Eckart Ottos Artikel Geschwisterethik in der RGG: „Mit Geschwisterethik wird in der Hebräischen Bibel ein Ethos bezeichnet, das zunächst jedem Judä­er, später auch dem Fremden die naturwüchsig engsten Familienangehörigen geschuldete Solidarität zukom­men läßt.“

Mose legt dem Volk Israel das Gesetz jenseits des Jordans im Land Moab aus (5Mose 1)
Mose legt dem Volk Israel jenseits des Jordans im Land Moab das Gesetz aus (5Mose 1,5)

Das darf man, wenn man der zuständige Fachberater ist – in einem Lexikon einen Artikel zu einem Begriff schreiben, der wissenschaftlich nicht wirklich geprägt ist. So hat Eckart Otto in der RGG4 einen instruktiven Artikel über die biblische Geschwisterethik veröffentlicht:

Geschwisterethik

Mit Geschwisterethik wird in der Hebräischen Bibel ein Ethos bezeichnet, das zunächst jedem Judä­er, später auch dem Fremden die naturwüchsig engsten Familienangehörigen geschuldete Solidarität zukom­men läßt. Die Geschwisterethik hat ihren Ursprung im Deuteronomium, das damit auf die Auf­lösung gentil-naturwüchsiger Geschwisterethik in der assyrischen Krise des 8./7. Jahrhunderts durch die Zerstörung der Großfamilien und ihrer die Solidarität stabilisie­renden Ahnen­vereh­rung als Folge von judäischen und assyrischen Umsiedlungs- und Depor­tationsaktionen reagiert, in­dem programmatisch jeder Judäer zum »Bruder« wird. Das Deu­teronomium kann sich als Re­formulie­rung des Bundesbuches auf dessen Gebote ei­nes Sozial­ethos in Ex 21,2-11 (Schutz von Skla­ve und Sklavin), 22,20-26 (Einschränkung des Pfand­rechts), 23,10-12 (Brachejahr und Ruhe­tag) und besonders der Solida­rität mit dem Feind in Ex 23,4 f., stützen. Das Deuteronomium er­weitert in 22,1-4 Ex 23,4 f. zum Gebot der Bru­der­solidarität als Grundsatz der deuteronomischen Geschwisterethik, die auch dem Feind gegen­über ein brüderliches Verhalten fordert. Das Gebot der Brudersolidarität ist die Grundla­ge für das Deuteronomium. Pro­gramm der sozialen Solidarität mit dem Schwachen, die ihren Aus­druck im Schuldenerlaß im Erlaßjahr (Dtn 15,1-11*), im Zinsverbot (Dtn 23,20 f.) und in der Ein­schränkung der Pfandnahme (Dtn 24,6.10-13.17b) fin­det. Das Keilschriftrecht kennt ein zins­los gewährtes Notdarlehen (Kodex Ešnunna § 19), das rechtshistorisch in einer gentil-bäu­er­li­chen Nachbarschaftsethik wurzelt. Das deuteronomische Zinsverbot radikalisiert das alt­orientalische Notdarle­hen und ver­bietet das kommerzielle Darlehen.

Die genealogische Begründung der Geschwisterethik wird im Deuteronomium durch das Motiv der kulti­schen Konstituierung Israels als Festgemeinschaft unter Einschluß der perso­nae miserae und Gleichstellung von Männern und Frauen ersetzt. Alle Israeliten haben ohne Unterschied der sozialen Stellung oder des Geschlechts Anteil an den Opfern (Dtn 12,18). Den Armen aber gilt ein bes. Maß an Solidarität (Dtn 14,28f.). Schließt das im Deuterono­mium angesprochene Du die Frau­en mit ein, ist nicht von einer Bruderethik, sondern von einer Geschwisterethik zu sprechen. Das deuteronomische Pro­gramm einer Geschwisterethik verzichtet im Gegensatz zu den zeitgenössischen assyrischen Re­stitu­tionsedikten des Königs auf die Staatsautorität und wurzelt in der staatskritischen Haltung des vor­exilischen Deutero­nomium, die zu einer der kulturhistorischen Wurzeln der modernen Menschen­rechte als Abwehr­rechte gegen den Staat geworden ist.

Das Heiligkeitsgesetz legt unter anderem das Deuteronomium mit dem Bundesbuch als hermeneutischem Schlüssel aus. Das Ge­bot der Brudersolidarität Dtn 22,1-4 wird in Lev 19,18 zu dem der Feindesliebe als Nächstenliebe, in Lev 19,34 zu dem der Fremdenliebe fortgeschrieben. Das deuteronomische Sozial­programm wird in Lev 25 zu dem einer Auf­hebung der Personal- und Sachhaftung mit der eigenen Arbeitskraft sowie Grund und Boden im Jobeljahr ausgebaut. Diese Programme der Geschwisterethik, die nicht auf die Sanktions­androhung, [823] sondern die Kraft der Einsicht wirkenden Paränese setzten, konnten sich nur schwer durchsetzen. Jüdische Urkunden des 3./2.Jh. v.Chr. und das Neue Testament setzen die Zinsnahme als selbstverständlich voraus.

Im Neuen Testament wurde an die Ansätze zur Überwindung der Einschränkung der Ge­schwisterethik auf eine innerjüdische Binnenmoral angeknüpft und die Geschwisterethik konsequent entschränkt (Mk 12,28-31; Lk 10,30-37; Joh 13,34f.). Der christliche Bibel­wissenschaft blieb aber in der Auslegung der Geschwisterethik des Alten Testaments aufgegeben, zu begründen, wer der »Bruder« und der »Fremde« sei, wenn die ethnische Definition entfällt. Bis in die spätmittelalterliche Aus­legung des Deuteronomium wurde die ursprünglich binnenorientierte Geschwisterethik universalisiert, die Aspekte der Außenmoral dagegen hi­storisiert und als Verhalten dem Judentum zugewiesen. Vorbereitet durch Luther (WA 15, 279-323; 51, 325-424) kehrte sich diese Auslegungstradition bei Calvin um und gewann die Außenmoral unter Spiritualisierung der Geschwisterethik handlungsleitende Bedeutung für das Wirtschaftsverhalten der Christen.

RGG4, Bd. 3 (2000), Sp. 822f.

Hier der Text als pdf.

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