Paul Ricœurs Vortrag über das politische Gedächtnis aus dem Jahr 1997 hat für das gegenwärtige Europa eine besondere Aktualität:
Von Paul Ricœur
1.
Zunächst einige Worte über den Titel meiner Darlegung: „Das politische Gedächtnis“. Die Verbindung der beiden Begriffe stellt an sich bereits das Problem dar. Auf eine sehr allgemeine Weise ist das Gedächtnis unsere Fähigkeit, uns auf die Vergangenheit zu beziehen und so, in Verbindung mit den Projekten, die uns in Richtung auf die Zukunft lenken, zur Bildung unserer Identität durch die Zeit hindurch beizutragen. Unsere individuelle und kollektive Gegenwart wird mithin eingerahmt von unserem Verhältnis zur Vergangenheit, welches das Gedächtnis ist, und unserem Verhältnis zur Zukunft, welches das Projekt ist. Wie steht es dann mit dem politischen Gedächtnis? In welchem Maße trägt das Gedächtnis zu unserer politischen Identität bei? Die allgemeine Frage nach der Identität entspricht der Frage: Wer bin ich auf eine dauerhafte Weise in der Zeit? Wenn ich kein unveränderliches Ding bin und meine Identität sich in der Zeit und durch die Zeit konstituiert, dann ist mir nur der Gedanke einer narrativen Identität zugänglich, das heißt einer Identität, die sich in einer Geschichte, die sich ereignet, und durch eine Geschichte, die erzählt wird, bildet. Das Problem des kollektiven Gedächtnisses aufzuwerfen bedeutet demnach, die Frage nach dem Beitrag meines Gedächtnisses zu meiner Identität als Mitglied der politischen Gemeinschaft – mit einem Wort: als Bürger – zu stellen. Worum handelt es sich also beim Gedächtnis eines Bürgers? [234]
Doch warum stellen wir uns diese Frage? Warum bewegt und beunruhigt sie uns, ob wir nun Zuschauer oder Akteure der Geschichte sind? Im Wesentlichen deshalb, weil wir überall auf der Welt und vor allem in Europa, im westlichen Europa, in Zentraleuropa und in Osteuropa, auf dasselbe Problem stoßen, auf das Problem eines kranken Gedächtnisses: hier zuwenig Gedächtnis, dort zuviel Gedächtnis. Hier wird man verfolgt von der Erinnerung an Zeiten des Ruhmes oder Zeiten der Demütigung, dort flieht man die Vergangenheit und möchte nicht von ihr reden hören. Dieses Schwanken zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig aber spielt sich nicht notwendig an unterschiedlichen Orten ab, sei es in Deutschland, in Frankreich oder in irgendeinem anderen Land – sondern in unterschiedlichen Momenten unserer eigenen Reflexion. Denn es handelt sich um zwei unterschiedlichen Gestalten desselben Problems, nämlich der Unfähigkeit, eine zugleich verständliche und akzeptable Identität zu konstituieren. Verständlich in dem Sinne, dass wir sie mit Gründen legitimieren können – akzeptabel in dem Sinne, dass wir uns mit dem, was wir von uns selbst verstanden haben, identifizieren können.
Im ersten Teil werde ich einige Grundbegriffe einführen, um unterschiedliche Ebenen der Partizipation, der Identifikation, mithin der Erinnerungsarbeit zu unterscheiden. Denn meiner Auffassung nach besteht der erste Dienst, den die Philosophie der politischen Diskussion erweisen kann, in der Klärung von Begriffen und in der Korrektur der Argumentation. Dies hat mich sowohl die Tradition der abendländischen Reflexionsphilosophie als auch die angelsächsische Tradition der analytischen Philosophie gelehrt. Mein Weg in diesem ersten Teil wird aus vier Etappen bestehen.
1. Ich werde zunächst den Begriff des kollektiven Gedächtnisses im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis einführen. Dieser Begriff ist noch nicht politisch. Er betrifft unsere Beziehung zu Gruppen und Gemeinschaften jeder Art, von der Familie über den Beruf usw. Er kommt immer dann zur Anwendung, wenn man wir und nicht bloß ich sagen kann. Allerdings müssen wir zunächst einen epistemologischen Streit zwischen zwei Traditionen entscheiden, von denen eine die Auffassung vertritt, dass das Gedächtnis wesentlich persönlich ist und nur per Analogie wenn nicht missbräuchlich als kollektiv bezeichnet werden kann. Es gilt, beide Plädoyers anzuhören. Auf der einen Seite ist es durchaus zutreffend, dass das Gedächtnis eine Beziehung zu sich selbst [rapport de soi à soi] ist: Meine Erinnerungen sind nicht Ihre Erinnerungen. Sie lassen sich nicht von einem Bewusstsein in ein anderes übertragen. Diese Eigenschaft wird in unseren Sprachen durch das Possessivpronomen mein, meine unterstrichen. Man sagt: Mein Gedächtnis. Über dieses Besitzverhältnis hinaus setzt das persönliche Gedächtnis die Kontinuität der Person voraus, denn es kann von vorne nach hinten durchmessen werden, wobei man Abschnitte überspringen und sich zum Beispiel unmittelbar auf einen Augenblick seiner Kindheit beziehen kann. Dies ist das Vermögen des InErinnerung-Rufens [rappel] und der Wiedererinnerung [réminiscence]. Es scheint wesentlich der Person eigen zu sein. Das dritte Argument zugunsten des persönlichen Gedächtnisses ist, dass sich der Austausch zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im individuellen Gedächtnis vollzieht. Wir verdanken diese Analyse dem [235] heiligen Augustinus, der in den Bekenntnissen sagt, dass die Gegenwart dreifach ist: Gegenwart der Vergangenheit, Gegenwart der Zukunft, Gegenwart der Gegenwart. Die erste ist das Gedächtnis, die zweite die Erwartung, die dritte die Aufmerksamkeit. Dieser Austausch findet im persönlichen Gedächtnis statt. Es scheint mithin, als ob man nur per Analogie von einem kollektiven Gedächtnis sprechen kann, zunächst durch Übertragung von mir auf den Anderen, dann auf die mir Nahestehenden und schließlich auf immer ausgedehntere Gemeinschaften. Diese Lösung wird von Husserl in den Cartesianischen Meditationen vorgeschlagen, wo die Intersubjektivität als begrifflicher Übergang dient. Mein Gedächtnis, Ihr Gedächtnis und alle diese Gedächtnisse zusammen bilden, durch eine Art von Vergemeinschaftung oder Zusammenlegung so etwas wie ein kollektives Gedächtnis.
Ich denke, dass man über diese vorsichtige These, die notfalls ausreichen würde, um die Analyse fortzusetzen, hinausgehen kann. Man kann sagen, dass eine soziale Gruppe ihr Gedächtnis unmittelbar konstituiert und nicht bloß durch Analogie zwischen Ich und Du und durch Verallgemeinerung Ich, Du, Wir. Gleichzeitig mit dem Ich gibt es immer ein Wir. Wir verfügen in dieser Hinsicht über eine große Tradition, die auf Fichte und auf Hegels Phänomenologie des Geistes und seine Grundlinien der Philosophie des Rechts zurückgeht, wo, vermittels einer Art von fundamentaler Spaltung, die in der Enzyklopädie durch die Begrifflichkeit des subjektiven und des objektiven Bewusstseins ausgedrückt wird, ein direkter Übergang vom Ich zum Wir erfolgt. Meines Erachtens haben wir gute Argumente, um das kollektive Gedächtnis als ursprünglich und ebenso fundamental wie das individuelle Gedächtnis anzusehen.
Das erste Argument liefert uns die Tatsache der Sprache. Niemand von uns hat die Sprache erschaffen. Sobald wir als kleines Kind zu Bewusstsein gelangen, sprechen wir die Sprache der anderen und selbst unser allerprivatestes Gedächtnis ist eine Art Rede, die wir uns selbst halten: Wir sprechen unser Gedächtnis. Unser Gedächtnis ist ein deklaratives Gedächtnis und wir sprechen es in der Sprache unserer Gemeinschaft. Nun kann das Phänomen der Sprache aber nicht durch Übertragung, durch Analogie zwischen mir und uns entstehen. Es wird von Anfang an von einer Sprachgemeinschaft hervorgebracht, innerhalb derer der Austausch einen Vorgang darstellt, der sich nicht auf irgendeinen anderen zurückführen lässt. Der zweite Grund, den Begriff eines kollektiven Bewusstseins als ursprünglich anzunehmen, ergibt sich aus dem Schauspiel der Sitten, der Gebräuche und des Glaubens. Wir gehören unmittelbar einem gemeinsamen Milieu des Glaubens und der Überzeugung an. Es sind übrigens die Sitten, die uns die Begriffe Moral und Ethik gegeben haben, wobei der erste aus dem Lateinischen und der zweite aus dem Griechischen stammt. Sprache und Sitten sind somit ursprünglich kollektive, geteilte, gemeinsame Phänomene.
Ich will diese erste Reihe von Bemerkungen abschließen, indem ich die folgende Lösung zu bedenken vorschlage: Privates Gedächtnis und kollektives Gedächtnis konstituieren sich meiner Auffassung nach gleichzeitig und ich würde sogar sagen wechselseitig, vermittels einer Art von verschränkter Konstituierung. Wir haben eine Reihe von Beispielen für dieses Phänomen der Verschränkung: Den Umstand, dass wir unsere eigenen Erinnerungen nicht entwickeln können, ohne die Erinnerungen der Anderen anzurufen; [236] dass unsere Erinnerungen zu einem großen Teil geliehene Erinnerungen sind; dass unser persönliches Gedächtnis vom Gedächtnis der anderen Hilfe erhält; dass das Gespräch in der Regel auf einem Austausch von Gedächtnis zu Gedächtnis vermittels einer gemein samen Sprache beruht. Doch demgegenüber lässt sich anführen, dass sich das soziale Gefüge des Gedächtnisses ausgehend von vielfältigen Aktivitäten persönlichen Erinnerns [remémoration] konstituiert. Sogar bei öffentlichen Akten des Gedenkens wird auf individuelle Erinnerungen zurückgegriffen, die somit dazu beitragen, das kollektive Gedächtnis zu erhalten.
Ich schließe dieses erste Thema ab, indem ich die Gleichzeitigkeit, die Gegenseitigkeit, die Reziprozität von individuellem und kollektivem Gedächtnis behaupte. Gewiss muss es immer jemanden geben, der sagt: „ich erinnere mich“. Doch genauso muss es immer eine Sprachgemeinschaft und eine moralische Gemeinschaft geben, die diesem Akt der Erinnerung als Hintergrund dient. Ich würde sogar so weit gehen – doch das ist beinahe schon ein Exkurs –, dass es nicht zwei, sondern drei Gedächtnisse gibt. Zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis würde ich gern das Gedächtnis der mir Nahestehenden einfügen: Die mir Nahestehenden sind diejenigen, die bei meiner Geburt Freude empfanden und die meinen Tod betrauern werden. Geburt und Tod kommen nämlich weder im individuellen noch im kollektiven Gedächtnis vor. Für ersteres bin ich bereits geboren und noch nicht tot, und für letzteres sind diese Ereignisse nichts weiter als anonyme Daten im Personenstandsregister. Die Verbindung zwischen dem Gedächtnis der Nahestehenden und dem kollektiven Gedächtnis stellt sich durch Verhältnisse der Filiation im Rahmen des Systems der Elternschaft und auf der Grundlage der Beziehung zwischen Generationen auf der weitläufigeren Ebene eines Austauschs zwischen Zeitgenossen, Vorgängern und Nachfolgern her. Dieses generationenübergreifende Gedächtnis bildet die stärkste Vermittlung zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis.
2. Ich schlage für unsere Reflexion eine zweite Stufe vor, die der Zivilgesellschaft. Unter Zivilgesellschaft verstehe ich alle von Institutionen eingefassten Subsysteme, denen wir angehören. Man muss hier also den Begriff der Institution betonen. Nicht alle Institutionen sind jedoch politisch. Eine Institution entsteht, sobald eine Verteilung von Rollen nach bestimmten Regeln stattfindet. An diesem Punkt sind Kollektiv und Individuum eng verbunden. Auf der einen Seite ist die Regel, nach der die Rollen verteilt werden, kollektiv, auf der anderen Seite werden sie von Personen, von Individuen eingenommen. Somit kommt die Wechselseitigkeit zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis im Phänomen der Institution voll zum Tragen. Ich habe den Begriff Subsysteme verwendet, da das Gefüge der Gesellschaft von kohärenten Gebilden strukturiert wird, wie beispielsweise dem Markt, der seinerseits ein technologisches System der Produktion, ein soziales System der Arbeit und ein wirtschaftliches System der Verteilung und Zirkulation von Handelsgütern koordiniert. Über diesem erhebt sich ein Finanzsystem, das gegenüber dem produktiven System immer eigenständiger wird. Auf der anderen Seite haben wir ein Bildungssystem mit seinen Schulen und Universitäten. Dabei handelt es sich um ein genau strukturiertes Subsystem, das mit einer präzisen [237] Definition von Aufgaben, Rechten und Pflichten die Rollen zwischen denen, die unterrichten, und denen, die unterrichtet werden, verteilt. Darüber hinaus müsste man das Verwaltungssystem und die Kommunikationssysteme (Zeitungen, Zeitschriften, Medien) berücksichtigen. Weiterhin existiert ein Rechtssystem mit festen Institutionen wie Gerichten, geschriebenen Gesetzen, einem Richterstand, einer streng geregelten Zuweisung des Rederechts an Richter, Anwälte, Geschworene usw. – bis hin zur Verkündung des Richterspruchs in Form des Urteils und schließlich zu den Regeln für die Vollstreckung der Strafe. Man kann sagen, dass jedes Subsystem seine eigene Zeitlichkeit hat, das heißt, seine eigene Art und Wiese, die Beziehung zwischen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zu organisieren.
Ich möchte auf eine sehr präzise Arbeitsweise des Gedächtnisses auf der Ebene der Zivilgesellschaft und ihrer Institutionen aufmerksam machen, nämlich auf das System der Archive. Es handelt sich dabei um ein System zur Verwaltung der Zeit, genauer: der Vergangenheit. Als Archiv bezeichnet man einen Bestand an Dokumenten, die von einer Institution aufbewahrt werden, um die Spur ihrer Aktivität zu bewahren, derart, dass dieser Dokumentenbestand jeder dazu berechtigten Person zugänglich ist. Jede Institution baut ein Archiv ihrer Tätigkeit auf. Nicht alle Archive sind also national oder staatlich. Das Phänomen des Archivs ist ein vollständig institutionelles Phänomen, in sofern es auf der Bewahrung der schriftlichen Spuren der Tätigkeit einer gegebenen Institution beruht. In diesem Sinne ist das Archiv eine Institution in der Institution. Durch sie hindurch berühren wir das wichtigste Phänomen auf dieser Ebene der Zivilgesellschaft, die Beziehung des Austauschs, die sich vermittels dokumentarischer Spuren zwischen Vergangenheit und Zukunft herstellt. Auf dieser Beziehung des Austauschs beruhen die Traditionen.
Im allgemeinsten Sinne des Wortes bedeutet Tradition Überlieferung. Sie impliziert, dass die Vergangenheit nicht einfach das ist, was vorübergeht, sondern das, was bleibt, vorausgesetzt, es wird vor der Zerstörung bewahrt, konserviert und strukturiert. Die Tradition im allgemeinen Sinne von Überlieferung ist die Bedingung dafür, dass die Handlungen der Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart den folgenden Generationen weiterhin erzählt werden können. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass die fundamentalste Aufgabe der traditionalen Überlieferung [tradition-transmission] darin besteht, die abwesende Vergangenheit anwesend zu machen, dann können wir sagen, dass der Begriff der Spur eine Grundstruktur jeden Gedächtnisses bildet. Dies gilt bereits für das individuelle Gedächtnis. Wie Platon im Theaitetos bemerkt, besteht die Aufgabe des Gedächtnisses genau darin, das Abwesende anwesend zu machen. Das ist es, was jede Institution versucht, indem sie ihren Archivbestand bewahrt.
Ich möchte noch einen weiteren Begriff hinzufügen, der mit demjenigen der Institution zusammenhängt: Neben den Begriffen der Tradition und des Archivs möchte ich den der Schuld [dette] hervorheben. Ich verstehe Schuld hier nicht im engen Sinn des Schuldig-Geworden-Seins [culpabilité], sondern in dem allgemeineren und grundlegenderen Sinne, dass wir das, was wir sind, denjenigen verdanken, die uns vorausgegangen sind. Dieser Begriff der Schuld hat eine strukturierende Funktion in Hinsicht auf die Konstituierung der Zivilgesellschaft als Wunsch, zusammenzuleben. Denn der Wunsch, [238] zusammenzuleben, enthält eine geschichtliche Dimension, durch welche die Prägung der Vergangenheit in das Bewusstsein der Gegenwart aufgenommen und Teil des Selbstverständnisses einer Gesellschaft wird.
Ich will diesen zweiten Punkt mit der Bemerkung beschließen, dass es ein wesentlicher Bestandteil unseres ethischen Sinns ist, in gerechten Institutionen leben zu wollen. In dem der Ethik gewidmeten Teil meines Buches Soi-même comme un autre[2] siedle ich den Gedanken der Gerechtigkeit auf der grundlegendsten Ebene an, auf der des Wunsches, gut zu leben. Zu dem Wunsch, gut zu leben, gesellt sich die Fürsorge für die mir Nahestehenden und der Gerechtigkeitssinn in Bezug auf alle Verhältnisse der institutionellen Ebene. Geleitet von dem Wunsch, in gerechten Institutionen gut zu leben, wird das kollektive Gedächtnis seinerseits strukturierend für das individuelle Gedächtnis.
3. Wir können nun auf die eigentlich politische Ebene hinüberwechseln. Ich schlage vor, die politische Ebene ihrerseits in zwei unterschiedliche Ebenen zu unterteilen: in die des Staates im eigentlichen Sinne und die des politischen Regimes, oder wenn man so will, der Regierungsform. Diese Unterscheidung ist zentral für die Erörterung der Pflicht zur Erinnerung, die weiter unten folgen wird, denn diese Pflicht ist in Hinsicht auf den Staat keineswegs dieselbe wie in Hinsicht auf das politische Regime. Beschränken wir uns also für einen Moment auf den engen Begriff des Staates.
Auf dem augenblicklichen Entwicklungstand der politischen Institutionen überall auf der Welt scheint es unmöglich, die Konfiguration des Nationalstaates zu überwinden. Nichtsdestotrotz ist es möglich, den komplexen Begriff des Nationalstaats durch den Akzent, den man entweder auf die Nation oder den Staat legt, aufzubrechen.
Bei der Nation haben wir es mit einem Bereich der Zugehörigkeit zu tun, der eigene Grenzen hat, die auf der Unterscheidung zwischen dem Bürger einer Nation und dem Ausländer beruhen. Es handelt sich dabei um eine Begrenzung der Zugehörigkeitsbeziehung. Was die Ausländer betrifft, so können sie ihrerseits ganz unterschiedliche Stellungen haben. Es kann sich um freiwillige Besucher handeln, um Touristen oder um unfreiwillige Einwanderer, die im Allgemeinen von der Notwendigkeit der Arbeitssuche getrieben sind. Es handelt sich nicht um Bürger der Nation, sondern um Ausländer, die eine bestimmte Anzahl sozialer Rechte genießen, welche sie das Geschick der Bürger der Nation teilen lassen. Man muss diese Zuwanderer, die sich in einer regulären Situation befinden, von den illegalen Einwanderern unterscheiden, die in jedem Land ein schwierig zu lösendes Problem darstellen, insofern kein Staat sich hermetisch ab schotten kann wie eine Festung. Schließlich muss man zwei unterschiedliche rechtliche Kategorien hinzufügen, diejenige, in welcher der Erwerb der Staatsbürgerschaft geregelt wird, und diejenige, in welcher die Praxis des Asylrechts geregelt wird. Diese Probleme hat Michael Walzer in dem Membership überschriebenen Kapitel seines Buches Sphe-[239]res of Justice[3] meisterhaft behandelt. Dieses Kapitel ist den Regeln gewidmet, welche die Beziehungen zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit festlegen, Regeln, die bis in die heutige Zeit nach dem Prinzip der Souveränität bestimmt werden.
Während die Nation durch die Zugehörigkeit zur selben politischen Körperschaft definiert wird, definiert der Staat gleichermaßen die Zusammensetzung seiner Bevölkerung, die räumlichen Grenzen seines Territoriums und das Rechtssystem, das innerhalb dieser Grenzen Geltung hat. Was die staatliche Struktur im eigentlichen Sinne anbetrifft, so halte ich zwei konkurrierende, jedoch zugleich komplementäre Definitionen fest: Jene Definition Max Webers, gemäß derer sich der Staat durch das legitime Gewaltmonopol definiert. In der Tat ist es das erste Merkmal des Staates, dass er den Bürgern die private Ausübung der Gewalt vorenthält und so dem einzelnen verbietet, sich selbst Gerechtigkeit zu verschaffen. Dieses Gewaltmonopol muss seinerseits legitim sein, das heißt, es muss rechtlichen Regeln unterworfen sein, die dem Staat nicht nur Gewalt sondern, wenn man so sagen kann, auch eine Gestalt verleihen, die ihn zum Rechtsstaat macht. Mit dieser ersten verbindet sich die zweite, ebenfalls von Max Weber stammende Definition, nämlich die Hierarchisierung der Rollen zwischen denjenigen, die regieren und denjenigen, die regiert werden. Damit wird ein Prinzip eingeführt, das als Autoritätsprinzip bezeichnet wird. Autorität hat derjenige, der sich auf legitime Weise Gehorsam verschaffen kann. Unter diesen beiden Voraussetzungen ist der Staat grundlegend durch eine Herrschaftsbeziehung, das heißt durch eine Beziehung zwischen Befehl und Gehorsam, definiert. Den Unterschied zwischen dieser Herrschaftsbeziehung und einer Beziehung der Sklaverei herauszuarbeiten ist Aufgabe der politischen Philosophie. Die gesamte liberale Tradition des Abendlandes ist aus dem Bestreben entstanden, diese Herrschaftsbeziehung vertragsförmig zu machen, das heißt, der vertikalen Beziehung von Befehl und Gehorsam eine horizontale Struktur zu geben. In dem Maße, in dem jede Institution diese vertikale Beziehung zwischen denjenigen, die befehlen und denjenigen, die gehorchen, in sich trägt, strahlt die Herrschaftsbeziehung nach und nach auf alle nicht-politischen Institutionen aus. Ein französischer Philosoph, dem ich viel verdanke, Éric Weil, hat versucht, dieser Herrschaftsbeziehung, die noch eine sehr große Nähe zur Gewalt aufweist, einen anderen Ausdruck zu geben, indem er folgenden Zug an ihr hervorhob: Der Staat, so sagt er, ist die Struktur, durch die eine geschichtliche Gemeinschaft fähig ist, Entscheidungen zu treffen. Es ist weniger der Aspekt des Zwangs und der Hierarchie, der hier betont wird, sondern die Fähigkeit einer geschichtlichen Gemeinschaft, sich auf die Stufe einer moralischen Person zu erheben, die zu einer Willlensbildung im Stande ist. Wie bereits Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts festgestellt hat, konkretisiert sich dieser Wille in der Gestalt des Fürsten, dem Zentrum der Entscheidungsgewalt. Man darf die Gestalt des Fürsten nicht als die eines Tyrannen oder eines totalitären Oberhauptes begreifen, sondern als die notwendige Vermittlung zwischen der Macht und ihrer Spitze. Dieser subjektive Aspekt der Macht stellt an sich keineswegs ein Übel dar, sondern erweist [240] sich als Bedingung einer guten Verwaltung der grundlegendsten Interessen der Zivilgesellschaft durch den Staat.
4. An dieser Stelle ist es schwierig, zwischen dem Staat als Institution und den politischen Regimes zu unterscheiden. Nichtsdestotrotz ist diese Unterscheidung grundlegend für unsere Frage nach dem Gedächtnis. Denn während die politischen Regimes wechseln, besteht der Staat weiter. Jene Treuepflicht aber, die wir dem Staat gegenüber haben und haben müssen, ist eine andere als die, die wir den einander ablösenden politischen Regimes schulden, unter denen wir im Laufe unseres Daseins leben, insbesondere, wenn es so lang wie das meine ist. Es kommt nicht selten vor, dass während ein und derselben Generation mehrere politische Regimes aufeinander folgen. Es kommt mithin darauf an, sie von der Dauerhaftigkeit des Staates zu unterscheiden, die ein Grundwert der Zivilgesellschaft ist und zusammen mit der Dauerhaftigkeit der ethnolinguistischen Gemeinschaft der Sprache, der Sitten und der Glaubensüberzeugungen den konstitutiven Hintergrund der Nation bildet. Das Problem der politischen Regimes muss von dem des Nationalstaats unterschieden werden. Das zentrale Problem des Nationalstaats ist das seiner Souveränität, die seine Legitimität begründet. Die zentrale Frage in Bezug auf die politischen Regimes ist die der Legalität und ihrer ideologischen Rechtfertigung. Beide Probleme dürfen nicht miteinander vermengt werden. So unanfechtbar die Souveränität und die Legitimität, die sich aus ihr herleitet, sind, so fragwürdig sind die Legalität und ihre ideologische Rechtfertigung. Ein Beispiel aus der jüngsten Erfahrung der Franzosen: Während der Jahre 1940-45 lag die Legalität in Vichy, die Legitimität aber in London. Das Problem der Legitimität besteht darin, zu wissen, wer das moralische Recht hat, etwas zu tun oder nicht zu tun. Auf dieser Ebene verbinden sich Ethik und Politik. Nun haben wir stets die Möglichkeit, die Entscheidungen eines politischen Regimes, das wir als illegitim betrachten, moralisch zu beurteilen. Die Möglichkeit, der gesetzlichen Ordnung eines Staates, der sich mit einem politischen Regime identifiziert, den Gehorsam zu verweigern, ist Bestandteil der ethischen Struktur der Politik. Dieses klassische Problem hat seinen Ursprung in den Überlegungen der mittelalterlichen jurisconsultes und der Renaissance über den Königsmord und den Tyrannenmord, das heißt über das Recht beziehungsweise die Pflicht, den Tyrannen zu töten. Diese Überlegungen schlossen die Möglichkeit ein, über denjenigen, der das Monopol der politischen Gewalt hat, nämlich über den Staat, wie er sich in einem politischen Regime verkörpert, zu urteilen. Das letzte Recht, über ein politisches Regime zu urteilen, liegt bei uns. Insofern für die meisten von uns gilt, dass wir gewissermaßen von Geburt an ein Teil unserer nationalen Gemeinschaft sind, können wir aus dieser zwar nicht heraustreten, doch können wir gegenüber der Nation eine gewisse Distanz einnehmen. Wir können gleichermaßen gegenüber dem Staat und dem Prinzip der Souveränität eine gewisse Distanz einnehmen und mit noch größerem Recht gegenüber den politischen Regimes und den ideologischen Rechtfertigungssystemen, auf denen sie ihre Legalität gründen. Es ist die Aufgabe des aktiven Bürgers, gegenüber dem Amalgam, das sich aus nationaler Zugehörigkeit, staatlicher Souveränität und ideologischer Rechtfertigung des politischen Regimes bildet, dieses politische Bewusstsein zu entfalten. Die heute in Eu-[241]ropa vorherrschende Regierungsform ist die repräsentative Demokratie, die auf Wahlen (ein Mensch, eine Stimme) und der Delegierung der Macht an eine politische Klasse beruht. Im Hinblick auf diese Regierungsform darf die Wachsamkeit nicht geringer sein. Sie muss sich besonders intensiv auf die Behandlung ethnischer, kultureller und religiöser Minderheiten richten. Diese Behandlung stellt einen der wichtigsten Prüfsteine für die demokratische Qualität einer Regierungsform dar.
2.
Ich möchte meine abschließenden Bemerkungen der Pflicht zur Erinnerung widmen, insofern sie mit der Hierarchisierung der Zugehörigkeitsebenen – geschichtliche Gemeinschaft, Zivilgesellschaft, souveräner Staat, politisches Regime auf ideologischer Grundlage – verknüpft ist. Denn das, was wir im Allgemeinen kollektives Gedächtnis nennen, ist entlang dieser Ebenen der Zugehörigkeit strukturiert. Entsprechend den Ebenen der Zugehörigkeit stehen wir in unterschiedlichen Schuldverhältnissen und haben dementsprechend unterschiedliche Verpflichtungen. Auf der Ebene der Sprachgemeinschaft, der Glaubensüberzeugungen, der Sitten, der Tradition stehen wir in einer absoluten Schuld. Wir sind Teil der Gemeinschaft. Hier besteht eine vollständige Reziprozität zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis. Unsere Erinnerungen decken sich mit denen der Gruppe, der wir zugehören. Unsere Fähigkeit zur Distanzierung gegenüber den konstitutiven Erzählungen unserer Zugehörigkeitssphären wächst in dem Maße, wie wir auf die Ebene der Systeme der Zivilgesellschaft, der politischen Struktur des Nationalstaates und der ideologischen Rechtfertigung politischer oder totalitärer Regime aufsteigen.
Auf dieser letzten Ebene zeigt sich die außerordentliche Fragilität und Verletzlichkeit des Gedächtnisses. Diese Fragilität ist dem gewöhnlichen Gedächtnis, demjenigen des täglichen Lebens und Gesprächs, inhärent. Denn das Gedächtnis beruht allein auf dem persönlichen Zeugnis für die Anwesenheit des Abwesenden, genauer gesagt des Abwesenden als etwas, das zuvor existiert hat. Nun ist die Einbildungskraft ebenfalls eine Repräsentation des Abwesenden als anwesend, jedoch eines irrealen Abwesenden. Das Abwesende als Vergangenes kann sich immer mit dem Abwesenden als Irrealem vermischen. Dann entsteht das Phantasma. Auf diese angeborene Schwäche des Gedächtnisses setzen die Ideologien, derer man sich bedient, um politische Unrechtsregimes zu rechtfertigen. Sie machen sich die Tatsache zu nutze, dass das Gedächtnis keine starre Funktion ist, sondern eine Aktivität, die manipuliert werden kann. Das Gedächtnis besteht nicht nur aus einer Affektion durch eine abwesende Präsenz, sondern ebenso aus einer Aktivität, die ausgeübt wird, und deren Dynamik fehlgeleitet, durch Schmeichelei oder Zwang beeinflusst, kurz: manipuliert werden kann. Diese Fehlleitung des Gedächtnisses lässt sich auf einem elementaren pathologischen Niveau in Form jener Kräfte der Verdrängung beobachten, die das Entstehen der Erinnerung verhindern und Phantasmen den Weg bereiten, die sich an die Stelle des wirklichen Erinnerns setzen. Der Ursprung [242] eines manipulierten Gedächtnisses liegt mithin in einem kranken Gedächtnis. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt[4] auf diesen Aspekt des kranken Gedächtnisses zurückkommen, der von Freud in seinen beiden Aufsätzen „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“[5] und „Trauer und Melancholie“[6] meisterhaft behandelt wurde. Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, die Schlussfolgerungen dieser beiden Aufsätze miteinander zu verknüpfen, deren einer die Rolle der „Erinnerungsarbeit“ hervorhebt, die dem Wiederholungszwang entgegengestellt wird, während der andere die Rolle der „Trauerarbeit“ betont, die der Melancholie entgegengesetzt wird, die sich nicht auf eine schreckliche Geisteskrankheit depressiven Typs beschränken lässt, sondern in Form einer Neigung zur Traurigkeit in das als gesund geltende Bewusstsein eindringen kann.
Dieser ganze fragile Unterbau bietet jenen ideologischen Manipulationen einen Angriffspunkt, die wir bei der Ausübung von Herrschaft durch Staaten, die sich mit perversen politischen Regimes identifizieren, am Werk sehen. Die Ideologie bemächtigt sich des Gedächtnisses mithilfe der engen Verbindung zwischen dem Gedächtnis und dem Bewusstsein der Identität. Man kann sagen, dass zu der ursprünglichen Fragilität des von Phantasmen bedrängten Gedächtnisses die Verletzlichkeit kommt, welche aus der Verbindung zwischen Gedächtnis und Identität rührt. Die Ideologie bringt uns die scheinbare Festigkeit einer kohärenten Weltsicht, unter deren Schutz sich unsere Identität in Sicherheit fühlt und die unserem Gedächtnis vermittels vorgefertigter Erzählungen und aufgezwungenem Gedenken eine vermeintliche Struktur gibt. Der Hitlerismus und der Stalinismus haben sich als virtuose Manipulatoren des Gedächtnisses erwiesen.
Gegen diese beiden Arten der Fragilität, deren eine mit der Macht der Phantasmen, deren andere mit der Macht der ideologischen Manipulation zusammenhängt – wobei beide Arten von Verletzlichkeit sich leicht gegenseitig verstärken – richtet sich der kritische Gebrauch des Gedächtnisses. Dieser besteht gleichermaßen in der Erinnerungsarbeit, die mit der Trauerarbeit, von der Freud spricht, verknüpft ist und in der Arbeit der Identität, die sich gegen die Kraft der Ideologie richtet. In meinem Buch La critique et la conviction[7] arbeite ich heraus, bis zu welchem Punkt wir zugleich Wesen der Zugehörigkeit und Wesen der Distanz sind. Die Ebenen der Hierarchisierung der sozialen Bindung haben uns die Stufen der Zugehörigkeit und damit auch die Orte der Überzeugung abschreiten lassen. Anhand der verschiedenen Ausprägungen der Fragilität und Verletzlichkeit des Gedächtnisses haben wir die Ansatzpunkte eines kritischen Gedächtnisses entdeckt und damit auch die Orte der Distanznahme. [243]
Die Pflicht zur Erinnerung schließt mithin alle Ausprägungen der Erinnerungsarbeit, der Trauerarbeit und der antiideologischen Arbeit des kritischen Gedächtnisses ein. Ohne diese drei Ressourcen, mit deren Hilfe wir uns der Fragilität und Verletzlichkeit des Gedächtnisses stellen, läuft die Pflicht zur Erinnerung Gefahr, in die ideologische Manipulation durch autoritäre Erzählungen und aufgezwungenes Gedenken zurückzufallen. Die Pflicht zur Erinnerung sagt einfach: Du sollst dich erinnern!, mit anderen Worten: Du fährst fort zu erzählen. Diese Pflicht zur Erinnerung wird auf der Ebene der Aufeinanderfolge der Generationen ausgeübt, auf jener Ebene, auf der das Gedächtnis an die Geschichte grenzt. Wieder und immer noch zu erzählen, heißt nicht, den Hass, den Ruhm oder die Demütigung zu pflegen. Es heißt, die Vergangenheit zu bewahren, im Sinne einer Offenheit für gerechte Institutionen, nach denen zu verlangen ein integraler Bestandteil unseres Wunsches ist, gut zu leben.
Übersetzt aus dem Französischem von Katrin Schreiner und Andreas Fliedner.
Quelle: Burkhard Liebsch (Hrsg.), Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur, Berlin: Akademie Verlag 2010, Seiten 233-243.
[1] Der Text geht zurück auf einen in Sofia gehaltenen Vortrag Ricœurs, der von der dortigen Maison des Sciences de l’Homme et de la Societe (MSHS) organisiert wurde, zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift Divinatio. Studia Culturologica Series, vol. 6, Spring-Summer (1998), S. 27-37. Der Text wurde um einige einleitende Bemerkungen des Autors gekürzt, die lediglich auf den situativen Kontext des Vortrags Bezug nehmen.
[2] P. Ricœur, Soi-même comme un autre, Paris 1990 (dt. Das Selbst als ein Anderer, übers. v. J. Greisch in Zusammenarbeit mit T. Bedorf u. B. Schaaff, München 1996).
[3] M. Walzer, Spheres of Justice, Oxford 1983 (dt. Sphären der Gerechtigkeit, übers. v. H. Herkommer, Frankfurt am Main, New York 1992).
[4] Ricœur verweist hier auf eine nachfolgende Vorlesung.
[5] In: S. Freud, Gesammelte Werke Bd. 10, Frankfurt am Main 41974, S. 126-136.
[6] Ebd., S. 428-446.
[7] P. Ricœur, La critique et la conviction. Entretiens avec Francois Azouvi et Marc de Launay, Paris 1995.