivierte Bemühen der einzelnen auf breiter Front in der Gesellschaft erfolglos bleiben muß und der Moral langfristig sogar schadet, wenn nicht die moralischen Akteure durch Inkor­porierung der Moral in die Rahmenordnung vor der opportunistischen Ausbeutung durch ihre weniger moralischen Konkurren­ten geschützt wer­den. Ohne Verankerung in der Rahmenordnung hat die individuelle Moral im Wettbewerb auf Dauer keine Chance.

6. Bedeutung des Paradigmen­wechsels

a) Mit einer solchen Konzeption von W. wird den tiefgreifenden Verände­rungen Rechnung getragen, die mit der funk­tionalen Ausdifferenzie­rung in gesellschaft­liche Subsysteme evolutionär entstanden sind. Die alte „Hauswirtschaft“ wird zu ei­ner modernen „Volkswirt­schaft“ und heute zu einer Weltwirtschaft. Sie ist gekenn-[4398]zeichnet durch tiefe Arbeits­teilung, anonyme Austauschprozesse, lange Produktions(um)wege unter Beteiligung vieler Akteure, wachsende Interdependenzen und hohe Komplexität. Das Resultat einer modernen Wirtschaft hat daher kein einzelner, kein Unternehmen, kein Staat, keine Gewerkschaft etc., in der Hand; folglich ist dafür auch kein einzelner (allein) verantwortlich (zu machen). Die au­ßerordentliche Steigerung des Wohlstandes und der Frei­heit in den westlichen Industriena­tionen basiert auf Bedingungen, die für die Realisierung moralischer Intentionen und Ideen eine völlig neue Konstellation schaffen: Die traditionelle abendländische Kleingruppenethik muß paradigmatisch auf eine Ethik großer, anonymer ge­sellschaftlicher Gruppen umgestellt werden (innerhalb derer es natürlich weiterhin kleine Gruppen gibt).

b) Als zentrales Problem erweist sich dabei die soziale Kontrolle von Hand­lungen. In kleinen, überschaubaren Gruppen ist die informelle Kontrolle im täglichen Um­gang möglich und aus­reichend, um moralischen Normen und Idealen Geltung zu verschaf­fen. In großen anonymen Gruppen ist der Beitrag des Verhaltens einzelner kaum bzw. nur unter hohen Kosten kontrol­lierbar. Daher muß das System der – grundsätzlich unverzichtbaren – Kontrolle umgestellt werden: Die Kontrolle erfolgt modern als (1) lückenlose Selbst­kontrol­le entlang dem Eigen­interesse in Verbindung mit (2) einem geeigneten sanktionsbe­wehrten Regelsystem (inklu­sive Wettbewerb), das das Handeln der Akteure in die allge­mein er­wünschten Bahnen lenkt.

7. Die moralische Qualität der Marktwirtschaft

Die moralische Qualität der Marktwirt­schaft besteht darin, daß sie das beste bisher bekannte Instrument zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen darstellt, indem sie dem Wohl der Konsumenten dient. Diese Aus­sage bleibt grundsätzlich richtig, auch wenn die teils be­trächtlichen Leistungs- und Kaufkraft­unterschiede im Blick zu behalten sind und – in der Sozialen Marktwirtschaft – Anlaß zur Umverteilung geben, um die Marktwirtschaft zu ver­bessern.

8. Generelle Handlungsanweisungen

Aus diesen Überlegungen folgt die generelle Hand­lungsanweisung, daß sich die Akteure systemkonform verhalten sollen. Dies läßt sich expli­zieren: Die Akteure sollen die Rahmen­ordnung beachten und innerhalb der Rahmenordnung langfristige Gewinnmaximierung an­streben. Dies alles steht unter der Voraussetzung, daß die Rahmenordnung vollständig und lückenlos ist und das eigeninteressierte Han­deln der Akteure in die gesellschaftlich er­wünsch­te Richtung lenkt. Da davon unter Realitätsbedingungen kaum ausgegangen werden kann, folgt als weitere Handlungsanweisung, daß die Akteure entweder an der Verbesserung der Rahmenordnung, die sie dann selbst bindet, mitwirken sollen, oder im Fall „unvollständiger Verträge“ indivi­duell moralisches, faires Verhalten gemäß dem „Geist“ solcher Verträge praktizieren; diese Probleme gehören in die Unternehmensethik.

Hier der Text als pdf.

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