
„Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jesaja 53,4f) Zu diesen Worten hat der amerikanische Pfarrer Walter Wangerin die Geschichte „Der Lumpensammler“ (im Original „Ragman“) geschrieben, die eine Predigt zu Karfreitag hergibt:
Von Walter Wangerin jr.
Ich habe etwas Seltsames gesehen. Ich bin über eine sehr seltsame Geschichte gestolpert, über etwas, auf das mein Leben, meine Gewitztheit, meine verschlagene Zunge mich nicht vorbereitet hatten.
Still, Kind. Still jetzt, und ich werde es dir erzählen.
An einem Freitagmorgen, noch vor der Dämmerung, bemerkte ich einen gutaussehenden, starken jungen Mann, der durch die Straßen unserer Stadt ging. Er zog einen alten Karren voller bunter neuer Kleider und rief mit klarer heller Stimme: „Lumpen!“ Ah, beim Klang dieser süßen Musik schmeckte die Luft faulig, und das erste Morgenlicht schimmerte trüb.
„Lumpen! Neue Lumpen für eure alten! Ich nehme eure zerschlissenen Lumpen! Lumpen!“
„Wie seltsam“, dachte ich, denn der Mann war einen Meter neunzig groß, und seine Arme waren wie Äste, hart und muskulös, und seine Augen leuchteten wach und klug. Konnte er keine bessere Arbeit finden, dass er als Lumpensammler durch die Innenstadt ziehen musste?

Ich folgte ihm. Meine Neugier trieb mich an. Und ich wurde nicht enttäuscht.
Bald sah der Lumpensammler eine Frau auf ihrer Hintertreppe sitzen. Sie schluchzte in ihr Taschentuch, seufzte und vergoss tausend Tränen. Ihre Knie und Ellbogen bildeten ein trauriges X. Ihre Schultern zitterten. Ich sah, dass ihr das Herz brach.
Der Lumpensammler hielt seinen Karren an. Leise stieg er über Blechdosen, zerbrochene Spielzeuge und Windeln auf die Frau zu.
„Gib mir deinen Lumpen“, sagte er sanft, „und ich werde dir ein neues Tuch geben.“
Er zupfte ihr das Taschentuch von den Augen weg. Sie blickte auf, und er legte ihr ein leinenes Tuch auf die Hand, so rein und neu, dass es leuchtete. Sie blinzelte und sah von der Gabe zu dem Geber auf.
Dann, als er wieder seinen Karren zu ziehen begann, machte der Lumpensammler etwas Merkwürdiges: Er legte sich ihr verschmiertes Taschentuch vor sein Gesicht. Und dann begann er zu weinen und mit bebenden Schultern ebenso bekümmert zu schluchzen, wie sie es getan hatte. Sie jedoch blieb ohne eine Träne zurück.
„Das ist ein Wunder“, flüsterte ich bei mir selbst, und ich folgte dem schluchzenden Lumpensammler wie ein Kind, das sich von einem Geheimnis nicht mehr losreißen kann.
„Lumpen! Lumpen! Neue Lumpen für eure alten!“
Nach kurzer Zeit, als der Himmel grau zwischen den Dächern hindurchzuschimmern begann und ich die zerschlissenen Vorhänge vor den schwarzen Fenstern erkennen konnte, begegnete der Lumpensammler einem Mädchen mit leeren Augen, dessen Kopf in einen Verband gehüllt war. Der Verband war blutdurchtränkt. Blut rann über ihre Wange.
Der große Lumpensammler betrachtete das Kind voller Mitleid und holte eine hübsche gelbe Mütze von seinem Karren.
„Gib mir deinen Lumpen“, sagte er und streichelte ihre blutverschmierte Wange, „und ich werde dir meinen geben.“
Das Kind konnte ihn nur anstarren, während er den Verband löste, abnahm und sich um seinen Kopf band. Die Mütze setzte er auf ihren Kopf. Und ich sperrte den Mund auf, als ich es sah: Mit dem Verband war auch die Wunde verschwunden! Auf seiner Stirn quoll nun dunkles schweres Blut – sein eigenes!
„Lumpen! Lumpen! Ich sammle alte Lumpen!” rief der schluchzende, blutende, starke, so klug aussehende Lumpensammler.
Inzwischen stach die Sonne vom Himmel, blendete meine Augen. Der Lumpensammler schien es immer eiliger zu haben.
„Gehst du zur Arbeit?“ fragte er einen Mann, der an einem Telefonmast lehnte. Der Mann schüttelte den Kopf.
„Hast du denn keine Arbeit?“ hakte der Lumpensammler nach.
„Bist du verrückt?“ gab der andere höhnisch zurück. Er stieß sich von dem Mast ab, so dass man seinen rechten Jackenärmel sah – er war plattgedrückt, und die Manschette steckte in der Tasche. Er hatte keinen Arm.
„So“, sagte der Lumpensammler. „Gib mir deine Jacke, und ich gebe dir meine.“
Mit welcher Bestimmtheit er das sagte!
Der Einarmige zog seine Jacke aus. Das gleiche tat der Lumpensammler — und ich erschauerte bei dem Anblick: Der Arm des Lumpensammlers blieb in seinem Ärmel, und als der andere die Jacke anzog, hatte er zwei gute Arme, kräftig wie Äste; der Lumpensammler dagegen hatte nur noch einen.
„Geh zur Arbeit“, sagte er.
Danach fand er einen Betrunkenen, der bewusstlos unter einer dünnen Decke lag, einen alten Mann, gekrümmt, runzelig und krank. Er nahm die Decke und legte sie sich um die Schultern, doch für den Betrunkenen ließ er neue Kleider zurück.
Und nun musste ich rennen, um mit dem Lumpensammler Schritt halten zu können. Obwohl er hemmungslos weinte, seine Stirn in Strömen blutete und er seinen Karren mit einem Arm ziehen musste, vor Trunkenheit stolpernd, immer wieder fallend, erschöpft, alt, alt und krank, lief er ungemein schnell. Er hastete durch die Gassen der Stadt, eine Meile und dann noch eine, bis er die Grenzen erreichte, und dann eilte er weiter.
Ich musste darüber weinen, wie sehr dieser Mann sich verändert hatte. Seine Not schmerzte mich. Und doch musste ich herausbekommen, wo er so eilig hinwollte – vielleicht um zu erfahren, was ihn so sehr antrieb.
Der kleine alte Lumpensammler – er kam zu einer Müllhalde. Er kam zu den Abfallgruben. Und dann wollte ich ihm bei dem helfen, was er tat. Aber ich blieb zurück und versteckte mich. Er stieg auf einen Hügel. Unter qualvollen Mühen räumte er eine kleine Fläche auf der Kuppe frei. Dann seufzte er und legte sich nieder. Seinen Kopf bettete er auf ein Taschentuch und eine Jacke. Seinen Körper bedeckte er mit der dünnen Decke. Und er starb.
Oh, wie ich weinte, als ich sein Sterben mit ansah! Ich ließ mich in eines der Schrottautos fallen und jammerte und klagte wie einer, der keine Hoffnung hat — denn in mir war eine tiefe Liebe zu dem Lumpensammler erwacht. Jedes andere Gesicht war mir angesichts des Wunders dieses Mannes verblasst, und er war mir kostbar geworden. Doch nun war er tot. Ich schluchzte, bis ich in Schlaf fiel.

Ich wusste nicht – woher hätte ich es wissen sollen? – dass ich die ganze Nacht und auch den Samstag und die nächste Nacht durchschlief.
Doch dann, am Sonntagmorgen, wurde ich durch ein lautes Getöse geweckt.
Licht – reines, hartes, forderndes Licht – prallte auf mein trauriges Gesicht, und ich blinzelte und blickte auf. Und ich sah das letzte und das erste Wunder von allen. Dort stand der Lumpensammler und faltete sorgfältig die Decke zusammen. Er hatte eine Narbe auf der Stirn, doch er lebte! Und er war gesund! Von Not oder Alter war ihm nichts anzumerken, und all die Lumpen, die er gesammelt hatte, leuchteten schneeweiß und rein.
Da senkte ich meinen Kopf, und erschauernd über all das, was ich gesehen hatte, ging ich auf den Lumpensammler zu. Voller Scham nannte ich ihm meinen Namen, denn neben ihm war ich nichts als eine erbärmliche Gestalt. Dann warf ich an Ort und Stelle alle meine Kleider ab und sagte voller Sehnsucht zu ihm: „Bekleide mich.“
Und er bekleidete mich. Mein Herr, er legte mir neue Kleider an, und ich bin ein Wunder neben ihm. Der Lumpensammler, der Lumpensammler, der Christus!
Quelle: Walter Wangerin, jr., Der Lumpensammler und andere Erzählungen, Gießen: Brunnen Verlag 1995, 9-12 (das Buch ist leider vergriffen).
Und hier der englischsprachige Originaltext „Ragman“ vom Autor Walter Wangerin eingesprochen: