Kierkegaards letzte publizistische Unternehmung war seine Abrechnung mit dem organisierten Christentum und insbesondere mit der lutherischen Staatskirche in Dänemark, die er in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift Der Augenblick (Øjeblikket) veröffentlichte. Hier der Beitrag „Das Christentum des Neuen Testaments, das Christentum der »Christenheit«“ aus der fünften Ausgabe vom 27. Juli 1855:
Das Christentum des Neuen Testaments, das Christentum der »Christenheit«
Der Gedanke des Christentums war: alles verändern zu wollen.
Das Ergebnis, das Christentum der »Christenheit«, ist: dass alles, unbedingt alles, geblieben ist, wie es war, nur dass alles den Namen »christlich« angenommen hat — und jetzt (Musikanten, spielt auf!), jetzt leben wir das Heidentum, so fröhlich, so fröhlich, im Kreis, im Kreis, im Kreis herum; oder richtiger: wir leben das Heidentum raffiniert mit Hilfe der Ewigkeit und mit Hilfe dessen, dass ja das ganze christlich ist!
Versuch es, nimm, was Du willst, und Du wirst sehen, es trifft zu, es ist, wie ich sage.
Wenn es das war, was das Christentum wollte: Keuschheit — weg mit den Hurenhäusern. Die Veränderung ist die, dass die Hurenhäuser genau so geblieben sind wie im Heidentum, die Verhältniszahl der Liederlichkeit ebenfalls, aber es sind »christliche« Hurenhäuser geworden. Ein Hurenwirt ist ein »christlicher« Hurenwirt, er ist genauso Christ wie wir anderen; ihn von den Gnadenmitteln auszuschließen, »nein, Gott behüte«, wird der Pfarrer sagen, »wohin kämen wir, wenn wir erst anfingen, ein einziges zahlendes Mitglied auszuschließen«. Er stirbt, und je nachdem, wie er bezahlt, bekommt er am Grabe eine ehrenvolle Lobrede. Und nachdem er auf eine, christlich, so schäbige, so gemeine Weise sein Geld verdient hat — denn, christlich, dürfte der Pfarrer es lieber gestohlen haben —, geht der Pfarrer dann nach Hause, er hat es eilig, er muss in die Kirche, um zu deklamieren oder, wie Bischof Martensen sagt: Zeugnis abzulegen.
Wenn es das war, was das Christentum wollte: Redlichkeit und Ehrlichkeit, weg mit dem Betrug — die Veränderung, die bewirkt wurde, ist die: der Betrug ist genau so geblieben wie im Heidentum, »ein jeder« (Christ!) »ist Dieb in seinem Gewerbe«; aber der Betrug hat das Prädikat »christlich« angenommen, er ist »christlicher« Betrug geworden — und der »Pfarrer« erteilt dieser christlichen Gesellschaft seinen Segen, diesem christlichen Staat, wo man betrügt wie im Heidentum und sich dadurch, dass man den »Pfarrer«, also den größten Betrüger, bezahlt, zugleich ertrügt, dass das Christentum ist.
Wenn es das war, was das Christentum wollte: Ernst im Leben und weg mit Ehre und Ruhm der Eitelkeit — alles ist geblieben, wie es war, die Veränderung die, dass es das Prädikat »christlich« angenommen hat: die Ordensklunker, Titel, Ränge usw. sind christlich — und der Pfarrer (diese unanständigste Zweideutigkeit aller Zweideutigkeiten, dieser lächerlichste Mischmasch aller Lächerlichkeiten!), er ist närrisch vor Freude, wenn er selber — mit dem »Kreuz« dekoriert wird. Dem Kreuz! Ja, im Christentum der »Christenheit« ist das Kreuz so etwas wie Steckenpferd und Trompete eines Kindes geworden.
Und so in allem. Wenn es im natürlichen Menschen nächst dem Selbsterhaltungstrieb einen starken Trieb gibt, dann den nach der Fortpflanzung der Art, den deshalb auch das Christentum abzukühlen sucht, indem es lehrt, besser sei es, nicht zu heiraten, doch wenn schon, dann sei es besser, zu heiraten, als Brunst zu leiden. In der Christenheit aber ist die Fortpflanzung der Art zum Ernst des Lebens wie auch zum Christentum geworden; und der Pfarrer — dieser in lange Kleider gehüllte Inbegriff des Nonsens! — der Pfarrer, der Lehrer in Christentum, dem Christentum des Neuen Testaments, hat sogar seine Einkünfte danach bemessen bekommen, dass die Menschen für die Fortpflanzung der Art tätig sind, bekommt für jedes Kind eine bestimmte Summe!
Wie gesagt, versuch es, und in allem wirst Du finden, dass es ist, wie ich sage: die Veränderung im Vergleich zum Heidentum ist die, dass alles unverändert geblieben ist, aber das Prädikat: christlich angenommen hat.
Quelle: Søren Kierkegaard, Der Augenblick. Eine Zeitschrift. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel, Die andere Bibliothek, Nördlingen: Franz Greno 1988, S. 100-102.