
Paul Ricœurs Vortrag über das politische Gedächtnis aus dem Jahr 1997 hat für das gegenwärtige Europa eine besondere Aktualität, wenn Ricœur schreibt:
Auf der Ebene der Sprachgemeinschaft, der Glaubensüberzeugungen, der Sitten, der Tradition stehen wir in einer absoluten Schuld. Wir sind Teil der Gemeinschaft. Hier besteht eine vollständige Reziprozität zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis. Unsere Erinnerungen decken sich mit denen der Gruppe, der wir zugehören. Unsere Fähigkeit zur Distanzierung gegenüber den konstitutiven Erzählungen unserer Zugehörigkeitssphären wächst in dem Maße, wie wir auf die Ebene der Systeme der Zivilgesellschaft, der politischen Struktur des Nationalstaates und der ideologischen Rechtfertigung politischer oder totalitärer Regime aufsteigen. […]
Das Abwesende als Vergangenes kann sich immer mit dem Abwesenden als Irrealem vermischen. Dann entsteht das Phantasma. Auf diese angeborene Schwäche des Gedächtnisses setzen die Ideologien, derer man sich bedient, um politische Unrechtsregimes zu rechtfertigen. Sie machen sich die Tatsache zu nutze, dass das Gedächtnis keine starre Funktion ist, sondern eine Aktivität, die manipuliert werden kann. Das Gedächtnis besteht nicht nur aus einer Affektion durch eine abwesende Präsenz, sondern ebenso aus einer Aktivität, die ausgeübt wird, und deren Dynamik fehlgeleitet, durch Schmeichelei oder Zwang beeinflusst, kurz: manipuliert werden kann. Diese Fehlleitung des Gedächtnisses lässt sich auf einem elementaren pathologischen Niveau in Form jener Kräfte der Verdrängung beobachten, die das Entstehen der Erinnerung verhindern und Phantasmen den Weg bereiten, die sich an die Stelle des wirklichen Erinnerns setzen. Der Ursprung eines manipulierten Gedächtnisses liegt mithin in einem kranken Gedächtnis. […]
Dieser ganze fragile Unterbau bietet jenen ideologischen Manipulationen einen Angriffspunkt, die wir bei der Ausübung von Herrschaft durch Staaten, die sich mit perversen politischen Regimes identifizieren, am Werk sehen. Die Ideologie bemächtigt sich des Gedächtnisses mithilfe der engen Verbindung zwischen dem Gedächtnis und dem Bewusstsein der Identität. Man kann sagen, dass zu der ursprünglichen Fragilität des von Phantasmen bedrängten Gedächtnisses die Verletzlichkeit kommt, welche aus der Verbindung zwischen Gedächtnis und Identität rührt. Die Ideologie bringt uns die scheinbare Festigkeit einer kohärenten Weltsicht, unter deren Schutz sich unsere Identität in Sicherheit fühlt und die unserem Gedächtnis vermittels vorgefertigter Erzählungen und aufgezwungenem Gedenken eine vermeintliche Struktur gibt. Der Hitlerismus und der Stalinismus haben sich als virtuose Manipulatoren des Gedächtnisses erwiesen. […]
Die Pflicht zur Erinnerung schließt mithin alle Ausprägungen der Erinnerungsarbeit, der Trauerarbeit und der antiideologischen Arbeit des kritischen Gedächtnisses ein. Ohne diese drei Ressourcen, mit deren Hilfe wir uns der Fragilität und Verletzlichkeit des Gedächtnisses stellen, läuft die Pflicht zur Erinnerung Gefahr, in die ideologische Manipulation durch autoritäre Erzählungen und aufgezwungenes Gedenken zurückzufallen. Die Pflicht zur Erinnerung sagt einfach: Du sollst dich erinnern!, mit anderen Worten: Du fährst fort zu erzählen. Diese Pflicht zur Erinnerung wird auf der Ebene der Aufeinanderfolge der Generationen ausgeübt, auf jener Ebene, auf der das Gedächtnis an die Geschichte grenzt. Wieder und immer noch zu erzählen, heißt nicht, den Hass, den Ruhm oder die Demütigung zu pflegen. Es heißt, die Vergangenheit zu bewahren, im Sinne einer Offenheit für gerechte Institutionen, nach denen zu verlangen ein integraler Bestandteil unseres Wunsches ist, gut zu leben.