Ein Auszug aus meinem Buch „Mission als Namenszeugnis“ ist unter dem Titel „Mission übersetzt“ in „blick in die welt“, Heft 1/2009, erschienen. Der Text findet sich hier:
Mission übersetzt. Warum christliche Mission keine Indoktrination ist
Von Jochen Teuffel
Ein gängiger Vorwurf gegenüber christlicher Mission ist es, dass sie Menschen aus eigenem Glaubenseifer heraus mit einer kulturfremden Lehre zu indoktrinieren sucht. Interessanterweise werden solche Vorwürfe vor allem von Menschen in Europa erhoben, deren eigene Erfahrungen als Adressaten christlicher Mission eher bescheiden sind. Der Vorwurf christlicher Indoktrination ist hingegen von Nichtchristen in China, wo die Mitglieder der protestantischen Kirchen missionarisch sehr aktiv sind, selten zu hören. Mit gutem Grund, basiert doch Mission auf Sendung. Wer sich zu seinen Mitmenschen gesandt sieht, um ihnen das Evangelium von Jesus Christus zu bezeugen, kann ihnen diese Botschaft in einer offenen Begegnung nicht aufzwingen. Vielmehr hängt der Erfolg der Kommunikation davon ab, ob der andere bereit ist, zuzuhören und gegebenenfalls die Botschaft für sich selbst anzunehmen. Folgt man dem kommunikativen Dreischritt von Sendung über Bezeugung bis hin zur Annahme, versteht es sich von selbst, dass Mission als Indoktrination nicht funktionieren kann. Der einzige Kommunikationszusammenhang, in dem vermeintliche Heilsbotschaften zwangsweise zur Geltung gebracht werden können, ist das geschlossene Kommunikationssystem einer »Sekte«. Dort kann eine selbstberufene Leitungsperson ihre eigenen Visionen als endzeitliche Heils- bzw. Drohbotschaften einer »erwählungstreuen« Anhängerschaft auferlegen.
Sektenanhänger müssen solchen Botschaften dank Gruppendruck vorbehaltlos gehorchen, können und dürfen sie doch nicht gegen umweltliche Kommunikationssysteme wie die eigene Familie abgestimmt werden. Solch erzwungene Überzeugung (coercive persuasion) innerhalb einer von der Umwelt abgeschirmten »Heilsgemeinschaft« verträgt sich nicht mit dem Sendungsprinzip christlicher Mission. Wo Missionare im Namen Jesu Christi auf andere Menschen in ihrer Lebenswelt zugehen, können deren Kommunikationszusammenhänge weder kontrolliert noch determiniert werden. Der Missionar ist der in die Fremde Gesandte, der folglich auf die Gastfreundschaft anderer Menschen angewiesen ist. Findet die eigene Botschaft letztendlich kein Gehör, muss ein Ortswechsel vollzogen werden, wie dies Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsrede aufgetragen hatte: »Wenn euch jemand nicht aufnehmen und eure Rede nicht hören wird, so geht heraus aus diesem Hause oder dieser Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen.« (Mt 10,14) Die Folgen einer »Unerhörtheit« des Evangeliums stehen außerhalb der Gewalt seiner Boten.
Menschen unter abgeschlossenen Kommunikationsverhältnissen systematisch mit einer Ideologie zu bearbeiten, wie dies beispielsweise in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Kriegsgefangenenlagern in der Volksrepublik China geschehen ist, erweist sich auf Dauer als wenig erfolgreich. Sobald das geschlossene Kommunikationssystem aufgehoben wird und Menschen sich in andere Lebenswelten begeben bzw. in ihren ursprünglichen Lebenskontext zurückkehren, wird die vorgenommene »Gehirnwäsche« hinfällig. Gleichermaßen ist der Versuch, Menschen mit Lockangeboten dauerhaft für eine Heilsbotschaft zu gewinnen – wie dies mit »Reis-Christen« in Indien unter dem portugiesischen Missionspatronat geschehen ist – zum Scheitern verurteilt. Die solchermaßen angeworbenen Opportunisten sind nicht für eine Botschaft gewonnen und wenden sich daher anderen Versorgungsmöglichkeiten zu, sobald bislang gewährte Vergünstigungen ausbleiben. Eine Heilsbotschaft auf dem Sendungsprinzip zu bezeugen kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Adressaten die Botschaft in ihrem eigenen Lebenskontext empfangen und sich aneignen können. Dazu muss die Botschaft in ihrem eigenem Leben Resonanz finden. Andernfalls wird sie als unhaltbar abgewiesen.
Blickt man zurück auf den Anfang der Kirche, wie sie insbesondere in der Apostelgeschichte bezeugt ist, dann hat die Heilsbotschaft von Christi Tod und Auferstehung ihren Ausgang in Jerusalem genommen und sich über Syrien, Kleinasien, den gesamten Mittelmeerraum, Afrika, den Nahen Osten, Indien, Europa, Amerika, Asien, Australien und Ozeanien in einer für Menschen unkontrollierten und unvorhergesehenen Weise »bis an das Ende der Erde« (Apg 1,8) ausgebreitet. Die sukzessive Weiterverbreitung des Evangeliums setzt Menschen voraus, die diese Botschaft mit ihren eigenen Worten im je eigenen Lebenskontext in glaubhafter Weise bezeugt haben. Wo das eigene Zeugnis ausgeblieben ist oder nicht zu überzeugen wusste, ist das Evangelium letztendlich verhallt. Von daher ist der Erfolg christlicher Mission im Wesentlichen von der effektiven Rezeption des Evangeliums in den jeweiligen Kulturen abhängig. Christliche Mission ist genuin rezeptionsbestimmt; ohne Annahme einer Botschaft verrauscht das Evangelium in der Alltagskommunikation.
Das Prinzip Muttersprache
Für die christliche Mission ist es ganz wesentlich, dass die Kirche von Beginn an keine sakrale Sprache gekannt hatte. Im Unterschied zum Synagogalgottesdienst des Diasporajudentums sind in den Gottesdiensten der Urkirche die Schriften des Alten Testamentes in Griechisch gelesen worden. Wo die Septuaginta nicht mehr als Übersetzung der hebräischen Schrift, sondern selbst als authentisches Herrnwort rezipiert worden ist, entfiel die Sakralität des Hebräischen als Ursprungssprache der Gotteskommunikation. Mit der konsequenten Ersetzung des Hebräischen durch das Griechische innerhalb der Liturgie stand weiteren Übersetzungen in andere Sprachen nichts im Wege.
Dass es keine heilige Sprache im Verkehr mit dem Gott geben kann, lässt sich bereits in der Geschichte vom Turmbau zu Babel entdecken, wo der Herr zur Vermeidung einer unheilvollen universalen Verständigungsgemeinschaft die Sprache der Menschen eigenhändig verwirrt hat (vgl. Gen 11,7). Damit ist das Hebräische gleichfalls das Ergebnis göttlicher Sprachverwirrung. Ein weiterer Grund für die Entsakralisierung der Sprachen ist die Fleischwerdung des göttlichen Logos, die einer sakralen Phonetik entgegensteht. Sie macht es letztlich möglich, dass die vier kanonischen Evangelienschriften in der griechischen Koine abgefasst sind, obwohl die darin bezeugte Person, Jesus von Nazareth, Aramäisch gesprochen hatte. Wäre die letztgültige göttliche Offenbarung hingegen als Audition geschehen, müsste sie um ihrer eigenen Authentizität und Wirksamkeit willen in der Sprache, in der sie zu Gehör gebracht worden ist, überliefert werden. Dass der Gott in diesen letzten Tagen zu uns durch den Sohn geredet hat, wie es im Prolog des Briefs an die Hebräer heißt (1,1-2), ermöglicht eine Bezeugung des eingefleischten Gotteswortes in verschiedenen Sprachen, wie dies paradigmatisch mit der geistgewirkten Simultanübersetzung der Petruspredigt zu Pfingsten erzählt wird (Apg 2,5-11).
Um die grundlegende Bedeutung einer christlichen Vielsprachigkeit in Sachen Gotteskommunikation zu ermessen, ist ein Vergleich mit dem Islam angebracht. Der Koran, der in seinem arabischsprachigen Wortlaut als göttliche Offenbarung angesehen wird, kann nicht in andere Sprachen übersetzt werden, ohne damit seine Autorität als Allahs Wort zu verlieren. Für den Islam gibt es also nur eine Sprache, das Arabische, in der man mit Allah kommunizieren kann. Das fünfmal am Tag zu verrichtende Ritualgebet, die Salat, ist demzufolge ausschließlich in Arabisch zu sprechen. Für die meisten Muslime, die außerhalb der arabischen Sprachwelt in asiatischen Ländern wie Pakistan oder Indonesien leben, heißt dies, dass sie nicht in ihrer eigenen Muttersprache mit Allah gottesdienstlich kommunizieren können. Demgegenüber hat sich die bereits im Diasporajudentum angelegte Zweisprachigkeit in der alten Kirche zu einer Vielsprachigkeit des Evangeliums Jesu Christi erweitert. Zwischen dem Ende des 2. Jahrhunderts und dem 6. Jahrhundert wurden die Schriften des Alten und Neuen Testamentes in das Lateinische, Syrische, Koptische, Armenische, Georgische, Gotische, Äthiopische sowie teilweise in das Nubische bzw. Mitteliranische übersetzt, womit volkssprachliche Gottesdienste ermöglicht wurden.
Transkulturelle Mission
Die Reformation des 16. Jahrhunderts hat mit der umfassenden Volkssprachlichkeit der kirchlichen Gotteskommunikation Ernst gemacht. Beginnend mit Luthers Übersetzung des Neuen Testamentes im Jahr 1522 wurde die Bibel in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und in gedruckter Fassung veröffentlicht. Waren erst einmal Bibel und Gottesdienst in der eigenen Volkssprache untrennbar mit der Kirche verbunden, so wurde das Prinzip der volkssprachlichen Gotteskommunikation von der protestantischen Mission in den jeweiligen Missionsgebieten konsequent umgesetzt. Bartholomäus Ziegenbalg war es, der im Dienst der Dänisch-Hallesche Mission als erster Europäer 1714 in Tranquebar an der Ostküste Indiens das Neue Testament in eine asiatische Sprache, Tamil, übersetzt und dazu ein eigenes Tamil-Wörterbuch sowie eine Tamil-Grammatik erstellt hat. Besonders ambitioniert zeigte sich das Übersetzungsprojekt des baptistischen Missionars William Carey im indischen Serampore nahe Kalkutta, der es sich 1800 zusammen mit Joshua Marshman und William Ward zur Aufgabe gemacht hatte, innerhalb von 15 Jahren die Bibel »in sämtliche Sprachen des Ostens« zu übertragen. Die Serampore Press brachte bis Careys Tod im Jahr 1834 34 verschiedensprachige Bibelübersetzungen heraus, wovon allerdings allein die von Carey siebenfach überarbeitete Bibelübersetzung in Bengali bleibende Bedeutung erlangt hat. Es waren vor allem die neu entstandenen protestantischen Bibelgesellschaften, allen voran die 1804 gegründete British and Foreign Bible Society, die beginnend im 19. Jahrhundert Bibelübersetzungen in afrikanische, asiatische, amerikanische und ozeanischen Sprachen initiierten und publizierten. Die erste Übersetzung in eine zeitgenössische afrikanische Sprache war das Evangelium nach Matthäus auf Bullom (Sierra Leone) durch Gustavus Reinhold Nyländer, die 1816 gedruckt wurde. Ein weiterer Meilenstein war 1817 die postume Veröffentlichung von Henry Martyns »hindustanische« (d.h. Urdu) Übersetzung des Neuen Testaments. Bis zum Jahreswechsel 2007/08 ist dem United Bible Societies’ Scripture Language Report 2007 zufolge die gesamte Bibel in 438 Sprachen übersetzt worden, das Neue Testament in weitere 1168 Sprachen und einzelne Bücher der Bibel in zusätzliche 848 Sprachen, so dass zumindest Teile der Bibel weltweit in 2454 verschiedenen Sprachen gelesen werden können.
Der aus Gambia stammende Missiologe Lamin Sanneh hat zu Recht die Übersetzbarkeit der christlichen Botschaft als charakteristisch für die Ausbreitung des Christentums in der Vergangenheit bezeichnet. Die vielsprachige Übersetzung der christlichen Botschaft in Gestalt der Bibel stellt letztendlich die verschiedenen Kulturen unabhängig von einem vermeintlichen Entwicklungstand in Sachen zivilisatorischer Moderne auf eine gleiche Ebene: »Keine Kultur ist so fortgeschritten und so überlegen, dass sie einen exklusiven Anspruch oder Vorteil hinsichtlich der göttlichen Wahrheit beanspruchen könnte; und keine ist so randständig oder niederrangiger, dass sie ausgeschlossen werden könnte. Alle haben ihren Vorzug; keine ist unentbehrlich.« (Sanneh) Oder, wie es der indischstämmige Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul auszudrücken weiß: »Das Christentum gibt allen eine heilige Sprache, es zwingt sie nicht zu einer einzigen, wie dem Arabischen.« Die Übersetzung in eine andere Sprache hat eine nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung in Bezug auf die Inkulturation der Evangeliums, ist doch für solch eine Übersetzung das Ein- und Mitleben in einer anderen Kultur und das Erlernen ihrer Sprache unabdingbar. Was man sich kaum vorzustellen vermag, sind die Auswirkungen, die eine Übersetzungstätigkeit in eine kulturfremden Sprache auf die Person der Übersetzerin hat. Da zwei kontinentalverschiedene Kulturen weder über eine wechselseitige Übersetzungsgeschichte (die zu einer reziproken terminologischen Koppelung führt) noch über eine gemeinsame Verkehrssprache miteinander verbunden sind, muss die Übersetzerin sich selbst über Jahre hinweg einer ihr fremden Kultur aussetzen, um schließlich die ihr angetragene Botschaft in einer halbwegs sprachlich angemessenen Form anderen Menschen ausrichten zu können.
Transkulturelle Mission (cross-cultural mission), wie sie von europäischen und amerikanischen Missionaren in der Neuzeit vorgenommen wurde, funktioniert nicht in einem direktiven Modus, wo eine Missionarin »Eingeborenen« mitteilt, woran sie zu glauben hätten. Was das Evangelium in einer kulturfremden Sprache zu bedeuten hat, kann von einer Missionarin eben nicht selbst bestimmt werden. Stattdessen wird sie in ihren Übersetzungsversuchen permanent mit sprachlichen Missverständnissen und Einwänden konfrontiert, die sie dazu herausfordern, sich verständlich zu machen. Es ist schließlich ihre Verantwortung als »Bringschuld« und nicht die der Empfängerin, dass die christliche Botschaft sinngemäß verstanden wird. Von daher obliegt es der Missionarin auf der Suche nach passenden Umschreibungen und Ersatzbegriffen, so intensiv wie möglich am befremdlichen Leben von Menschen in einer anderen Kultur teilzunehmen. Wo solche Assimilation vollzogen wird, werden eigenen Vorurteile über die andere Kultur revidiert, und die andere, vormalig befremdliche Kultur gewinnt mehr und mehr an Wertschätzung. Ein aufschlussreiches Beispiel dazu findet sich bei Bartholomäus Ziegenbalg, dem ersten Missionar unter den Tamilen, mit seinem Vorwort zu den deutschen Übersetzungen von Tamil-Schriften aus dem Jahr 1708:
Es sind wol die meisten Christen in Europa von solcher Meynung / daß die Malabarischen Heyden ein recht barbarisches Volk seyn / das nichts wisse wie von dem einigen wahren GOTT / also auch von anderer Gelehrsamkeit / und guten Sitten oder moral-Tugenden. Solches aber kommt daher / daß die Europäer so unter den Malabaren etwa gewesen / derselben Sprache nicht recht kundig gewesen sind / noch ihre Bücher gelesen / sondern nur äusserlichem Ansehen diese und jene Schlüsse gemacht haben. Wie ich denn selbst von mir gestehen muß / daß / als ich anfänglich unter diese Heyden kam / ich mir nicht einbilden konte / daß ihre Sprache eine recht re- gul-mäßige Sprache / oder ihr leben ein recht / oder bürgerlich eingerichtetes Menschen-Leben wäre / sondern machte mir allerley falsche Concepte von allem ihrem Thun und Lassen / und als wenn ihnen weder Bürgerliches noch moral-Gesetz wäre […]. Sobald ich aber ihrer Sprache ein wenig kundig wurde / und in derselben mit ihnen von allerley Dingen reden kunte / wurde ich almälich von dieser Einbildung befreyet / so daß ich eine weit besser Meynung von ihnen zu fassen anfing. Da ich aber gäntzlich zu dem Vermögen kame / daß ich ihre eigenen Bücher lesen konte / ward ich inne / daß unter ihnen eben diejenigen Philosophischen disciplinen nach ihrer Art gantz ordentlich dociret würden / die etwa in Europa unter denen Gelehrten möchten tractiret werden; auch / daß sie ein ordentliches aufgeschriebenes Gesetz hätten.
Das Prinzip einer volkssprachlichen Mission in einer fremden Kultur macht christlichen Proselytismus unmöglich. Nicht der »Heide« ist der Hinzugekommene, sondern die Missionarin, die sich als Fremde in einer anderen Kultur verständlich machen muss. Das Evangelium zu übersetzen heißt nichts anderes als es selbst in einer anderen Sprache neu zu erlernen. Von daher ist Lamin Sanneh recht zu geben, wenn er in der volkssprachlichen Mission das entscheidende Medium für die Assimilation der christlichen Lehre in anderen Kulturen sieht: »Die vorgegebene Volkssprache konnte ein Vorrecht gegenüber den Eigentumsansprüchen der Mission über das Evangelium ausüben. Als die Missionare annahmen, dass Mission durch Schriftübersetzung zu erfolgen hätte, haben sie dieses indigene Vorrecht angeführt, ohne dabei zu wissen, dass dies zur gleichen Zeit ihre eigene Rolle als externe Agenten minimieren würde.
Bibelübersetzungen und ihre ganz eigenen Wirkungen
Obwohl Missionare davon ausgingen, dass ihr eigenes, zugegebenermaßen europäisch geprägtes Verständnis der christlichen Botschaft mit der Übersetzung der Bibel in einer anderen Kultur wiedergegeben werden würde, hat die jeweilige Bibelübersetzung außerhalb der Kontrolle der Übersetzer eine eigene, unbeabsichtigte Rezeptions- bzw. Wirkungsgeschichte entfaltet. Nicht erst seit der Systemtheorie weiß man, dass Kommunikation keine einseitige Indoktrination sein kann. Schon Thomas von Aquin hat den rezeptionsästhetischen Leitspruch geprägt: »Aufgenommen wird im Aufnehmenden nach der Weise des Aufnehmenden.« Es sind letztendlich die Adressaten der christlichen Mission, die innerhalb ihres Lebenskontextes darüber mitentscheiden, wie die christliche Botschaft in ihrer eigenen Sprache für sie zu gelten hat. Von daher ist translationale Mission von einer Proselytisierung, in der an Stelle einer Botschaft Menschen in eine ihnen fremde Lebenswelt inkulturiert werden, zu unterscheiden. Indigene Christinnen in außereuropäischen Kulturen haben das Evangelium auf eine ihnen eigene Weise angeeignet, was sie schließlich von westlichen Missionaren unabhängig gemacht hat. Was dabei nicht unterschätzt werden darf, ist, dass die Lebenssituation von Menschen, wie sie insbesondere im Alten Testament beschrieben wird, nichtindustriellen Gesellschaften wesentlich näher steht als der spätmodernen europäischen Gesellschaft. Insofern vermögen Menschen in außereuropäischen Kulturen für sich selbst andere Lebensbezüge in der eigensprachlichen Bibel zu entdecken als dies europäische Missionare für sie vorgesehen haben.
Ein exzentrisches Beispiel für eine eigenständige Rezeption des Alten Testaments ist die Shinlung-Bewegung unter den Mizo in den nordostindischen Bundesstaaten Mizoram und Manipur, die schätzungsweise 9000 Anhänger umfasst. Nachdem 1959 die erste vollständige Mizo-Bibel gedruckt worden war, hat sich sukzessive für eine Gruppe von christlich getauften Mizo die ethnische Zugehörigkeit zu Israel als eigene Glaubensüberzeugung verfestigt. In ihren Augen sind die Mizo einer der nach der Niederlage des israelitischen Nordreiches 722 v. Chr. verlorengegangen Stämme Israels, die als Bnei Menashe (»Söhne Ma- nasses«) nach Israel zurückzukehren haben. Auch wenn die Mizo-Sprache der tibetobirmanischen Sprachfamilie zugeordnet wird und verschiedene DNS-Tests keine genetische Verwandtschaft erkennen ließen, sind im April 2005 die Bnei Menashe vom sephardischen Oberrabbiner in Israel, Shlomo Amar, als authentische Nachfahren der verlorengegangenen Stämme Israels anerkannt worden. Dies ermöglicht ihnen offiziell nach einer forma- len orthodoxen Konversion zum Judentum die Einwanderung nach dem israelischen Rückkehrergesetz. Seit 1994 haben sich bereits mehr als 1000 Mizo zum Judentum bekehrt und sind nach Israel ausgewandert. Um die »Rückkehr« der Bnei Menashe unter der geforderten Toraobservanz sprachlich zu erleichtern, haben Mitglieder der israelischen Bewegung Shavei Israel zwischenzeitlich die Tora neu in die Sprache der Mizo übersetzt.
Wie Lamin Sanneh zu Recht bemerkt hat, hat sich gerade das protestantische Schriftprinzip sola scriptura als wegweisend für die Inkulturation der christlichen Botschaft in den außer-europäischen Missionsgebieten im 20. Jahrhundert erwiesen. Zum einen beförderte es die Notwendigkeit der Bibelübersetzungen in die einheimischen Sprachen, zum anderen jedoch führte es zur Entkoppelung der Bibellektüre von westlichen Auslegungstraditionen. Die eigene, wortwörtliche Bibellektüre erlaubte den Menschen, sich von den westlichen Kulturwerten zu befreien. »Wir können sagen, dass der Biblizismus der protestantischen Missionen geholfen hat, die Übertragung von westlichen Kulturwerten in einheimische Gesellschaften zu unterbinden.« (Sanneh) Was manchen Christen in Europa als Fundamentalismus erscheinen mag, ist jedoch nichts anderes als die emanzipatorische Schriftlektüre in der eigenen Muttersprache.
Unbeschadet von paternalistischen Einstellungen und kolonialherrlicher Komplizenschaft hat sich die neuzeitliche christliche Mission in außereuropäischen Kulturen als translationale Mission ausgewirkt. Wo dem eigensprachlichen Evangelium Glauben geschenkt wurde und indigene Kirchen entstanden, haben westliche Missionare auf Dauer ihren genuinen Deutungsanspruch in Sachen christlicher Lehre gegenüber Menschen indigener Kulturen verloren. Ist erst einmal das Evangelium in eigener Sprache präsent, verliert sich die Abhängigkeit von Missionaren. Diese haben nichts mehr Neues in der jeweils eigenen Kultur beizutragen. Durch das Prinzip der Übersetzung ist also der christlichen Mission das Moment der Emanzipation inhärent.
Dass christliche Mission in außereuropäischen Kulturen unter Europäern auf Vorbehalte stößt, ist nicht zuletzt einer fehlenden Wahrnehmung missionarischer Translation zu verdanken. Europäer tun sich in der Regel schwer, die translationale Inkulturation des Evangeliums in Afrika oder Asien wahrzunehmen. Stattdessen wird das Evangelium als eigenes überkommenes »Kulturprodukt« angesehen, das freilich infolge der Aufklärung seine lebensentscheidende Relevanz verloren hat. Wo nun die Präsenz des Evangeliums in außereuropäischen Kulturen wahrgenommen wird, erscheint sie »aufgeklärten« Europäern als illegitimer Fremdkörper. Was bei solchen eurozentristischen Verfremdungsprozessen außer Acht bleiben muss, ist zweierlei: Zum einen ist die christliche Botschaft kein genuin europäisches Kulturprodukt, wie es der nordafrikanische Kirchenvater Tertullian bekanntlich emphatisch ausgesprochen hat: »Was hat also Athen mit Jerusalem zu schaffen? […] Unsere Lehre stammt aus der Säulenhalle Salomos.« Zum anderen hat das eigensprachlich inkulturierte Evangelium in anderen Kulturen, wie zum Beispiel den afrikanischen südlich der Sahara, eine weit höhere Selbstverständlichkeit und lebensweltliche Relevanz als im spätmodernen Europa.
Der Beitrag ist in gekürzter Form entnommen aus: Jochen Teuffel, Mission als NAMENSzeugnis. Eine Ideologiekritik in Sachen Religion. Dieses Buch wird im Frühjahr 2009 beim Verlag Mohr Siebeck in Tübingen erscheinen.
blick in die welt. Beilage zu den Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Nr. 1, 2009, S. 1-4.
…sehr gut!