
Da meint man beim Lesen die Stimme des Verfassers aus dessen Vorlesungen zu hören. Jürgen Roloff hat nicht nur für C.H. Beck Wissen die Monographie „Jesus“ geschrieben, sondern auch den instruktiven RGG-Artikel über Jesus von Nazareth. Darin heißt es über Jesu Botschaft und Wirken:
Wie für Johannes den Täufer, so ist auch für Jesus die Herrschaft Gottes, seine unmittelbar bevorstehende Selbstdurchsetzung, das zentrale Thema. Aber während die Gottesherrschaft beim Täufer jenseits der unheilvollen Gegenwart liegt und heilvoller Zugang zu ihr nur unter der Bedingung der Umkehr möglich ist, betont Jesus ihre unmittelbare Nähe. Satan ist bereits entmachtet (Lk 10,18), Gott beginnt schon jetzt sein heilvoll Welt und Menschen verwandelndes Werk, um es in naher Zukunft zu vollenden. Umkehr, wie Jesus sie fordert, bedeutet, der Nähe Gottes rechtzugeben und sich auf sie einzustellen. Er selbst weiß sich als personhafter Repräsentant der Gottesherrschaft. In ihm und seinem Wirken greift die Gottesherrschaft, Zukunft vorwegnehmend, in die Gegenwart ein, diese zur festlichen Heilszeit machend. Wie weit er den so implizierten Anspruch, Träger analogieloser Vollmacht zu sein, durch den Gebrauch vorgeprägter Würdeprädikate explizierte, ist strittig. Den Titel »Christus« hat er wegen dessen davidsmessianologisch-politische Festlegung schwerlich auf sich angewandt. Wahrscheinlich ist hingegen, daß er für sich die Bezeichnung »Menschensohn« gebraucht hat, die zwar eine eindeutige eschatologische Konnotation (Dan 7) hatte, aber keine titulare Festlegung implizierte.
Vor allem in seinen Gleichnissen bringt Jesus den Zeitgenossen die Gottesherrschaft als sie unmittelbar betreffende Lebenswirklichkeit nahe. Zentrale Themen sind Gottes unwiderstehliche Güte (Mt 20,1-16), seine suchende, Widerstände überwindende Liebe (Lk 15,1-10), das unaufhaltsame Wachstum seiner Herrschaft (Mt 13,31f.), sowie die Notwendigkeit, ihr absolute Priorität einzuräumen (Mt 13,44-46). Die breit bezeugten heilenden Taten Jesus, die zweifellos von den Zeitgenossen als Wunder verstanden wurden, demonstrieren die leibliche Dimension der Gottesherrschaft. Indem Jesus Menschen von lebensmindernden körperlichem und seelischem Leiden befreit, wird zeichenhaft sichtbar, daß sich in ihm die prophetische Verheißung heilen Lebens für die Heilszeit erfüllt (Mt 11,3-6). Wie diese zuallererst Israel gilt, so ist auch Jesus Wirken durchweg auf die endzeitliche Sammlung und Vollendung Israels ausgerichtet. Der Zwölferkreis der engsten Jünger ist Realsymbol des zu seiner endzeitlichen Fülle gelangenden Zwölf-Stämme-Volkes (Mt 19,28). Wenn Jesus sich den »Zöllnern und Sündern«, den am Rand der religiös-sozialen Gemeinschaft Israels Stehenden, zuwendet, handelt er als Vollstrecker der Absicht Gottes, sein Volk in seiner Gesamtheit als sein Eigentum zurückzugewinnen. Endzeitliche Erneuerung Israels bedeutet wesentlich auch Erneuerung des Verhältnisses zur Tora, dem heiligen Willen Gottes. In diesem Sinn ist die eschatologisch motivierte Radikalität von Jesus Tora-Auslegung zu verstehen: Sie fordert die ungeteilte Hingabe an Gott und an den Nächsten (Mk 12,28-34). In den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21-48) setzt Jesus – hinter kasuistische Anpassungen und Kompromisse zurückgreifend – den ursprünglichen Sinn der Tora als Ordnung des heilvollen, dem Schöpfungswillen Gottes gemäßen Lebens neu in Geltung.