
Das darf man, wenn man der zuständige Fachberater ist – in einem Lexikon einen Artikel zu einem Begriff schreiben, der wissenschaftlich nicht wirklich geprägt ist. So hat Eckart Otto in der RGG4 einen instruktiven Artikel über die biblische Geschwisterethik veröffentlicht:
Mit Geschwisterethik wird in der Hebräischen Bibel ein Ethos bezeichnet, das zunächst jedem Judäer, später auch dem Fremden die naturwüchsig engsten Familienangehörigen geschuldete Solidarität zukommen läßt. Die Geschwisterethik hat ihren Ursprung im Deuteronomium, das damit auf die Auflösung gentil-naturwüchsiger Geschwisterethik in der assyrischen Krise des 8./7. Jahrhunderts durch die Zerstörung der Großfamilien und ihrer die Solidarität stabilisierenden Ahnenverehrung als Folge von judäischen und assyrischen Umsiedlungs- und Deportationsaktionen reagiert, indem programmatisch jeder Judäer zum »Bruder« wird. Das Deuteronomium kann sich als Reformulierung des Bundesbuches auf dessen Gebote eines Sozialethos in Ex 21,2-11 (Schutz von Sklave und Sklavin), 22,20-26 (Einschränkung des Pfandrechts), 23,10-12 (Brachejahr und Ruhetag) und besonders der Solidarität mit dem Feind in Ex 23,4 f., stützen. Das Deuteronomium erweitert in 22,1-4 Ex 23,4 f. zum Gebot der Brudersolidarität als Grundsatz der deuteronomischen Geschwisterethik, die auch dem Feind gegenüber ein brüderliches Verhalten fordert. Das Gebot der Brudersolidarität ist die Grundlage für das Deuteronomium. Programm der sozialen Solidarität mit dem Schwachen, die ihren Ausdruck im Schuldenerlaß im Erlaßjahr (Dtn 15,1-11*), im Zinsverbot (Dtn 23,20 f.) und in der Einschränkung der Pfandnahme (Dtn 24,6.10-13.17b) findet. Das Keilschriftrecht kennt ein zinslos gewährtes Notdarlehen (Kodex Ešnunna § 19), das rechtshistorisch in einer gentil-bäuerlichen Nachbarschaftsethik wurzelt. Das deuteronomische Zinsverbot radikalisiert das altorientalische Notdarlehen und verbietet das kommerzielle Darlehen.
Die genealogische Begründung der Geschwisterethik wird im Deuteronomium durch das Motiv der kultischen Konstituierung Israels als Festgemeinschaft unter Einschluß der personae miserae und Gleichstellung von Männern und Frauen ersetzt. Alle Israeliten haben ohne Unterschied der sozialen Stellung oder des Geschlechts Anteil an den Opfern (Dtn 12,18). Den Armen aber gilt ein bes. Maß an Solidarität (Dtn 14,28f.). Schließt das im Deuteronomium angesprochene Du die Frauen mit ein, ist nicht von einer Bruderethik, sondern von einer Geschwisterethik zu sprechen. Das deuteronomische Programm einer Geschwisterethik verzichtet im Gegensatz zu den zeitgenössischen assyrischen Restitutionsedikten des Königs auf die Staatsautorität und wurzelt in der staatskritischen Haltung des vorexilischen Deuteronomium, die zu einer der kulturhistorischen Wurzeln der modernen Menschenrechte als Abwehrrechte gegen den Staat geworden ist.
Das Heiligkeitsgesetz legt unter anderem das Deuteronomium mit dem Bundesbuch als hermeneutischem Schlüssel aus. Das Gebot der Brudersolidarität Dtn 22,1-4 wird in Lev 19,18 zu dem der Feindesliebe als Nächstenliebe, in Lev 19,34 zu dem der Fremdenliebe fortgeschrieben. Das deuteronomische Sozialprogramm wird in Lev 25 zu dem einer Aufhebung der Personal- und Sachhaftung mit der eigenen Arbeitskraft sowie Grund und Boden im Jobeljahr ausgebaut. Diese Programme der Geschwisterethik, die nicht auf die Sanktionsandrohung, [823] sondern die Kraft der Einsicht wirkenden Paränese setzten, konnten sich nur schwer durchsetzen. Jüdische Urkunden des 3./2.Jh. v.Chr. und das Neue Testament setzen die Zinsnahme als selbstverständlich voraus.
Im Neuen Testament wurde an die Ansätze zur Überwindung der Einschränkung der Geschwisterethik auf eine innerjüdische Binnenmoral angeknüpft und die Geschwisterethik konsequent entschränkt (Mk 12,28-31; Lk 10,30-37; Joh 13,34f.). Der christliche Bibelwissenschaft blieb aber in der Auslegung der Geschwisterethik des Alten Testaments aufgegeben, zu begründen, wer der »Bruder« und der »Fremde« sei, wenn die ethnische Definition entfällt. Bis in die spätmittelalterliche Auslegung des Deuteronomium wurde die ursprünglich binnenorientierte Geschwisterethik universalisiert, die Aspekte der Außenmoral dagegen historisiert und als Verhalten dem Judentum zugewiesen. Vorbereitet durch Luther (WA 15, 279-323; 51, 325-424) kehrte sich diese Auslegungstradition bei Calvin um und gewann die Außenmoral unter Spiritualisierung der Geschwisterethik handlungsleitende Bedeutung für das Wirtschaftsverhalten der Christen.
RGG4, Bd. 3 (2000), Sp. 822f.