Wohl eine der letzten Veröffentlichungen von Jürgen Roloff (1930-2004) dürfte dessen Beitrag „Der biblische Kanon als Orientierungsgröße neutestamentlicher Theologie“ sein, der im Oktober 2003 in der Festschrift für Otto Merk erschienen ist. In Sachen kanonische Geltung des Alten Testaments schreibt Roloff:
Der biblische Kanon als Orientierungsgröße neutestamentlicher Exegese. Neun Thesen[1]
Von Jürgen Roloff
(1) Grundlegend für das in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte Programm kanonischer Schriftauslegung ist die Einsicht, daß der Altes und Neues umfassende biblische Kanon eine Größe von hoher theologischer Relevanz ist. Aus ihr ergeben sich unmittelbare Folgerungen für die exegetische Arbeit. Diese hat ihr Ziel nicht schon dann erreicht, wenn sie den jeweiligen biblischen Text im Rahmen seiner individuellen historischen Voraussetzungen und der unmittelbaren Intention seines Autors – also nach dem methodisch reflektierten Ineinander von „Rekonstruktion und Interpretation“ – erklärt[2]. Sie muß vielmehr darüber hinaus seinen Ort im Spektrum des zweiteiligen biblischen Kanons zu ermitteln suchen. Damit trägt sie dem Umstand Rechnung, daß dieser Text als Teil dieses Kanons von der Kirche überliefert und interpretiert worden ist.
(2) Dieser Forderung liegen zwei Vorentscheidungen zu Grunde, die unter Exegeten heute nach wie vor kontrovers sind:
(2.1) Die erste Vorentscheidung besteht darin, daß der Exeget /die Exegetin das Verständnis der Texte, die Gegenstand seiner / ihrer Arbeit sind, als der Kirche vorgegebene biblisch-kanonische Texte versteht und interpretiert, und das heißt, daß sie mehr oder anderes für ihn / sie sind als nur Dokumente spätantiker Kultur, Religion und Literatur. Das alles sind sie natürlich auch. Sie haben in der Kirche jedoch seit der Zeit ihrer Anfänge normative Bedeutung. Allein darauf gründet ihr besonderer Anspruch, der sich – wenn auch in unterschiedlichen Maße – in ihrem Inhalt und ihrer formalen Gestaltung niedergeschlagen hat[3]. Es ist allein diese Orientierung am Kanon, durch die sich biblische Exegese von spätantiker Religionsgeschichte unterscheidet.
(2.2) Die zweite Vorentscheidung besteht in der Einsicht, daß biblische Exegese es mit einem aus Altem und Neuem Testament bestehenden Doppelkanon zu tun hat, dessen beide Teile jeweils als in sich abgeschlossen zu gelten haben. Die biblischen Schriften sind darum nicht als Hervorbringungen eines in der Geschichte linear fortschreitenden und sich immer weiter entfaltenden Traditionsprozesses zu verstehen, der in den neutestamentlichen Schriften sein Ziel und seine Erfüllung fände[4]. Auszugehen ist vielmehr von der wesentlichen Abgeschlossenheit des alttestamentlichen Kanons zur Entstehungszeit des Neuen Testaments. Dieser Kanon hat einen „doppelten Ausgang“ (K. Koch) – einerseits in die jüdische Traditionsliteratur von Mischna und Talmud, andererseits in das Neue Testament. Das Neue Testament setzt in allen seinen Schriften die Existenz eines jüdischen AT-Kanons voraus. Es versteht sich selbst als dessen Weiterführung, Kommentierung und Ergänzung im Licht des von der christlichen Gemeinde als definitiver Abschluß des geschichtlichen Heilshandelns Gottes gedeuteten Christusgeschehens.
Ist der alttestamentliche Kanon Basis des Judentums, so ist er in Verbindung mit dem neutestamentlichen Kanon zugleich Basis des Christentums. So ist das Neue Testament keineswegs die Ergänzung eines in sich unfertigen und defizitären Kanons, es bildet vielmehr einen eigenständigen Kanon, der freilich den Kanon des Alten Testaments zur unentbehrlichen Voraussetzung hat.
(3) Das Programm kanonischer Exegese ist von Alttestamentlern – zunächst in den USA – entwickelt worden und hat in deren Kreis eine außerordentlich rege Diskussion — sowohl in Zustimmung wie auch in Ablehnung – ausgelöst. Sowohl dort wie in Europa haben sich Neutestamentler an dieser Diskussion zunächst nur am Rand beteiligt. Das ist auffällig[5].
Ein wesentlicher Grund für das größere Interesse der Alttestamentler an der Kanonsproblematik mag darin zu suchen sein, daß der alttestamentliche Kanon der Forschung nach wie vor eine Fülle von ungelösten und offenen Fragen aufgibt. Aus historischer Sicht ist seine Entwicklung außerordentlich komplex. Strittig ist nach wie vor das Verhältnis von Masoreten- und Septuaginta-Kanon sowie das Verhältnis beider zu dem breiten Strom frühjüdischen apokalyptischen und weisheitlichen Schrifttums.
Neben diese primär historischen Fragen treten hermeneutische. Besteht nicht die Gefahr, daß das historisch erkannte Profil als eigenständiger älterer Quellen und literarischer Schichten durch den Blick auf die kanonische Endgestalt nivelliert werden könnte, sowie – als vielleicht schwierigster Brocken – das bereits erwähnte Problem des „doppelten Ausgangs“ des alttestamentlichen Kanons, von dem wiederum die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Christentum und Judentum abhängt?
(4) Umgekehrt hat es den Anschein, als stelle sich für Neutestamentler (sofern sie die beiden in These 2 genannten Vorentscheidungen getroffen haben) das Kanonsproblem als weit weniger folgenreich dar als für Alttestamentler. Das gilt in erster Linie hinsichtlich der historischen Aspekte der neutestamentlichen Kanonsgeschichte.
So ist der neutestamentliche Kanon in einer relativ kurzen, überschaubaren Zeitspanne innerhalb der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. entstanden. Er umfaßt im wesentlichen jene Schriften, die sich bereits als Vorleseschriften in den christlichen Gemeinden durchgesetzt hatten und um 150 n. Chr. als normativ in Geltung standen[6] – die immer wieder unternommenen Versuche, die These einer Steuerung dieses Vorgangs durch bestimmte kirchliche Gremien und Autoritäten in der Forschung zu etablieren[7], sind bis heute im wesentlichen erfolglos geblieben. Nach überwiegendem Konsens ist es im Zuge der Kanonisierung nur in Ausnahmefällen zu Veränderungen der rezipierten Schriften gekommen[8]; größtenteils ist deren kanonische Gestalt mit der von den Verfassern intendierten Endgestalt identisch.
In der heutigen neutestamentlichen Exegese spielen – anders als in der alttestamentlichen – Quellenscheidung und Rekonstruktion älterer literarischer Schichten ohnehin eine eher zurückgesetzte Rolle. Die einzige nennenswerte Ausnahme ist die Logienquelle Q, der in ihrer durch Quellenscheidung rekonstruierten Form in der Sicht heutiger Forschung nachgerade die Stellung einer kanonischen neutestamentliche Schrift zugewachsen ist[9]. Die frühchristlichen Texte sind in jener Gestalt, in der sie in den Kanon eingegangen sind, die Gegenstände unserer Arbeit. Das gilt-nahezu ohne Einschränkung seit der unangezweifelten Dominanz der kompositionskritischen Betrachtungsweise. Rekonstruierte vorkanonische Versionen dieser Texte führen in der neutestamentlichen Forschung eher eine Randexistenz[10]. Aber ist damit der Aspekt des Kanonischen für die heutige neutestamentliche Wissenschaft wirklich nicht-existent bzw. hat sie ihn bereits hinter sich gelassen? Daß dieser Aspekt spätestens dann, wenn man nach der Wirkungsgeschichte fragt, in den Vordergrund tritt, sollte nicht bezweifelt werden. Denn biblische Texte sind durchweg in Kombination mit anderen biblischen Texten von der Kirche und den einzelnen Christen rezipiert worden. Doch davon soll hier nicht die Rede sein. Uns geht es vielmehr darum, daß auch der Neutestamentler in verschiedenen Phasen der Textauslegung diesem Aspekt des Kanonischen begegnet – wenn auch in unterschiedlicher Dringlichkeit –, so daß der Kanon für ihn zur unentbehrlichen Orientierungsgröße wird. Darüber hinaus haben wir mit diesem Aspekt aber auch bei den übrigen Auslegungsschritten zu tun.
(5) Eine am Kanon orientierte Auslegung wird der kanonischen Endgestalt des jeweiligen biblischen Textes besondere Beachtung schenken. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß sie diese Endgestalt unkritisch gegenüber der ihr voraus liegenden Entstehungsgeschichte isolieren dürfte. Im Gegenteil: Gerade kanonische Exegese wird die Fragen nach Quellen, Traditionen und Vorformen eines Textes sowie nach den für dessen Entstehung maßgeblichen religions- und zeitgeschichtlichen Faktoren nicht ausklammern dürfen. Sie wird jedoch verhindern, daß sich diese Fragen verselbständigen, indem sie deren Bezug auf die Genese des vorliegenden Endtextes in den Vordergrund stellt. Was tragen diese Faktoren dazu bei, daß der Text seine vorliegende Endgestalt gewonnen hat? Die Synchronie gewinnt so gegenüber der Diachronie einen klaren Vorrang.
(6) Besondere Beachtung ist den Bezügen auf alttestamentliche Texte zu schenken. Inwieweit wird in den alttestamentlichen Zitaten und Anspielungen im Neuen Testament vorausgesetzt, daß es sich bei diesen Texten um Teile des alttestamentlichen Bibelkanons handelt? Wo und wie kommt die bleibende Verbindlichkeit dieses Kanons für die hinter der jeweiligen Schrift stehende christliche Gemeinde – in direkter Anknüpfung und in kritischer Neuinterpretation – zum Ausdruck? Beispiele solcher direkten Anknüpfung bieten zum Beispiel der synoptische Passionsbericht mit seinen vielfältigen Bezügen auf Ps 22 sowie das Matthäusevangelium in seinen Reflexionszitaten, die das Christusgeschehen als Erfüllung des im Prophetenwort angekündigten endzeitlichen Gotteshandelns deuten und es damit in unmittelbaren Bezug zum kanonischen Schrifttum setzen. Kritische Neuinterpretation wird zum Beispiel in der Johannesoffenbarung geleistet, die in ihren Visionszyklen traditionelle prophetische Muster aktualisierend auf die Gegenwart der Kirche hin entfaltet (so ist die Tiervision [Offb 12] eine eindeutige Neufassung der apokalyptischen Grundvision [Dan 7])[11]. Dabei wäre dem Gesichtspunkt der Intertextualität sehr viel mehr Beachtung zu schenken, als dies bisher geschehen ist: Wo handelt es sich um Texte, die bei zeitgenössischen Lesern / Leserinnen die intime Kenntnis alttestamentlicher Vorlagen voraussetzen?
(7) Eine am Kanon orientierte Auslegung wird darüber hinaus auch auf jene Motive und Entwicklungslinien in den neutestamentlichen Schriften achten, in denen sich die Bildung eines zweiten Kanonteils vorbereitet. Mit dem Hinweis auf solche protokanonischen Faktoren wird sie nicht nur ein Korrektiv gegen die verbreitete Meinung einbringen, der neutestamentliche Kanon sei nur eine mehr oder weniger zufällig zustande gekommene Sammlung frühchristlicher Gelegenheitsschriften; sie wird – darüber hinaus – auch der verbreiteten Abwertung der Schriften der zweiten und dritten christlichen Generation gegenüber denen der apostolischen Frühzeit entgegentreten. Wir benennen im folgenden drei solche protokanonische Faktoren, von denen jede einer der drei im Neuen Testament enthaltenen Schriftengruppen entspricht.
(7.1) Im synoptischen Bereich muß die weitgehende Übernahme der durch Markus geschaffenen Form der Evangeliumsschrift durch die beiden Großevangelisten Lukas und Matthäus ohne Zweifel als protokanonischer Faktor gelten. Beide folgen mit ihrer Darstellung der Geschichte Jesu der Markus-Akoluthie. Darüber hinaus rezipieren sie auch weitgehend die markinische Sichtweise auf Gestalt und Geschichte Jesu.
Diese kompositorische Gemeinsamkeit vermag grundsätzliche theologische Differenzen – etwa zwischen Matthäus und Markus – fast bis zur Unkenntlichkeit überdecken. So ist Matthäus in seinem Verständnis der Stellung Jesu zum Gesetz und zu Israel sehr viel näher bei Q als bei Markus. Weil er „den Erzählungsentwurf des Markusevangeliums übernommen“ hat, ist sein Werk „literarisch eine Neufassung des Markusevangeliums und nicht eine Neufassung von Q“[12]. Offensichtlich rechnete Matthäus mit Rezipienten seines Werkes, die das Markusevangelium bereits sehr genau kannten und in ihren Gottesdiensten benutzten, und das heißt, er wollte es nicht als Neuentwurf, sondern als erweiterte und ergänzte Version des Markusevangeliums gelten lassen. Verhält es sich aber so, dann hat Matthäus – und ähnlich Lukas – dem Markusevangelium eine protokanonische Bedeutung zugestanden.
(7.2) Im johanneischen Bereich ist auf Joh 21, das sogenannte Nachtragskapitel des vierten Evangeliums, hinzuweisen. Dessen Autor hat Überlieferungen über den als Garanten der synoptischen Tradition geltenden Petrus mit spezifisch johanneischen Sichtweisen und Theologumena kombiniert. Damit hat er ein Gleichgewicht zwischen Petrus und der rätselhaften Gestalt des „Lieblingsjüngers“, dem johanneischen Traditionsrepräsentanten, geschaffen. Dadurch wird es ihm möglich, die Petrusüberlieferungen „auf dieselbe Höhe wie die johanneische Überlieferung zu stellen“[13] und damit die Rezeption des johanneischen Werkes in die entstehende Vier-Evangelien-Sammlung zu ermöglichen[14]. Er geht dabei anscheinend von einer protokanonischen Geltung der drei synoptischen Evangelien in weiten kirchlichen Kreisen[15] aus und möchte auf die Einbeziehung der im johanneischen Kreis entstandenen Evangelienschrift in den Bereich dieser Geltung hin wirken.
(7.3) Im Bereich des Corpus Paulinum entwickelt sich das Verhältnis der deuteropaulinischen Schriften zu den paulinischen Homologumena als ein protokanonischer Prozeß von besonderer Intensität.
Ausgelöst wurde er ohne Zweifel durch den Autoritätsanspruch, den Paulus selbst für seine Briefe erhob. Wenn er sich — den Propheten gleich – als vom Mutterleib her auserwählt und durch Gott zum Träger einer besonderen Offenbarung bestimmt darstellte (Gal 1,15), so stellte er sich damit in die Reihe der alttestamentlichen Propheten und erhob somit den Anspruch der Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit seiner Briefe mit den kanonisierten Prophetenschriften. Paulus trat in seinen Briefen den Gemeinden als „Sklave Christi Jesu“ und als dessen „berufener Apostel“ (Röm 1,1) gegenüber, der die von den Propheten in „heiligen Schriften vorher verkündigte Heilsbotschaft“ (Röm 1,2) abschließend als Gottes weltweites Herrschaftsmanifest ausruft und in Kraft setzt (Röm 10,15-18). Paulus schrieb im Bewußtsein, daß der Inhalt seiner Briefe für die Glieder der angeschriebenen Gemeinden verbindliche Lehre und Verhaltensnorm setzte (Phil 4,9). Und er war sich darüber hinaus dessen bewußt, daß der Kreis seiner Schüler und Anhänger, mit dem er in einem ständigen intensiven Kommunikationsprozeß stand, sich für die Akzeptanz seiner Botschaft in den Gemeinden einsetzen werde[16]. Zugespitzt ließe sich sagen: Paulus kanonisierte seine Briefe selbst kraft seines apostolischen Auftrags.
Diese paulinische Selbstkanonisierung wird durch die aus der Paulusschule zur Zeit der dritten christlichen Generation hervorgegangenen deuteropaulinischen Schriften gleichsam ratifiziert. Daß deren Verfasser einige wichtige Paulusbriefe kannten – so den Römerbrief und den Ersten Korintherbrief -, darf heute als gesichert gelten. Aber sie wollen nicht die zentralen Punkte paulinischer Lehre einfach wiederholen. Ihr Anliegen ist es vielmehr, das Erbe des Apostels in ihre jeweilige Zeit weiterzugeben und für neu entstandene Probleme Lösungen vorzuschlagen, die den Grundlinien paulinischer Lehre und Gemeindeleitung entsprachen. Dazu nehmen sie Motive der Homologumena auf, um sie – im vollen Bewußtsein der situativen Differenz zu Paulus – weiterzuentwickeln. So gelingt es ihnen, ein Leitbild für den christlichen Umgang mit „kanonischen“ Schriften zu schaffen, das bis heute in der Kirche lebendig geblieben ist.
Daß sie selbst Eingang in den neutestamentlichen Kanon gefunden haben, mag man ein Stück weit auf diese ihre hermeneutische Leitbildfunktion zurückführen.
(8) Ganz allgemein wird eine am Kanon orientierte Exegese danach zu fragen haben, ob und wie sich in diesen vielfältig im Neuen Testament vorhandenen protokanonischen Motiven ein übergreifendes theologisches Profil des neutestamentlichen Kanons vorbereitet.
Als Beispiele für eine solche Fragestellung wären etwa zu nennen:
- die Offenheit für Weiterinterpretation der Tradition auf neue Situationen hin, wie sie in den Deuteropaulinen praktiziert wird;
- die Sanktionierung von Vielfalt, wie sie sich in der protokanonischen Vier- Evangelien-Sammlung erweist;
- die formprägende Kraft des paulinischen Apostelbriefs, durch die das apostolische Zeugnis als Grundsubstrat der neutestamentlichen Schriften herausgestellt wird.
(9) Kanonizität und Wirkungsgeschichte stehen zueinander im Verhältnis von Ursache und Folge. Darum wird, wer nach der Wirkungsgeschichte eines Textes fragt, vorrangig darauf achten müssen, wie dieser Text im Lauf der Kirchengeschichte als Teil des Kanons wahrgenommen worden ist und welche Akzente er für das Verständnis des biblischen Zeugnisses insgesamt gesetzt hat.
Quelle: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums. Festschrift für Otto Merk zum 70. Geburtstag, herausgegeben von Roland Gebauer und Martin Meiser, Marburg: N. G. Elwert Verlag, 2003, S. 235-242.
[1] Kurzreferat auf der Mitarbeitertagung des Evangelisch-katholischen Kommentars zum NT (EKK) am 25.3.2002 in Frankfurt/Main.
[2] Es sei nicht verschwiegen, daß ich mich damit im Widerspruch zum verehrten Jubilar befinde, der in seinen kritischen Anmerkungen zum Programm einer kanonischen Schriftauslegung (O. MERK, Gesamtbiblische Theologie. Eine offene Diskussion, in: Ch. Dohmen / Th. Söding (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente, Paderborn 1995, 225-236), R. Bultmann folgend, Exegese konsequent als komplexes „Ineinander von Rekonstruktion und Interpretation“ versteht und die Berücksichtigung biblisch-theologischer Zusammenhänge in den Verdacht eines Abgleitens „in das Feld methodisch unkontrollierbarer Beliebigkeit“ stellt (229f).
[3] Mit B. S. CHILDS, Biblische Theologie und christlicher Kanon, JBTh 3, 1988, 16 verstehen wir unter dem Begriff des Kanons „im wesentlichen nicht eine späte kirchliche Festlegung des Umfangs der normativen Schriften“, „sondern ein tief im Schrifttum verwurzeltes Bewußtsein. Es erwächst aus einer besonderen Haltung der Tradenten gegenüber der Autorität der Schrift und spiegelt sich in der Weise, in der die Texte von verschiedenen Glaubensgemeinschaften empfangen, bewahrt und überliefert wurden.“
[4] Hier liegt die Problematik des von H. Gese und P. Stuhlmacher entwickelten traditionsgeschichtlichen Ansatzes Biblischer Theologie („Tübinger Modell“), das im Neuen Testament Abschluß und Ziel des geschichtlichen Offenbarungsprozesses Gottes suchen möchte und darum das Alte Testament als in sich unabgeschlossene, nach vorwärts offene Größe versteht; zur Kritik vgl. Merk, Gesamtbiblische Theologie (s. Anm. 2), 230f.
[5] Hierzu: P. D. MILLER Jr., Der Kanon in der gegenwärtigen amerikanischen Diskussion, JBTh 3,1988,217-240:218.
[6] Am zuverlässigsten informieren über die Entstehungsgeschichte des christlichen Kanons nach wie vor H. FrH. VON CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968 sowie W. SCHNEEMELCHER, Art. Die Entstehung des Kanons des Neuen Testaments und der christlichen Bibel, TRE 6, 1980, 22-48.
[7] So zuletzt D. TROBISCH, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel, NTOA 31, Freiburg u. a. 1996, 68: Trobisch „möchte zeigen, daß das Neue Testament in der Form, die in der Christenheit kanonische Geltung erlangt hat, nicht das Produkt eines jahrhundertelangen Entwicklungsprozesses ist. Die Geschichte des Neuen Testamentes ist die Geschichte eines Buches. Eines Buches, das von einem konkreten Herausgeberkreis an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt herausgegeben wurde“; kritisch hierzu: Th. K. HECKEL, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium, WUNT 120, Tübingen 1999, 346f.
[8] Die wohl wichtigste im Zusammenhang mit der Kanonisierung stehende Veränderung des Textbestandes war die Hinzufügung der Evangelienüberschriften; Nachweis bei M. HENGEL, Die Evangelienüberschriften, SHAW.PH 1984,3, Heidelberg 1984.
[9] Ich verweise hier auf Pläne, neutestamentliche Kommentarreihen (wie z. B. EKK) durch eigene Kommentierungen von Q zu ergänzen.
[10] So gibt es eine Reihe von Untersuchungen zur Komposition und Redaktion der verschiedenen Schichten von Q. Anders steht es etwa bei Protomarkus und Protolukas. Auch Forscher, die von deren Existenz überzeugt sind, haben zu deren Einzelerforschung nur wenig beigetragen.
[11] Hierzu: J. ROLOFF, Die Adaption der Tiervision (Dan 7) in frühjüdischer und frühchristlicher Apokalyptik, SBAW.PPH, München 2002.
[12] U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1-7, EKK 1/1, Düsseldorf u. a. 22002, 80.
[13] Heckel, Evangelium (s. Anm. 7), 188.
[14] Wobei, wie Heckel gezeigt hat, die Entstehung dieser Sammlung zeitlich vor der Entstehung des neutestamentlichen Kanons anzusetzen ist. Die Vier-Evangelien-Sammlung ist also als solche ein entschiedener Entwicklungsschritt auf dem Wege zu diesem Kanon, sie ist also demnach insgesamt „protokanonisch“.
[15] Ob man hier bereits von der „werdenden Großkirche“ sprechen darf, entscheidet sich vor allem an der Vorentscheidung über Wesen und gesamtkirchlicher Verortung des johanneischen Kreises.
[16] Hierzu: U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 31999, 45f.