„Nur dem, der die Reue ablehnt, stehe die Vergangenheit still.“ – Hans Joachim Iwand zu Umkehr und Einsicht in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg

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Holocaust-Mahnmal Berlin (Foto: K. Weisser)

Umkehr und Einsicht (1956)

Von Hans Joachim Iwand

Als der letzte Versuch, Deutschland von seiner verhängnis­vollsten Regierung zu befreien, endgültig mißlungen war, in jenen bedrückenden Tagen nach dem 20. Juli 1944, stand mit unabdingbarer Klarheit vor unseren Augen, was jetzt kom­men mußte: die Spaltung Deutsch­lands und die Rivalität seiner beiden Teile, die jeweils einem anderen Kulturkreise zufallen mußten. Auch daß Deutschland damit symptoma­tisch werden würde für die Gesamtlage Europas, konnte man ahnen. Wir haben dieses auf uns zukommende Gesche­hen mit seinen inneren und äußeren Möglichkeiten damals in unvergeßlichen Gesprächen erwogen. Im ver­trauten Kreise der Freunde, in der peinvollen Lage derer, die sehen müssen, wie das Schicksal den einholt, der seine ureigenste Möglich­keit preisgegeben hat. Jetzt würden wir gezwungen sein, zu gehen, wohin wir nicht wollten [Joh 21,18]. Es gibt solche Momente besonderer Hell­sicht, dann deckt ein Blitz, grell und unausweichlich, die Landschaft vor unseren Augen auf, durch die wir in der Nacht der Bewußtlosigkeit, des falschen Scheins und der feigen Träume­reien dahintrotten. Dann müssen wir sehen, wo wir sind und worauf zu wir gehen.

So war damals vieles von dem, was hernach kam, vor unseren erschrockenen Blicken aufge­deckt. Aber als es real wurde, schwand im allgemeinen Bewußtsein unseres Volkes die Ein­sicht in die innere Notwendigkeit dieses Geschehens. Also eben das, was viele unter uns in seiner Notwendigkeit erfaßt hatten, ehe es geschah, entglitt ihnen über dem Schrecklichen des Geschehens. Vielleicht liegt der entschei­dende Unterschied darin, daß die einen, deren Gewis­sen die Geschichte begleitet, sie anders verstehen als die, die sie her­nach objektiv zu erklären trachten. Und doch gab es einen [154] Moment, in dem das Bewußtsein fast allgemein war, daß diese Geschichte unsere Geschichte ist, kein Zufall, kein blindes Schicksal und keine Naturkatastrophe, sondern das uns ins Gesicht gezeichnete Geschehen. Damals verstanden viele, daß es Augenblicke gibt, da man zu den Bergen sagen möchte: Fallet über uns! und zu den Hügeln: Decket uns! [Lk 23,30] Es gibt besondere Zeiten in der sonst so oft träge und im Gleichmaß dahinfließenden Welt- und Völkerge­schichte, von denen der Dichter mit Recht sagt, daß sie richtbar sind. Dann weiß jedermann, daß ihn sein Tun oder auch das, was er schuldhaft nicht getan hat, einholt. Gerade das, wovor er auf der Flucht ist, kommt ihm entge­gen auf jener schmalen Brücke des Heute, auf der es kein Auswei­chen gibt. Damals suchten viele dieses Ausweichen durch den Sprung in den Abgrund selbstgewählter Todesnacht; darin war das Ende des »Führers« exemplarisch. Er konnte vor der von ihm heraufbeschworenen Geschichte des deutschen Volkes nicht bestehen, nun, da er sie nicht mehr mit seinen Zauber­formeln umlog und umdeutete, sondern sie in ihrer göttlichen Notwendigkeit und Folgerich­tigkeit in sein Bewußtsein trat.

In diesem Zusammenfall von Geschichte und Gericht ver­binden sich Umkehr und Einsicht. Wollen wir den Faden unserer Geschichte wieder aufnehmen, dann werden wir ihn hier auf­nehmen müssen. Diese unsere Geschichte war nicht ein von außen her uns treffendes Gesche­hen, wie man das vom Ersten Weltkrieg gesagt hat — schon das war wahr­scheinlich falsch und legte mit die Grundlage für den Zwei­ten! —, sondern im Zusammenbruch von 1945 ist etwas evi­dent geworden, was uns als Deutsche angeht und unser ureigenstes Sein und Sein-Können betrifft. Wir selbst mit unse­rer spezifischen Haltung, mit dem Geist, dem wir uns ver­schrieben, und den Bildern, in denen wir träumten, wir von rechts und wir von links, wir alle sind hier irgendwie mitge­meint und mitbetroffen. Wir sind die einzig mögliche Erklä­rung dieses Unerklärbaren. Solange wir schweigen, solange aus unserem Munde nicht das entschei­dende Wort dazu ge­funden wird, wird unsere letzte, unsere jüngste Geschichte [155] im Tief­sten ungedeutet bleiben und werden wir wie andere Völker vor uns mit ihrer von Schuld und Unbußfertigkeit beladenen Geschichte stumm und verzweifelt in den Ab­grund sinken. Wie der in seinem Gewissen aufgerufene Mensch der einzige Interpret seiner eigenen Geschichte ist und kein Beobachter von außen her das zu sagen vermag, was er von innen her zu sehen und zu begreifen in der Lage ist, so auch ein Volk. Gewiß, das Volk in seinen geistigen und politischen Führern, in einem ziemlich vielstimmigen Chor, aber doch so, daß es sich darin bewußt wird seiner Identität mit seiner Geschichte.

In dem Augenblick aber, da sich dieses Subjekt des Ge­schehens lautlos vom Schauplatz seiner eigensten Geschichte wegbegibt, um mit der Miene eines Richters auf derselben Bühne wie­der zu erscheinen, da es sich also aus der Rolle des Gerichteten in die des Richters hinweg­stiehlt — in diesem Augenblick sind alle Türen des Verstehens und der Einsicht zugefallen. Von da ab geht der Mensch nur noch von außen um das herum, was seine ureigenste Möglich­keit wäre, seine wahre Freiheit! Von da ab hat er nur noch die beiden gleich schlechten Aus­wege seiner falschen Freiheit, entweder im heidnischen Carpe diem die innere Leere seines Lebens und die tiefe Unbefriedigtheit seines Geistes hinter sich zu brin­gen, ein ruheloser Flüchtling vor seiner eigenen Wirklich­keit, oder er muß im Hinblicken auf all das, was an Großem und Schönem unwiederbringlich durch seine Vermessenheit dahingesunken ist, er­starren wie Lots Weib [Gen 19,26], weil uns im Anstarren des Toten die Starre selbst ergreift. Und so träumt er dann von der Wiederkehr jenes Versunke­nen, dessen Bild sich in seiner Seele eingegraben hat, und wartet auf den nie kommenden Tag, da es nicht nur in seiner vor­gestellten Welt, sondern auch außerhalb seiner zur Wirk­lichkeit wird. So haben wir nach 1918 von der Wiederkehr dessen geträumt, was mit dem Kaiserreich vergangen war, so träumen wir heute wieder in ähnlich utopischen Bildern. Wer merkt eigentlich, was wir tun, wenn wir so gedankenlos von den Grenzen von 1937 reden! Wenn wir wenigstens noch 1933 sagen wür­den! Wissen wir nicht, was diese vier [156] Jahre bereits auf sich hatten? Die Umkehr besteht nicht darin, daß wir mit neuen und besseren Mitteln die Wieder­holung des Verlorenen suchen, sondern daß wir seine Unwiederbringlichkeit anerkennen. Das allein würde uns die Einsicht freigeben für die neue geschichtliche Aufgabe, die reicher und größer als die vergangene und so tiefbefleckte auf uns Deutsche wartet.

Aber die Deutschen haben sich ihrem eigenen Schicksal gegenüber entfremdet. Das sieht dann so aus, daß auf der blutigen Walstatt, wo die Geister der Erschlagenen noch nicht zur Ruhe gekommen sind, zwei Doppelbilder erschei­nen, jedes mit seinem Recht und seinen Prinzipien bewaff­net, um sein Gegenüber zu richten. Und es ist das Erstaunli­che bei dem seltsamen Dia­log dieses mit sich selbst entzwei­ten deutschen Menschen, daß ihn beides auszeichnet: scharf­sinnigste Erkenntnis und unheilbare Blindheit zugleich. Er hat die Gabe, die Fehler im Tun seines Gegenüber zu erken­nen und ihm die kommende Katastrophe mit einer Klarheit voraus­zusagen, daß kein Gott es treffender tun könnte. Aber da sein Auge starr auf sein Gegenüber gerichtet ist, vermag er sich selbst nicht zu sehen und auch den Abgrund nicht, dem er zu­treibt. Den sieht jeweils nur der andere. Weil ihn aber die Wahrheit immer nur aus dem Mun­de seines feindli­chen Gegenüber erreicht, kann und darf er sie nicht glauben, worin er sich nicht selbst aufgeben will. Er ist verzaubert in das Freund-Feind-Denken. Wer oder was kann ihn daraus erlösen? Er weiß alles, er erkennt alles, es ist alles rich­tig, was er sagt und hört, und doch ist dieser Gespaltenheit seines Denkens, der Antagonismus seines Geistes, dem er ausge­liefert ist, der unvermeidliche Weg in den Abgrund der Selbstverblendung.

Die aus der Umkehr geborene Einsicht aber würde den Trug des Spiegelbildes aufheben, sie würde mich erkennen lassen, daß ich mir selber in meinem Bruder gegenüberstehe, und daß das, was dieser erleidet oder verschuldet, nichts mir Fremdes und Äußerliches ist, sondern die eine, beiden ge­meinsame Geschichte. So hängen sie beide miteinander zu­sammen, Kain und Abel [Gen 4,1-16], und erst, wo erfaßt [156] wird, daß der eine in sich das Schicksal des ande­ren trägt, daß der Mord, das Blut, das zwischen ihnen steht, ihrer beider Schicksal ist, daß die­ses Trennende hinweggenommen werden müßte, damit die Geschichte des Bruderkampfes nicht weitergeht, daß beide sich einem neuen, einem ihnen überlegenen Gnadenrecht unter­stellen müßten, um gemein­sam den Weg in das Land der Verheißung antreten zu kön­nen — da erst wird Friede sein. Der deutsche Mensch, wenn nicht der Mensch in unserer zweigeteil­ten Welt überhaupt, ist der sich selbst in seiner Geschichte entfremdete Mensch geworden, entfremdet durch das Ergriffenwerden von le­bensfeindlichen Prinzipien, die es dahin gebracht haben, daß wir uns in unserem Bruder auf der anderen Seite nicht mehr zu erkennen vermö­gen.

Max Scheler hat in seinem noch immer nicht überholten, immer noch nicht recht und nicht voll ausgewerteten Auf­satz über die Reue, den er unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges geschrieben hat, gesagt: der Satz von der ewig stillstehenden Vergangenheit sei nicht wahr. Nur dem, der die Reue ablehnt, stehe die Vergangenheit still. Wer aber an den nur ihm selbst erkennbaren Punkt in der innersten Mitte seiner Geschichte tritt, wo der Mensch seiner Schuld ansich­tig wird, dem bewegt sich auch die Vergangenheit. Er zer­bricht ihre Fesseln und gibt dem stummen Schicksal den Mund, der es enträtselt. In ihm hebt es sich selbst auf. Denn wo immer der Mensch aus Umkehr zur Einsicht gelangt, da tritt die Wende der Geschichte ein, auf die alle Katastrophen hinzielen. Hat doch auch unser gemeinsames Menschen­schicksal in einem Menschen und in seinem letzten Schrei [Mt 27,50] seine tiefste, für immer gültige Ent­rätselung, seine bleibende Wendung erfahren.

Erstveröffentlichung: Blätter für deutsche und internationale Politik 1, 1956, 39-41.

Quelle: Gerard C. den Hertog (Hrsg.), Hans Joachim Iwand – Frieden mit dem Osten. Texte 1933-1959, München 1988, 91-96.

Hier der Text als pdf.

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