
Da war das Projekt „Gesamtdeutsche Volkspartei“, der ja auch Erhard Eppler, Johannes Rau, Diether Posser sowie Robert Scholl (der Vater der Geschwister Scholl) angehörten, gescheitert, als Gustav Heinemann sich 1957 der SPD anschloss und auf der niedersächsischen Landesliste der SPD für den Bundestag (erfolgreich) kandidierte. Zum Wahlkampf hatte Heinemann Gedanken zur politischen Ethik verfasst, die in der Zeitschrift Junge Kirche veröffentlicht worden ist:
Gedanken zur politischen Ethik. Thesen zum Bundestagswahlkampf 1957
Von Gustav W. Heinemann
1. Politische Diakonie
Christenstand ohne Dienst ist wie ein Baum ohne Frucht. Unser Dienst hat nicht nur der Kirche und den hilflosen (den kranken, alten oder gefangenen) Menschen zu gelten, sondern auch den gesunden Menschen in allen ihren Lebensbereichen. Diakonie ist so umfassend wie möglich zu verstehen. Darum gehört auch Mitverantwortung für die bürgerliche Gemeinde und ihre Gemeinschaften in Dorf, Stadt und Staat, Parteien, Betrieben und Berufsverbänden zum Dienstbereich des Christen.
2. Unser Platz
Nicht alle Menschen haben das gleiche zu tun. Wo ist dein Platz unter der Fülle der Aufgaben?
Die Antwort gibt Gott in seinen Gaben, welche er jedem bereitet hat. Gott hat uns verschiedene Gaben geschenkt. Diese seine Gaben sind eine Platzanweisung für unseren Dienst.
3. Unsere Hemmung
Jahrhundertelang wurden unsere Kirchen durch die Landesherren regiert. Daraus entstanden Predigtanstalten ohne lebendige Gemeinden. Jahrhundertelang waren unsere Obrigkeiten in den erblichen Monarchen vorgegeben. Daraus entstand ein Untertanengeist, der immer noch nachwirkt. [149]
Heute sind wir als Christen und als Staatsbürger für Kirche und Staat mitverantwortlich. Kirchenregiment und Obrigkeit erwachsen heute, wenngleich auf recht verschiedene Weise, aus uns selbst als den Gliedern der Gemeinde und als Staatsbürgern.
Die Obrigkeit ist nicht mehr unser Herr, sondern soll unser Diener sein. Wir alle sind mitverantwortlich für ihre Art und für ihre Entscheidungen. Wir alle haben sie zu wählen, und viele von uns sind gerufen, selber in öffentlicher Verantwortung – in einer Selbstverwaltung, einer Partei, der Regierung oder als Amtsträger verschiedener Art – zu stehen.
4. Gehört Politik zum Herrschaftsbereich Christi?
Die Barmer Erklärung der 1. Bekenntnissynode vom Mai 1934 sagt in These II: »Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.«
Zuspruch und Anspruch! Anspruch an unser ganzes Leben! Anspruch also auch auf unser Leben und Handeln als Staatsbürger in öffentlicher Verantwortung, gleich welcher Art. Die Barmer Erklärung fügt ausdrücklich hinzu: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären …«
Damit ist abgetan, daß Politik ein Feld eigener Gesetze oder selbstherrlicher Interessen wäre. Damit ist abgetan, daß Bindung an Christus eine Sache nur des privaten Lebens wäre. Auch Politik untersteht dem Herrschaftsanspruch Jesu Christi.
5. Luthers Lehre von den zwei Reichen
Dabei will uns Luthers Unterscheidung der zwei Reiche oder der zweierlei Herrschaftsweisen Gottes in Gesetz und Evangelium [150] helfen. Luther mußte sich in doppelter Frontstellung mit dem Papst und den Schwärmern auseinandersetzen. Mit der Unterscheidung der zwei Reiche wehrte er klerikale Machtansprüche der Kirche über den Staat ebenso ab wie die Utopie einer Weltverbesserung durch das Evangelium.
Es gilt aber zu verhindern, daß eine Resignation des Sich-Abfindens mit der Welt entsteht. Darum fragen wir stärker als Luther nach dem Zusammentreffen der beiden Reiche in Gott. Auch in ihrer Vorläufigkeit und ihrer durch menschliche Anstrengung nicht zu behebenden Unverbesserlichkeit ist die (gefallene) Welt ein Raum wirklichen Gottesdienstes am Menschen und seiner Wohlfahrt.
6. Der Realismus der Bibel
Die Bibel sagt uns, wer der Mensch ist. Er ist das gefallene Geschöpf Gottes, nicht fähig, sich selbst zu erlösen, aber der Verheißung teilhaftig, durch Jesus Christus erlöst zu werden.
Damit ist der Christ zur einen Seite davor bewahrt, etwa im Staat oder in ethischen oder technischen Entwicklungen die Wegbereiter zu einem Paradies der Gerechtigkeit oder des ewigen Friedens zu sehen. Es gibt keine Verchristlichung (Selbsterlösung) der Welt. Darum dürfen wir den Staat, einerlei welche Form er hat, nicht vergöttern und nicht in idealistische Schwärmerei verfallen. Aber wir dürfen den Staat, einerlei welche Form er hat, auch nicht grundsätzlich mißachten oder in Anarchie verfallen lassen. Er ist Notordnung Gottes und hat den Auftrag, allem guten Werk zu helfen und allem Bösen zu wehren (auch durch Gewalt).
Damit ist der Christ zur anderen Seite davor bewahrt, einen Mitmenschen abzuschreiben. Es gibt kein lebensunwertes Menschenleben, das wir auslöschen dürften. Es gibt keinen Leugner Jesu Christi, dem wir, etwa aus politischer Gegnerschafft, die Bezeugung Jesu Christi versagen dürften. Christus ist auch nicht [151] gegen Karl Marx oder gegen die Bolschewisten, sondern für sie wie für uns alle gestorben. Darum darf es keine christlichen Fronten (etwa in Parteien oder Gewerkschaften) gegen andere geben.
7. Weisung aus dem Evangelium oder durch die Kirche?
Der Herrschaftsanspruch Jesu Christi erfaßt uns – wie im privaten Leben so auch in öffentlicher Verantwortung – im Hören auf das Evangelium in der uns bereiteten Lage.
Die Bibel ist kein Rezeptbuch, welches uns aus einem Stichwortregister für jede Situation eine vorgefertigte Dienstanweisung gäbe. Desgleichen kann niemand in der Kirche, auch keine Kirchenleitung (Presbyterium, Synode, Präses oder Bischof) uns im Namen Jesu Christi verbindlich sagen, was wir zu tun haben. Auch in der Kirche ist niemand Herr unseres eigenen Gewissens. Gleichwohl ist die Bibel mehr als ein Buch der »Ordnungen« oder der »Grenzmarken«, innerhalb deren es lediglich freie Ermessensentscheidungen gäbe, und die Kirche ist etwas anderes als ein Sprechsaal.
8. Persönliche Entscheidungen
Wir haben unsere Entscheidungen persönlich zu vollziehen, weil Gott jedes seiner Geschöpfe ganz ernst nimmt. Es gibt keine Flucht aus der Entscheidung; wir bleiben von Gott bei seinem Namen gerufen. Das ist der Ernst, zugleich aber auch die Größe des Evangeliums, zumal im reformatorischen (protestantischen) Verständnis.
Bei allen unseren Entscheidungen, auch in der Politik, geht es um ihre größtmögliche Geladenheit mit Gehorsam gegenüber Jesus Christus.
Gottes Wort in seinem Evangelium sowie der Rat der Brüder und ihre Fürbitte helfen uns zu diesem Gehorsam. [152]
9. Die brüderliche Gemeinschaft
Unsere gegenwärtigen politischen Entscheidungen sind verschieden, ja sogar einander entgegengesetzt (etwa zur Aufrüstung oder in Fragen des Kriegsdienstes). Das ist nicht gottgewollt. Deshalb haben wir uns in der Unterschiedlichkeit unserer Entscheidungen nicht stehenzulassen, sondern einander darin zu suchen, auf daß wir uns zu dem einen Gehorsam helfen, zu dem wir alle gerufen sind.
Unsere kirchliche Gemeinschaft darf über einer Unterschiedlichkeit unserer politischen Entscheidungen nicht zerbrechen, weil sie in der Gemeinschaft des Glaubens an Jesus Christus gegründet ist, welche über alle Meinungsverschiedenheiten hinausgeht.
10. Gottes Verheißung
Die Politik ist in nicht größerem Maße ein Bereich der Dämonen, als es etwa Geschäft oder Ehe sind. In allen Bereichen dürfen wir uns der Vergebung in Jesus Christus getrösten.
Darum gibt es keine Ausrede gegenüber dem Ruf zur Verantwortung und Betätigung auch im öffentlichen Leben.
Quelle: Gustav W. Heinemann, Glaubensfreiheit – Bürgerfreiheit. Reden und Aufsätze Kirche – Staat – Gesellschaft 1945-1975, hrsg. v. Diether Koch, München: Chr. Kaiser 21990, S. 148-152.