Luther in einem Brief an Nikolaus von Amsdorf zur Ausbruch der Pest in Magdeburg 1538: „Die Sterbenden werden bald in andere Menschen verwandelt und sterben stark im Herrn“

Die Pest (Holzschnitt aus der Frühen Neuzeit)

Brief Luthers an Nikolaus von Amsdorf zum Ausbruch der Pest in Magdeburg 1538

Nachdem Martin Luther erfahren hatte, dass in Magdeburg die Pest ausgebrochen war, schrieb er Ende November 1538 an seinen dortigen Freund Nikolaus von Amsdorf folgenden seelsorgerlichen Brief in Sachen Todesangst und Lebenshoffnung:

Dem mit Frömmigkeit und Bildung ausgezeichneten Herrn Nikolaus von Amsdorf, dem wahren und getreuen Bischof der Kirche zu Magdeburg, seinem in einem größeren Herrn ehrfurchtsvoll zu Liebenden.

Gnade und Friede in Christus!

Auch ich gewiß, mein lieber Amsdorf, habe mich höchst verwundert gefragt, was wohl Dir oder Euren Leuten zugestoßen sei, daß Ihr nichts an uns schriebt. Auch ich vermochte nicht, nachdem ich die Kunde erhalten hatte, daß die Pest bei Euch wüte, Boten zu bekommen, durch die ich hätte schreiben können. Einmal habe ich einen Brief von Dir erhalten samt dem Pamphlet gegen Anton Schönitz »vom [Magdeburger] Statthalter«. Damals hatte ich jedoch von der Pest keine Kenntnis.

Was Du schreibst, daß die Menschen sich so ängstigen zu dieser Pestzeit, das habe auch ich bei unserer letzten Pestzeit vor wenigen Jahren erfahren. Und ich wundere mich, je reicher die Verkündigung des Lebens, das in Christus ist, ergeht, desto größer ist im Volk die Todes­angst: ob nun deshalb, weil man vorher, noch unter dem Papsttum, infolge falscher Lebens­hoffnung den Tod weniger fürchtete, jetzt aber beim Bekanntwerden der wahren Lebenshoff­nung spürt, wie unfähig die Natur dazu ist, dem Sieger über den Tod zu glauben; oder ob des­halb, weil Gott uns in unserer Schwachheit auf die Probe stellt und zuläßt, daß der Satan in einer Sache, die doch gewiß ist, mehr wagt und vermag.

Denn solange wir im Papstglauben lebten, waren wir wie Trunkene, Schläfrige oder gar Rasende, indem wir auch den wirklichen Tod für Leben hielten, ahnungslos also, was Tod und Zorn Gottes sei. Jetzt aber, wo die Wahrheit hell leuchtet und wir den Zorn Gottes deutlicher erkennen, fühlt die Natur, aufgeschreckt aus Schlaf und Wahn, daß ihre Kräfte schlechterdings nichts vermögen zum Ertragen des Todes. So kommt es, daß sich die Leute mehr ängstigen als früher. Wie wir, solange wir unter dem Papsttum waren, die Sünde nicht nur nicht spürten, sondern sie in fahrlässiger Sicherheit für Gerechtigkeit ausgaben. Nun, da die Sicherheit durch die Erkenntnis der Sünde beseitigt ist, geraten wir mehr in Furcht, als es der Fall sein sollte. Dort gingen wir zur rechten Seite hin unbekümmert, wo man furchtsam hätte sein müssen, jetzt gehen wir zur Linken hin furchtsam, wo wir furchtlos sein sollten.

Ich tröste mich nun aber in diesem Fall damit, daß Christus seine Kraft in der Schwachheit sich vollenden lassen will [2Kor 12,9]. Denn während wir unter dem Papsttum stark, gerecht und weise waren, kam Christi Kraft nicht nur nicht zur Vollendung, sondern lag gar erloschen da und wurde nicht zur Kenntnis genommen. Dem füge ich jenes Wort aus Ps 71[,9] hinzu und wende es folgendermaßen an: »Verwirf mich nicht in der Zeit des Alters; wenn meine Kraft schwindet, verlaß mich nicht.« Ich meine nämlich, diese jetzige letzte Zeit sei das hohe Alter Christi und die Zeit der schwindenden Kräfte, und das bedeutet: höchster und äußerster Ansturm des Satans. So wie David, als seine Zeit zur Neige ging, infolge seines Kräfte­schwundes von einem Riesen fast gerötet worden wäre, wäre nicht Abisai zu Hilfe gekommen [2Sam 21,15-17]. Ich hoffe. Du machest dennoch die Erfahrung, daß diejenigen, die sterben, ganz fromm und in Christus entschlafen, wie wir dies auch hier erfuhren. Und eben das ist es, was der Psalmist sagt: »Verlaß mich nicht« [Ps 71,9], und Christus: »In der Schwachheit vollendet sich meine Kraft« [2Kor 12,9]. Die Lebenden freilich ängstigen sich und sind schwach, aber die Sterbenden werden bald in andere Menschen verwandelt und sterben stark im Herrn.

Nun, was für ein Urteilsspruch kann gerechter und besser sein als der, daß die Lebenden sich ängstigen, die Sterbenden aber stark werden in Christus, und das heißt: als solche, die leben werden, fühlen, daß sie sterben werden, und als solche, die sterben werden, [fühlen,] daß sie leben werden. Ich hoffe, wie gesagt, daß nicht viele bei Euch in Unglauben und Verzweiflung sterben, vielmehr alle oder doch die meisten im Bekenntnis zu Christus und mit dem Zeugnis des empfangenen Sakraments sterben, nein: dahingehen, nämlich ins Leben durch den Tod. So nämlich sahen wir es hier geschehen vom Kleinsten bis hin zum Größten. Auch ich habe fürwahr während nahezu eines ganzen Jahres gelernt, mit Paulus das zu singen: »Als die Sterbenden und siehe, wir leben.« [2Kor 6,9] Und wiederum: »So wahr ihr mein Ruhm seid [in Christus Jesus], sterbe ich täglich.« [1Kor 15,31] Ich glaube ganz gewiß nicht, Paulus sei Holz und Stein gewesen, einer, der das Entsetzen und die Macht des Todes nicht spürte. Redet er doch nicht vom Tode anderer, sondern von seinen eigenen Toden, wie er zu den Korinthern sagt: »häufig in Toden [Todesnöten]« [2Kor 11,23]. Für ihn war das nicht ein Betrachten des Todes oder ein Nachdenken über ihn, vielmehr das Erfahren und die Macht des Todes selbst, als gäbe es keine Hoffnung auf Leben. Was ist denn der Tod, wenn man ihn nur spekulativ betrachtet, anderes als Ahnungslosigkeit und Gefühllosigkeit in bezug auf den Tod?

Doch warum war es nötig, Dir das so weitläufig zu schreiben? In der Tat nicht für Dich und nicht über Dich; vielmehr den Deinen und den Unsrigen zugut mache ich in der mir gewohn­ten Weise meine Gedanken darüber. Und weil Du die Klage über die Deinen vorbrachtest, wollte ich diese meine Gedanken dazu Dir nicht verhehlen. Im übrigen bin ich um Dich nicht bloß besorgt, bete vielmehr sehr, daß der Herr Dich uns nicht entreiße. Du siehst ja, von wie schweren Lasten ich niedergedrückt bin, bereits ein Greis und an Kräften erschöpft. Wie viel besser wäre es doch, ich würde Euch entrissen, die Ihr nach mir in diesem Elend der Kirchen zurückbleibt, als daß Ihr fortgenommen werdet und ich zurückgelassen, so allein und als Allerelendster, der ich vor Abnehmen der Kräfte und der Lebenszeit nichts mehr vermag. Ich sehe und gestehe, daß ich dennoch vieles tun muß, was über meine Kräfte geht. Der Herr leite und erhalte Dich lange. Und bitte Du den Herrn für mich, daß er mich samt Euch bewahre bis hin in sein Reich. Amen.

Am Tage Catharinae [25.11.] 1538

Dein M. L.

WAB 8, 327-329, Nr. 3277, Übersetzung Gerhard Ebeling

Hier der Brief als pdf.

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